Die Mythologie von Mittelerde

und ihre primärweltlichen Wurzeln

© Frank Weinreich

In diesem Vortrag möchte ich über zwei Dinge sprechen. Zum einen über die Mythologie, die uns im HdR begegnet und zum anderen über ihre Wurzeln in unserer Welt, also darüber, welche Bilder aus unserer Welt und aus unserer Sagenwelt von Tolkien bewußt oder unbewußt aufgenommen und in den HdR eingearbeitet wurden.

Das kann ich in diesem Rahmen aber nur punktuell darstellen. Ich muß mich also auf die Mythenbilder konzentrieren, die ich für diejenigen halte, die auch Tolkien am wichtigsten waren. Ich hoffe, mich dabei nicht geirrt zu haben.


 

Bei der Betrachtung der Mythologie will ich keine allegorischen Deutungen abgeben – Tolkien hat sich auch immer gegen die Suche nach Allegorien im HdR verwahrt. Sein Biograph Humphrey Carpenter berichtet, daß Tolkien einmal gesagt habe: „Ich verabscheue die Allegorie wo immer ich nur etwas davon rieche“ (Carpenter 1977, 112). Stattdessen will ich nur aufzeigen, dass auch Tolkien seine Geschichten nicht im luftleeren Raum geschrieben hat und selbstverständlich von den Wissensbeständen seiner Herkunft und Bildung beeinflußt war.

In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung rufen, dass Tolkien erstens ein zutiefst gläubiger Christ war, genauer ein römischer Katholik mit dem Hang zur Marienverehrung, daß er zweitens als Professor für englische Sprache und Literatur gelehrt und gearbeitet hat und daß drittens ein Schwerpunkt seiner Arbeit die Mythen und Sagen vor allem Nordeuropas waren. Elemente der Sprachwissenschaft – darüber rede ich noch extra -, christliche Motive und der europäische Sagenfundus finden sich denn auch zuhauf in Tolkiens fiktionalem Werk wieder.

Mythen sind ein entscheidender Teil der Geschichten um Mittelerde. Die Erzählungen von HdR begannen als Heimstatt für die von Tolkien erfundenen Sprachen schaffen, doch bald wurde daraus der Wunsch, eine Mythologie für England zu schreiben (Carpenter 1979, 109). Tolkien fand, seine Heimat England könne im Gegensatz zu Skandinavien, Griechenland, Italien oder auch Deutschland auf keine eigene Mythologie und Sagenwelt zurückschauen wie es die Geschichten Homers oder die Sagen um Siegfried oder Dietrich von Bern sind. Der HdR sollte diese Lücke füllen und wenn man sich den Verbreitungsgrad der Romane anschaut, kann man nur sagen, dass es Tolkien heute gelungen ist, Gandalf und Sauron mindestens so bekannt zu machen, wie Agamemnon und Priamos.

Mythologie ist die Lehre vom Mythos und das altgriechische Wort Mythos heißt zunächst nicht mehr als Erzählung. Allerdings waren damit von Anfang an Erzählungen aus einer auch für die alten Griechen unbestimmbaren und prähistorischen Urzeit gemeint, in der die Götter noch auf der Erde wandelten und in der Magie und Wunder möglich waren. Kennzeichen des Mythischen ist immer auch das Übernatürliche. Die Götter standen dabei für Handlungsprinzipien und aus den Mythen konnte man lernen, was Gut und Böse waren. Der Kampf und Gegensatz von Gut und Böse liegt allen Sagen und sagenhaften Erzählungen zugrunde und ist in sich wohl das mythologische Motiv überhaupt und ist als solches natürlich auch Basis der Geschichten aus Mittelerde.

