„It was always open to one to reject“

Zur Möglichkeit philosophischer Interpretationen Tolkiens fiktionaler Werke am Beispiel der Willensfreiheit


 

Vortrag, gehalten auf dem ersten deutschsprachigen Tolkienseminar der Deutschen Tolkiengesellschaft 24. u. 25. April 2004 in Köln
© Frank Weinreich, Bochum 04/04

 

„It was always open to one to reject“ – es stand jedem frei, sich dagegen zu entscheiden – das sagt Tolkien einmal in einem Brief, über die magischen Fähigkeiten der Stimme Sarumans (L 210, 276f.). Demnach gehen also keine arkanen Zwänge von Sarumans Stimme aus, sondern es ist alleine seine Listenhaftigkeit und seine Überzeugungskraft, die die Leute dazu bringt, ihm beizupflichten und auf seine Ränke hereinzufallen.1 Diese späte Erklärung Tolkiens zu den Fähigkeiten einer seiner wichtigsten Figuren war der Anstoß für die folgenden Gedanken über das Thema der Willensfreiheit in Tolkiens Schöpfung Mittelerde.

Wie würde die Philosophie ein Buch wie den LotR mit wissenschaftlichen Augen wohl lesen? Als Metawissenschaft, die sich im Rahmen ihres vielleicht wichtigsten Fachgebietes, der Ethik, mit all dem beschäftigt, was der Mensch tut und äußert, kann sie sich auch gegenüber einem ‘Märchenbuch’ nicht verschließen. Erst recht nicht, wenn das ‘Märchenbuch’ eines der meist gelesenen Bücher aller Zeiten ist und Vorlage für den zweiterfolgreichsten Film der Kinogeschichte war. Selbst wenn es schon nicht die literarische Kunst des Autors sein sollte, die der Philosophie respektvolle Aufmerksamkeit abnötigt, so wäre es doch die spätere Rezeptionsgeschichte, die eine wissenschaftliche Beachtung herausforderte.

Nochmals also die Frage: Wie liest die Philosophie den HdR?

Interessant wären sicherlich sprachphilosophische Überlegungen und auch die Ästhetik würde im fiktionalen Werk wie in den literaturtheoretischen Schriften Tolkiens ein reiches Forschungsgebiet finden (vgl. die Beiträge in Honegger/ Weinreich 2006). Zuallererst drängt sich jedoch meinem Eindruck nach der Gedanke an die Ethik auf, denn der Kampf von Gut gegen Böse ist das wesentliche Thema der Ring-Trilogie wie der dahinter liegenden Historie und Kosmogonie Mittelerdes. Dieser epische Kampf von Gut und Böse ist auch abseits der zunächst im Vordergrund stehenden theologischen Überlegungen von philosophischem Interesse, weil die literarische Existenzberechtigung des kleinen Universums Mittelerde sich aus diesem Gegensatz ergibt und weil dieser Gegensatz bei Tolkien genauso besetzt ist wie die moderne Ethik Gut und Böse heute definiert.

Angesichts der plural-liberalen Wertvorstellungen der heutigen, vernetzten Welt lässt sich das Gute in intersubjektiv gültiger Weise mit Annemarie Pieper nur mehr wertvorstellungsfrei als eine „bunte Vielfalt [an] Vorstellungen vom Guten“ beschreiben, „deren kleinster gemeinsamer Nenner der Wert der Freiheit ist“ (Pieper 1997, 16). Bezogen auf Mittelerde heißt das, dass die betuliche Gemütlichkeit des Hobbitlebens im Auenland nicht jedem zusagen muss, dass sie aber, da sie für einige die Vorstellung vom idealen Leben ist, einen unbedingten Wert an sich darstellt, der deshalb außerhalb jeglicher Verfügbarkeit steht.