Tolkien will uns nun nicht darüber belehren, was Gut und Böse sind. Die Welt und die Geschehnisse, die er beschreibt sind vielmehr recht eindeutig schwarz und weiß gezeichnet – wenn auch mit Nuancen. Die Frage nach Gut und Böse erklärt sich für den HdR denn auch von selbst und bleibt auch auf ihn, auf diese Fairy-Story beschränkt. Tolkien beansprucht keinerlei Wirkung auf unsere reale Welt und will mit dem HdR bestimmt auch nicht Anleitung oder moralische Führung geben.

Unser Autor zeigt uns in bezug auf Mythen vielmehr das Bild einer phantastischen Welt, die von Magie und wunderlichen Wesen erfüllt ist und in der magische Dinge wie Drachen oder die Unsichtbarkeit, die der eine Ring verleiht möglich sind. Interessant ist dabei – und das trifft auf einen sehr großen Teil der Fantasy-Literatur zu – dass Mittelerde zwar einen reichen Fundus an Wundern und Magie enthält, dabei aber mit einem Minimum an Metaphysik oder Jenseits auskommt.

Die Metaphysik unserer realen Welt, die vom Glauben an ein irgendwie geartetes Leben nach dem Tode gekennzeichnet ist, dessen Qualität von den Handlungen im Leben abhängt, diese Metaphysik ist sehr viel komplexer. Alle bekannten Religionen haben Kataloge für Verhaltensweisen aufgestellt, die beachten muß, wer ein angenehmes jenseitiges Leben erwarten will. Im Fantasyroman werden Lohn und Strafe üblicherweise viel direkter ausgeteilt und nicht auf ein jenseitiges Leben verschoben. Aber die direkte angemessene Vergeltung für das Verhalten muß wohl auch die Funktion von Märchen sein, wollen wir uns doch wenigstens in ihnen nicht auch noch anhören müssen, daß die Bösen ungerechtfertigten Reichtum erstmal bis zum Tode ungehemmt genießen dürfen.

Im Gegensatz zum klassischen griechischen Mythos verlangen die tolkienschen Mythen von Mittelerde also nicht, daß man sie im realen Leben beachte und sich nach ihren Lehren richte. Ich finde zwar, daß das im Zusammenhang mit typischer Fantasy eigentlich sowieso klar sein sollte, aber Tolkien wird immer wieder höchst bemerkenswert interpretiert, so als könnten und sollten die im HdR entfalteten Normen und Werte dem Leser oder Hörer handlungsanleitend wirken. Dabei muß wieder darauf verwiesen werden, daß Tolkien Mittelerde nicht allegorisch verstanden wissen wollte.

Grundlage für den HdR und die Welt Mittelerde ist eine Schöpfungserzählung, die der christlichen entspricht. Der christliche Gott erschafft Engel, Welt und Universum durch seinen Willen: „Am Anfang war das Wort […] und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist“, so steht es im Johannes-Evangelium (1, 1-3). Am Anfang von Mittelerde ist analog dazu die Musik, die die Ainur gemäß eines göttlichen Plans spielen. Iluvatar – wie der eigentliche Gott Mittelerdes genannt wird, denn die Ainur sind weniger Götter als vielmehr Engelsgestalten – Iluvatar steht auf der exakt gleichen Stufe wie der christliche Gott. Er ist allmächtig und allwissend. Das Universum Mittelerdes mit allen Aspekten ist seine Schöpfung. Auch das Böse wird genau wie in der christlichen Lehre explizit zugelassen und doch ist es von Anfang klar, daß seine Rolle vorherbestimmt ist und daß es Morgoth, dem gefallenen Engel, nicht gelingen kann, sein eigentliches Motiv, nämlich selbst etwas aus eigener Macht zu erschaffen, durchzusetzen. Hierin gleicht Morgoth dem christlichen Satan, der ja unter dem Namen Luzifer seine ‚Karriere‘ auch als schönster und klügster der Engel begann.