page56_1Das Böse ist das genaue Gegenteil dieser Freiheit. Das Böse wird in der Diktion Piepers dann heute zunächst auch nicht mehr mit bestimmten, inhaltsreichen Wertvorstellungen wie etwa der Sünde verbunden, sondern gilt als dasjenige, das „ausdrücklich und mit Nachdruck […] an die Stelle des Guten gesetzt wird. […] Dies geschieht, wenn der Grundwert der Freiheit für alle durch den der Unfreiheit für die meisten ersetzt wird“ (Pieper 1997, 16; Hvhbg. F.W.). Bezogen wiederum auf Mittelerde heißt dies, dass das Böse in der Unterdrückung der Freiheit zur bevorzugten Lebensführung zu sehen ist. Exemplarisch verwirklicht ist dies in den Beschreibungen des von Sharkeys Bande unterdrückten Auenlandes im vorletzten Kapitel des LotR, wenn ausdrücklich die Entwicklung hin zum Bösen dadurch illustriert wird, dass nach Farmer Cottons Aussage Freiheiten mehr und mehr eingeschränkt wurden: „everything except rules got shorter and shorter“ (LotR III, 355).

Mir geht es heute jedoch nicht primär um Gut und Böse (dazu gibt es einen anderen Aufsatz hier auf meiner Site), sondern um den Aspekt der Freiheit in ihrer besonderen Form der Willensfreiheit. Am Beispiel der Willensfreiheit werde ich zu zeigen versuchen, mit welchem Gewinn man Tolkien gerade auch als Philosoph lesen kann. Das Thema Willensfreiheit wähle ich aus, weil es besonders aus dem Grund wichtig ist, dass diese besondere Form der Freiheit die Grundlage aller Freiheit, damit die Grundlage des oben definierten Guten und damit auch die Grundlage aller Ethik ist: Ohne die Annahme von Willensfreiheit wird alle Ethik sinnlos. Ethik kann nur sinnvoll betrieben werden, wenn Menschen Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen können.

Das gilt natürlich auch für die Beurteilung fiktiver Charaktere und für „alle intelligenten Wesen“ (Bullock 1985, 29) wie Menschen, Hobbits, Elben, Zwerge. Schwierig wird die Frage allerdings bei den ‘bösen’ Wesen. Balrogs oder Ungolianth, als ehemalige Maia, sind sicherlich selbst schuldhaft geworden als sie sich Melkor anschlossen. Was aber ist mit Orks, die „by slow arts of cruelty […] corrupted and enslaved“ wurden (S, 58)? Hatten sie und ihre Nachkommen („Orcs had life and multiplied after the manner of the children of Iluvatar“; ebd.) eine Chance auf Selbstbestimmung? Das heißt dann aber auf jeden Fall, dass das Konzept von Gut und Böse in Mittelerde sinnlos wäre, wenn man annehmen müsste, dass Tolkien seinen Handlungsträgern diese Freiheit nicht zugestände. Gerade die Idee der Willensfreiheit aber ist natürlich in einer Welt in höchstem Maße bedroht, in der es Magie und übernatürliche Einflüsse gibt, die unüberwindliche Zwänge ausüben könnten. Sind denn beispielsweise die Nazgul böse, wenn sie doch gar keine Chance haben, sich dem magischen Einfluss des Einen Rings zu widersetzen?

Vor Gericht könnten die Ringgeister jedenfalls geltend machen, dass sie ja gar nicht anders konnten – allerdings machten Sie sich natürlich schuldig, als sie aus Machtgier die Ringe überhaupt erst annahmen. Vor Gericht gilt dann: Ethik und Moral als Handlungsanweisung und Handlungsausdruck hängen nämlich eben notwendigerweise von einer gegebenen Freiheit ab, sich zu einer Handlungsoption zustimmend oder ablehnend verhalten zu können. Friedrich Schiller etwa bezeichnet dies als das „freie Prinzipium im Menschen“ (Schiller 1994, 83), das Teil seiner Wesensbestimmung ist: der Mensch ist (auch) Mensch, weil er über einen freien Willen verfügt, den beispielsweise ein Tier nicht hat.

Zum Einen impliziert die genannte Auffassung Handlungsfreiheit als Möglichkeit, sich angesichts einer moralisch geforderten Handlung überhaupt nachkommend oder abweisend verhalten zu können. Wobei das Können unter Umständen schon damit erfüllt sein kann, dass der Versuch gemacht wird, moralisch richtig zu handeln, selbst wenn dieser Versuch scheitern sollte. Der Versuch, richtig zu Handeln, kann unter Umständen ausreichen, um ethisch korrektes bzw. ethisch wünschenswertes Verhalten zu begründen. Auf diesen Punkt komme ich gegen Ende dieses Aufsatzes am Beispiel Turins zurück. Zum Anderen impliziert die genannte Auffassung von Willensfreiheit aber auch eine Freiheit, sich in Abhängigkeit von ethischen Überzeugungen dafür oder dagegen entscheiden zu wollen.

Willensfreiheit besteht also in der Fähigkeit zur autonomen im Gegensatz zur heteronomen Handlung. Der Wille ist das treibende Element der Freiheit, die Autonomie entspricht der Möglichkeit, den Willen umzusetzen. Autonomie plus Wille ergeben die so genannte Selbstursprünglichkeit von Handlungen (vgl. Knoepfler 1997, 105). Die so bestimmte Willensfreiheit steht in unauflöslichem Zusammenhang mit dem Begriff Verantwortung, die wir Handelnden nur zuweisen können, wenn er oder sie sich als in beiden Hinsichten freie Autorin beziehungsweise freier Autor ihrer Handlungen erwiesen haben – wenn sie also sowohl wollten als auch konnten.

Ob jedoch von einer echten Freiheit des Willens ausgegangen werden kann, ist in der Philosophie ebenso wie in den einschlägigen Naturwissenschaften (Neurologie, Neurophysiologie, Psychologie u.a.) umstritten und muss glücklicherweise hier und heute nicht entschieden werden, da wir uns nur über den vergleichsweise kleinen Kosmos von Tolkiens sekundärer Welt unterhalten wollen. Trotzdem möchte ich das philosophische Problem der Willensfreiheit kurz beschreiben. Die Diskussion der Willensfreiheit in unserer ersten Welt steht im Wesentlichen unter dem Eindruck zweier Probleme, einem logischen Problem und einem theologischen Problem.

Theologisch gesehen kommt die Frage nach der Willensfreiheit mit dem Christentum auf. Der Kirchenvater Augustinus sah sich angesichts des nach der Zeitenwende neuen theologischen Konzepts eines allmächtigen Gottes mit der Frage konfrontiert, wie es denn das Böse geben könne, wenn Gott allmächtig ist. Ist Gott dann nicht auch Urheber alles Bösen (vgl. Augustinus 1962, I,1)? Diese Frage kulminierte im 16. Jahrhundert dann in einem Disput zwischen Erasmus von Rotterdam und Martin Luther, auf den ich aber weiter unten eingehe.

Es sei jedoch vorweg genommen, dass das theologische Problem der Willensfreiheit, festgemacht an der Frage, „Wie kann denn Böses existieren, wenn niemand es zu verantworten hat, weil alles letztlich auf Gottes Allmacht zurückgeführt werden kann?“, unentschieden ist, dass jedoch Tolkien einen Weg heraus findet, der ganz ähnlich wie Erasmus´ Vorschlag zum gleichen Problem von großer Überzeugungskraft ist.

Logisch besteht das Problem der Willensfreiheit in der unendlich zurückreichenden Kette von Ursache und Wirkung in unserem materiellen Universum. Jedes Ereignis ließe sich, wenn man nur genug Wissen besäße, auf eine oder mehrere Ursachen zurückführen und dementsprechend ließen sich zukünftige Ereignisse voraussagen, da sie durch die Ursachenkette determiniert wären. So liegt das herrschende Wetterhoch vielleicht am Einfluss des Golfstroms, der Untergang der Musikindustrie hängt vielleicht vom Aufschwung des Internets ab, meine morgigen Kopfschmerzen liegen vielleicht an übermäßigem Biergenuss heute Abend. Das dreimalige „vielleicht“ im vorigen Satz deutet zwar schon an, dass es schwer und vielfach völlig unmöglich ist, Ursachen eindeutig zu bestimmen und dass es also schwer und unmöglich sein wird, Voraussagen zu treffen. Der französische Physiker Pierre-Simon Laplace glaubte beispielsweise 1812, dass sich jeder zukünftige Zustand der Welt im Prinzip vorhersagen lasse (vgl. Laplace 1995, Einleitung), was natürlich nicht geht, weil dem die Unkenntnis über aller Ursachen, deren Kompliziertheit sowie beschränkte Analysemethoden ausschließend entgegenstehen. Aber die Unmöglichkeit von Prädiktion bedeutet logisch nicht, dass es keine Determination gibt, denn alles was geschieht, ist verursacht, damit also auch festgelegt, weil eine Ursache unter exakt gleichen Bedingungen immer die gleiche Wirkung hat – völlig unberührt davon, dass wir in den allermeisten Fällen weder um die exakt gleichen Umstände wissen können, noch dass sie jemals wieder in exakt gleicher Form geschehen werden oder wir sie gar korrekt replizieren könnten. Logisch gesehen gibt es also, wenn man von einer monistischen Position ausgeht, keinen Raum für Freiheiten und alles vom Big Bang bis zum Ende des Universums ist eine unabänderliche Kette von Ursache und Wirkung.2 Wir haben es aber bei Tolkien eben mit keinem Monismus zu tun.