page40_1Die dem Schöpfungsakt folgenden Ereignisse finden immer vor dem Hintergrund des Kampfes von Gut und Böse statt. Das Böse in der Gestalt Morgoths und später Saurons ist unfähig einzusehen, dass ihm Grenzen gesetzt sind. Es will eine Stelle einnehmen, die es dem Schöpfergott mindestens gleichrangig macht. Da es aber nur eine allmächtige Kraft geben kann, denn eine zweite würde ja der anderen Allmacht eine Grenze setzen, ist dies natürlich unmöglich. Die bösen Kräfte können dies jedoch nicht einsehen und versuchen bis ans Ende aller Tage, zu triumphieren. In der christlichen Mythologie hat das Böse die Funktion, den mit freiem Willen begabten Menschen in Versuchung zu führen, damit er sich durch seine Entscheidung für Gut oder Böse am Ende auf einer gerechten Basis richten läßt. Darum geht es in Mittelerde nicht – hier hat das Böse erst einmal die eigentliche Funktion, die Handlung voranzutreiben. Eine Heldensaga kommt nun mal nicht ohne einen bösen und möglichst übermächtigen Gegner aus. Wie sollte sich auch sonst höchster Heldenmut erweisen, wenn nicht angesichts des Bösen selbst.

Die Ainur können wir uns, wie gesagt, ganz ähnlich der christlichen Engel vorstellen, die ihnen auch Pate standen. Die anderen auf Mittelerde auftauchenden Rassen werde ich im Detail noch extra behandeln. Aber der grundsätzliche Hintergrund, besonders der Elben, aber auch der Hobbits, der Zwerge und der Ents auf der einen Seite sowie der Orks, der Warge und der Trolle auf der anderen Seite ist für die Frage nach den Mythen von Bedeutung.

Der zweite große mythische Anklang auf Mittelerde findet sich in der Beseeltheit,

ja Selbstbewußtheit der Natur und darin daß diese Beseeltheit in Gefahr ist. Die Feen oder Elfen der keltischen Mythologie, die den Elben als Vorbild dienten, waren Ausdruck eines animistischen Glaubens daran, daß die Natur in irgendeiner Weise Seele und Bewußtsein besitze. Dieser Glauben findet sich, soweit ich weiß, in der einen oder anderen Form am Ursprung aller Völker wieder. Feen, die in symbiotischer Weise in den Bäumen und Büschen lebten gaben der Flora Stimme und Bewußtsein, sprachen sie doch für die von ihnen bewohnte Natur und behüteten sie auch. Dieselbe Rolle spielen sie auch in Tolkiens Geschichten. Doch im Gegensatz zur keltischen Mythologie, die Feen als kleine und scheue Wesen charakterisiert, sind die Elben Tolkiens machtvoll und unsterblich. Das müssen sie auch sein, werden sie doch dem Bösen als Hauptkraft gegenübergestellt. Die anderen freundlichen Rassen spielen auf spezialisiertem Gebiet eine eben solche Rolle. Die Zwerge übernehmen eine derartige Sprecher- und Hüterfunktion für das Gestein, die Höhlen und die Berge, die Adler um Gwaihir patrouillieren die Lüfte, die Hobbits sind ein Gärtnervolk, das sich der urbar gemachten Landschaft auf ökologisch verträgliche Weise annimmt und die Ents werden ja ausdrücklich als „Baumhirten“ eingeführt. Dies sind die guten oder positiven Wesen, die in ihrem Lebensraum eine bewahrende Funktion haben. Ihre Aufgabe ist es, das Leben in all seinen mannigfaltigen Ausdrucksformen zu erhalten.