Dieses logische Problem einer monistischen Weltanschauungsweise ist ein Problem, das in der fiktionalen Welt Tolkiens vor dem theologischen Problem zurückstehen kann, da dort das Theodizeeproblem auf Grund der Faktizität der Schöpfung alles überlagert. Dies Argument gälte natürlich auch in unserer ersten Welt, wenn die Schöpfung ein nachprüfbares Faktum wäre und keine Glaubensfrage. So aber ist das Geschöpftsein eine objektive Tatsache nur für Mittelerde, weil eben der Autor dies so bestimmt hat.

Dann aber muss sich Iluvatar wirklich die Frage gefallen lassen, wie es denn zum Bösen in seiner Schöpfung kommen konnte. Die Berechtigung dieser Frage ist im S eindeutig belegt. In der Ainulindalë spricht der Schöpfergott Mittelerdes angesichts der Auflehnung Melkors: „No theme may be played that hath not its uttermost source in me“ und er fährt fort „nor can any alter the music in my despite“ (S, 17). Jedes Thema der Schöpfungsmusik hat seinen Ursprung in Iluvatar – also auch die Diskordanzen Melkors. Und da niemand die Musik gegen Iluvatars Willen verändern kann, scheint auch kein Raum für die Willensfreiheit zu bestehen.

Existiert also keinerlei Freiheit in Tolkiens Universum? Diesem Eindruck steht die Charakterisierung des Bösen durch den Autor entgegen. Das Böse ist immer dadurch gekennzeichnet, dass es Freiheiten und Bewegungsräume zu unterdrücken sucht. Ein dergestalt identifiziertes Böses ist aber sinnhaft nur dann, wenn es eine überhaupt erst zu unterdrückende Freiheit gibt. Beispiele, die das illustrieren sind etwa die folgenden:

– Melkor versucht, die Schöpfungsmusik unter seinen Einfluss zu bringen („he sought […] to increase the power and glory of the part assigned to himself“; S, 16). Er versucht dadurch also den Anteil der anderen Valar an der Schöpfung kleiner zu machen, ihn zugunsten seiner Arbeit zu unterdrücken.

– Sauron schmiedet den Einen Ring nur aus dem Grund, dass er mit ihm die anderen Ringe und ihre Träger seinem Willen unterwerfen kann. Wo ihm dies wie im Falle der Nazgul gelingt, verlieren die Unterworfenen letztlich jegliche eigene Substanz und werden zu Schatten. Sie hören in gewisser Weise mit dem Verlust ihrer Freiheit auf zu existieren.

– Der Eine Ring selbst ist ein reines Instrument der Unterdrückung. Richard Bullock beschreibt Saurons Ring sehr passend als „Spiegel von Saurons Willen“, dem alle Ringträger früher oder später unterworfen sein werden (Bullock 1985, 29). Aus dieser Unterdrückungsfunktion besteht bezeichnenderweise die Bosheit des Ringes. Sauron erschafft nicht etwa eine ultimative Waffe zum Töten, sondern das ultimative Herrschaftsinstrument.

Die Frage ist nun, wie die zitierten Aussagen Iluvatars aus der Ainulindalë mit diesen Befunden zusammenpassen. Mit dieser Frage finden wir uns auf dem Feld des theologischen Problems der Willensfreiheit wieder. Jetzt ist es interessant, den Streit zwischen Erasmus und Luther kurz zu rekapitulieren und daraufhin zu befragen, inwieweit seine Ergebnisse nicht auch auf Mittelerde zutreffen könnten.

page56_3Mit Augustin zieht, wie erwähnt, die Diskussion der Willensfreiheit in die Theologie ein und findet dort ihren Höhepunkt wohl in der Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam. Aus theologischer Sicht gibt es in Form der beiden Kontrahenten sowohl eine starke Richtung, die das Konzept der Willensfreiheit bestreitet, als auch eine Richtung, die von der Gegebenheit eines freien Willens ausgeht. Mit der Annahme der Freiheit ist besonders Erasmus von Rotterdam und seine Schrift Vom freien Willen (VfW) verbunden. Die Gegenposition nimmt Martin Luther mit der auf des Erasmus Diatribe hin verfassten Widerrede De Servo Arbitrio (WA) ein.

Ganz ähnlich antiken Denkern sieht Erasmus den freien Willen in erster Linie als eine Art der Freiheit zu irren. In der antiken Philosophie war die Willensfreiheit ein vergleichsweise geringes Problem. Die Ordnung des Kosmos wurde wesentlich teleologisch gedacht und alles Sein wurde als auf ein „Gut“ hin strebend gedacht, wie man bei Platon und Aristoteles, den beiden wichtigsten Denkern der Antike, klar nachlesen kann (vgl. Platons Symposion, 210e-211b; oder die Nikomachische Ethik des Aristoteles 1094a1-3 u. 1252a1-5). Die allgemeine Bewegung hin zum Guten ist ein wesentlicher Aspekt der antiken griechischen Philosophie. Der Mensch ist dieser Bewegung ebenso unterworfen. Diesem Ziel zu widerstreben, entsprach nach antiker Überzeugung dem Umstand, einem Irrtum zu unterliegen: Es war schlicht falsch, weil es der tieferen Wahrheit der kosmischen Ordnung widersprach.

Erasmus spricht eigentlich ganz in diesem Sinne und eben nur in sozusagen christlicher Übersetzung, wenn er sagt, “unter freiem Willen verstehen wir […] das Vermögen des menschlichen Willens, mit dem der Mensch sich dem, was zur ewigen Seligkeit führt, zuwenden oder von ihm abwenden kann” (VfW, 1.b.9). Erasmus entwickelt diese Überzeugung aus der Ansicht, dass Gottes unumstrittene Allmacht nicht zwangsläufig bedeute, dass der Mensch im Schatten dieser Allmacht nicht auch eigene Handlungen vollbringen könne (3.a.15), da, auch wenn der Mensch alles Vermögen aus Gottes Hand empfängt, er doch in der Anwendung seiner Vermögen frei ist (3.c.12). Die Existenz von Sünde und göttlichen Gesetzen dienen ihm als Beweise für die Handlungsfreiheit (2.a.7f.), da die Sünde zurechenbar und das göttliche Gesetz sinnvoll nur im Falle gegebener Freiheit sind. Später wird René Descartes dieser Ansicht folgend, in der Gott verdankten Freiheit die eine, ganz besondere Auszeichnung des Menschen sehen: “Allein den Willen oder die freie Entscheidung erfahre ich an mir so groß, daß ich die Vorstellung keiner größeren zu fassen vermag; so daß sie es vorzüglich ist, die mich verstehen läßt, daß ich gleichsam ein Abbild und Gleichnis Gottes bin” (Descartes 1960, 66, 12-16).

Dies lässt Luther jedoch nicht gelten, der hinter dem Konzept des freien Willens hauptsächlich Hochmut sieht (vgl. WA 18, 633). Die auch von Erasmus anerkannte Allmacht Gottes über die Menschen interpretiert Luther derart, dass, wenn die Handlungen des Menschen in Freiheit außerhalb Gottes gnädiger Leitung geschähen, sie nicht gut sein könnten, weil nichts ein Gut sein kann, das Gottes Gnade nicht teilhaftig ist (ebd., 636: “Quod vero gratia Dei non facit, bonum non est”). Daraus schließt er, dass dann automatisch das Böse die Regie über den vermeintlich freien Willen übernehme und ihn so unter eine weitere Knechtschaft zwinge. Nach dieser Lesart ist Freiheit prinzipiell unmöglich, da einerseits in Gott sein, eine unfreie Geborgenheit bedeutet, andererseits außer Gott sein nur als weitere Fremdbestimmung (durch das Böse) begriffen werden darf. Darüber hinaus ist keine dritte Position der Freiheit möglich. Beweise für die so bestimmte Unfreiheit sind für Luther die Herrschaft Satans über die materielle Welt, die Erbsünde, das empirisch nachweislich erfolglose Streben nach Gerechtigkeit sowie die Erlöserrolle Christi, die auf Grund der menschlichen Verdammnis nötig wurde (786).

Um Luther gerecht zu werden, sei jedoch darauf verwiesen, dass die Unfreiheit des Menschen nicht etwa ein Makel ist. Luther verstand sie vielmehr als eine Auszeichnung ähnlichen Stellenwertes wie im Zitat von Descartes. Der Theologe Hermann Dörries führt dazu aus: “Die Unfreiheit des Willens ist nicht etwa Mangel und Verlust, vielmehr ist dies Preisgegebensein des Menschen an Gottes Erbarmen und Vatergüte gerade sein Adel” (Dörries 1970, 556).

Entschieden ist die Kontroverse zwischen Erasmus und Luther bis heute nicht in letzter Instanz. In dieser, von Stefan Zweig als Widerstreit von “Vernunft und Leidenschaft” (Zweig 1981, 165) diagnostizierten Auseinandersetzung, verfügt Erasmus jedoch meiner Meinung nach über Argumente, die denen Luthers überlegen sind, da in der Tat die mögliche Verantwortlichkeit für Handlungen über den Sinn und Unsinn von Geboten und Sünden entscheidet.

Es gibt einen Brief, in dem Tolkien das Problem der Willensfreiheit anspricht.3 In diesem Brief führt unser Autor Argumente an, die an die von Erasmus´ im Streit mit Luther bezogene Position erinnern. Tolkien schreibt dort ausdrücklich, dass Iluvatar den Valar eigene kreative Kräfte übertragen habe („certain ‘sub-creative’ powers to certain of His highest created beings“; L 153, 195), so dass, was sie tun Realität wird, selbst wenn dies gegen seinen Willen sei: „But if they ‘fell’, as the Diabolus [!] Morgoth did, , and started making things ‘for himself, to be their Lord’, these would then ‘be’, even if Morgoth broke the supreme ban against making other ‘rational’ creatures like Elves or Men“ (ebd.). Dies ist gleichwertig zu Erasmus´ Ansicht, dass Menschen auch im Schatten göttlicher Allmacht eigene Handlungen vollbringen können. Ich sehe im Weiteren keinen Grund, diese Freiheit nicht auch auf Elben, Menschen, Hobbits und Zwerge auszudehnen, da Iluvatar die Freiheit nun einmal in seine Schöpfung eingebaut hat. Bei Tolkien findet sich kein Anklang an Luther, der ein böses Sein außerhalb Gottes für möglich hält. Tolkiens Iluvatar erlaubt viel mehr die gleichen Freiheiten, die auch Erasmus für Bestandteil der christlichen Schöpfung hält. Welche Form diese Freiheiten genau haben, wäre durch weitergehende Textanalysen noch zu bestimmen, doch das Faktum der Willensfreiheit in Mittelerde ist erwiesen.

Doch es muss wohl noch ein weiterer Aspekt berührt werden, der auf den ersten Blick als Einschränkung oder Verhinderung des freien Willens erscheinen könnte. Ich meine die Rolle des Schicksals und der übernatürlichen Mächte, die es ausführen. Das S kennt eine Reihe tragischer Geschichten und geschichtlicher Entwicklungen, die die Protagonisten überwältigen, egal was sie auch anstellen mögen. Das prominenteste Beispiel ist in dieser Hinsicht Turin, „die tragische Gestalt in Tolkiens Mythologie“ (Schneidewind 2001, 660; Hvhbg. i. Orig.). Turin fiel bekanntlich als Sohn Hurins unter die Auswirkungen des Fluches, mit dem Melkor Hurin und seine Nachkommen belegt hatte. Egal was Turin in seinem Leben auch begann, es endete doch tragisch und mit dem Tod von Freunden und Verwandten bis hin zum Fall einer ganzen Elbenstadt, nämlich Nargothrond.

Spricht Turins Schicksal gegen die Willensfreiheit? Ich denke nicht, denn dass das Schicksal unüberwindbar ist, heißt ja nicht, dass nicht der Wille existent wäre, etwas Anderes zu tun, als am Ende steht. Willensfreiheit definierte ich zwar oben als Wille und als Möglichkeit zu einer bestimmten Handlung, aber dass wenigstens der Versuch gemacht wird, moralisch richtig zu handeln, reicht aus, um der Willensfreiheit Ausdruck zu verleihen.

Und der Wille, richtig zu handeln, ist bei Turin ja vorhanden.4 Er will seinen Freund Beleg nicht töten, er will den Untergang Nargothronds nicht und er weiß zum Zeitpunkt seiner Vermählung auch nicht, dass er seine Schwester Niënor heiratet. Dieser Teil der Geschichte Turins zeigt starke Parallelen zum Schicksal des Ödipus, der tragischen Gestalt der antiken griechischen Dichtung, der ja, ohne es zu wissen, seine Mutter ehelichte. Beide Personen, Turin und Ödipus, versuchen in Kenntnis des Fluches bzw. der schicksalhaften Bestimmung ihr Bestes, die Tragödien abzuwenden. Dies allein entschuldet sie in ethischer Hinsicht und reicht aus, die bestehende Willensfreiheit kenntlich zu machen – Ödipus wandert ja sogar aus seinem Heimatstaat aus, was sollte er denn noch machen? -, selbst wenn in beiden Fällen dann das tatsächliche Können so stark eingeschränkt ist, dass der Wille, das ethisch Richtige zu tun, nicht ausreicht, um die Tragödie zu verhindern.

Tom Shippey spricht in diesem Zusammenhang nicht von Wille, sondern von “decision and perseverance” (s. Shippey 2004, 251f.) und meint damit doch das Gleiche. Ich kann Shippey nur zustimmen, wenn er Entschiedenheit und Beharrlichkeit seitens der Protagonisten als den philosophischen Kerngedanken (“philosophical core”, 252) bezeichnet. Wenn Frodo und Aragorn, die beiden so verschiedenen (vgl. Flieger 2004) und doch wichtigsten Helden des HdR nur entschieden und beharrlich das verfolgen, was sie als die richtige handlungsweise etrkannt haben, dann ist es egal, wenn einer von ihnen zuletzt vom Schicksal in Form des unwiderstehlich Bösen des Ringes übermannt wird: ihm ist kein Vorwurf zu machen. Und er wird ja auch durch die eukatastrophische Wendung gerettet.

page56_4Weder das Schicksal noch die Allmacht und Allwissenheit Iluvatars sind zwingende Argumente gegen das Bestehen von Willensfreiheit in Mittelerde. Das Schicksal ist ein äußerer Zwang, der beispielsweise durch übernatürliche Kräfte wie den Fluch Melkors ausgeübt wird und in vielen Fällen gelingt es Menschen und Elben eben nicht, ihm zu entkommen. Entscheidend für die ethische Beurteilung ist jedoch, wie sie sich gegenüber dem Schicksal verhalten und was sie wollten und versuchten, um den Willen umzusetzen. Ähnlich verhält es sich mit der Schöpfung, deren letztes musikalisches Thema von Anfang fest stand. Wiederum entscheidend ist, dass Iluvatar Variationen des Themas erlaubt: Er ermöglicht damit Freiheit im Rahmen seiner Allmacht, wissend, dass diese Freiheit sich in seinem Sinne auswirken wird, dass die Schöpfung also eine gute Welt sein wird. Iluvatar kann nun einmal als einziger von außen auf die Schöpfung sehen („all things may be forethought in music or foreshown in vision from afar“, S; 57) und die Valar können dies ausdrücklich nicht („those who enter verily into Eä each in its time shall be met unawares as something new and unforetold“; vgl. ebd.)! So besteht auch kein notwendiger Widerspruch zur Aussage Iluvatars, dass niemand die Schöpfung gegen seinen Willen abändern kann. Iluvatar kann die Themen seiner Musik durchaus so gestalten, dass Diskordanzen und unvorhersehbare Zwischenspiele möglich sind, ohne dass das Endergebnis dadurch in Gefahr gerät, gerade weil die Freiheit das stärkere Konzept ist, dass sich so oder so auf lange Sicht durchsetzt. Andernfalls wäre diese Schöpfung kein gutes Werk, was aus einer werkimmanent theologischen Sicht aber widersprüchlich wäre.

Interessant für die Philosophie ist die Selbstverständlichkeit mit der die Willensfreiheit in das kleine Universum Mittelerde eingebaut ist und die Parallelität, mit der sie in der philosophisch-theologischen Betrachtung und der literarischen Fiktion auftritt (vgl. u.a. Fornet-Ponse 2006, Fisher 2006, Weinreich 2006b). Interessant ist des Weiteren mit welcher Deutlichkeit ein schwieriges ethisches Problem in einem vermeintlich so flachen oder holzschnittartigen Genre wie der Fantasyliteratur umgesetzt und der einzig möglichen Lösung zugeführt wird. Die Lösung, trotz der die Ethik bedrohenden Gefahren der Geschöpftheit der Welt und der in ihr wirkenden übernatürlichen Kräfte – die ja beide als Apologien für das Böse geltend könnten -, die Lösung also Verantwortlichkeit durch die Verankerung individueller Freiheit in der Sekundärwelt zuzuweisen, kann geradezu paradigmatisch auf die Diskussion über Gut und Böse in der ersten Welt zurückwirken. Die Betrachtung der Willensfreiheit bei Tolkien beweist ein weiteres Mal, mit welchem Gewinn ‘Märchen’ als Gedankenexperimente zur Lebensführung gelesen werden können.


 

1 „Sarumans voice was not hypnotic but persuasive. Those who, listened to him were not in danger of falling into a trance, but of agrreing with his arguments, while fully awake. It was always open to one to reject, by free will and reason, both his voice while speaking and its afterimpressions. Saruman corrupted the reasoning powers“ (L, 276f.) Diese Sicht Tolkiens widerspricht allerdings seinen eigenen Formulierungen, denn im entsprechenden Kapitel The Voice of Saruman heißt es ausdrücklich, dass die Stimme ein „enchantment“ sei und dem Zuhörer einen „spell“ auferlege (LotR II, 228). Dieser Widerspruch ist für das zu behandelnde Thema bedeutungslos.
2 Dass das keinerlei praktische Auswirkungen hat und dass Moralität trotzdem besteht, dass Ethik sinnvolle Aussagen machen kann und dass Verantwortlichkeit zuordbar ist kann in diesem Rahmen nicht ausgeführt werden. Ich behandele das Problem jedoch andernorts und schlage dort eine Lösung der Art vor, dass die menschliche Handlung als eine intervenierende Variable im Ursache-Wirkungs-Geschehen betrachtet werden muss, die erstens in diesen Wirkkreislauf eingreift und zu klar zuordbaren Resultaten führt und die zweitens auf Grund der unendlichen Zahl von Variablen, die auf die bewusste Entscheidung einwirken, in praktischer Hinsicht so behandelt werden muss, dass die Handlung einem Handlungsträger als Verantwortung zugeordnet werden kann, der dann auch für die Folgen einzustehen hat. Wäre dies nicht so, käme es zu einem anderen Handlungsablauf, da der handlungsleitende Wille suspendiert würde, könnte er nicht für sich selbst erwarten, dass die Handlung eine bestimmte Wirkung zeitigt (vgl. Weinreich, 2004, Kap. 1.4).
3 Brief Nr. 153 ist allerdings nie abgeschickt worden, so dass ein Zweifel bleibt, inwieweit Tolkien hinter dem Inhalt des Briefes steht. Carpenter fügt dem Brief die Anmerkung bei, Tolkien habe als Grund für den Behalt des Briefes die Notiz verfasst: „It seemed to be taking myself to importantly“ (L, 196), so dass geschlossen werden kann, dass es vielleicht doch nicht Zweifel an den Erläuterungen waren, die Tolkien den Versand vermeiden ließen.
4 Shippey weist zu Recht darauf hin, dass Turin nicht völlig schuldlos am Verlauf seines Lebens ist: sein dunkles, brütendes Wesen, der Jähzorn, die Rachsucht sind alles eigenschaften, von denen gefordert werden kann, dass ein Mensch daran zu arbeiten habe (Shippey 2003, 265ff.). Das ändert jedoch nichts an der bedeutung der großen tragischen Ereignisse, die Turin nicht beeinflussen konnte und die ihn deshalb in eine Reihe mit Ödipus stellen.

(Frank Weinreich, Bochum 10/´99)