Ihnen stehen eine ganze Reihe von bösen oder negativen Wesen gegenüber. An erster Stelle natürlich die Orks. Obwohl es – nach Tolkien – nur vermutet wird, scheinen die Orks der Versuch Morgoths zu sein, so etwas wie die Elben zu schaffen – sie sollten ebenfalls schön, ebenfalls mächtig und vielleicht auch ebenfalls unsterblich sein. Was Morgoth jedoch einzig erreichte, war eine dunkle Umwandlung der elbischen Schönheit in abgrundtiefe Häßlichkeit. Das gleiche gilt für die die Orks unterstützenden Rassen wie Warge und Trolle. Der Lebenszweck der negativen Rassen war jedoch entsprechend Morgoths Ideal nicht Bewahrung, sondern Unterwerfung der Natur. Letztendlich gelungene Unterwerfung drückt sich jedoch darin aus, daß alles Natürliche, Wildwachsende und Freie zerstört und durch etwas Konstruiertes, etwas Künstliches ersetzt werden muß. Ein erster Schritt sind die bösen Lebewesen selbst, die im Gegensatz zu den guten Rassen nicht frei geboren, sondern in Morgoths und Saurons dunklen Kerkern gezüchtet werden.

Tolkien spricht mit diesem Motiv den klassischen Gegensatz von Kunst und Natur an, der in Philosophie, Literatur und Folklore immer wieder, wenn auch üblicherweise nicht in dieser Schärfe aufgeworfen wird. Verkörpert durch die Figuren der Elben und der Orks läßt Tolkien die Prinzipien Natürlichkeit und Künstlichkeit aufeinander los und stellt sich dabei unerbittlich parteiisch auf die Seite der Natur.

Der Mensch steht, wie in der realen Welt auch, irgendwo dazwischen und läßt sich durch den Appell an seine gute Seite oder durch die Ansprache seiner Begierden mal auf die eine mal auf die andere Seite ziehen. Ich werde in den nächsten Vorträgen noch sehr deutlich machen, wie intensiv sich Tolkien gegen eine Deutung Mittelerdes als Repräsentation der Probleme unserer realen Welt gewehrt hat. In diesem Zusammenhang möchte ich dem schon vorgreifen, indem ich betone, daß der HdR und die Mythologie des HdR nicht instrumentell verwandt werden. Ma könnte sich sonst ja vorstellen, das Tolkien sagen wollte: „Schaut auf den Kampf zwischen Elben und Orks. Genauso sieht es auf unserer Welt auch aus, kämpft also auch gegen das industrielle Böse!“ Genau das ist Tolkien auch schon unterstellt worden. Das will ich aber nicht sagen! Doch wenn wir fragen, woher das Bild von Elben und Orks genommen ist, so muß man auch erwähnen, daß Tolkien sich in der Tat in großem Maße vor dem technischen Fortschritt unseres Jahrhunderts fürchtete und ekelte.

Ein ganzes Bündel von Heldensagen finden wir im S und in den verlorenen Geschichten. Bei der Zusammenfassung des S habe ich schon darauf hingewiesen, daß eine ganze Reihe von Motiven und Geschichten enge Parallelen zur Sagenwelt und Folklore aufweisen. Dasselbe gilt auch für Passagen aus dem kH und dem HdR. So hat etwa David Day darauf hingewiesen, daß die Episode mit den drei Trollen sehr an das tapfere Schneiderlein erinnere. Auch war Bilbo bekanntermaßen nicht die erste literarische Figur, die einen Rätselwettkampf über sich ergehen lassen mußte. Die Reihe läßt sich wahrscheinlich noch sehr viel weiter fortsetzen und auch meines Wissens nach völlig eigenständige literarische Figuren wie Gollum oder Tom Bombadil, an dessen Rolle sich Tolkien-Interpreten seit je die Zähne ausbeissen, auch diese mögen nachweisbare Vorbilder haben. Die Geschichten und Wesen aus Mittelerde wiederum haben ihren Niederschlag in mittlerweile hunderten von Büchern und Erzählungen gefunden, ohne daß diese dadurch automatisch Plagiate oder von minderwertiger Qualität geworden wären.

Es gibt wohl nur eine begrenzte Anzahl von epen- oder mythenfähigen Stoffen, die sich immer wieder wiederholen und um einander drehen werden, solange Menschen noch Interesse an einer märchenhaften Geschichte haben. Letztlich kommt es doch auf die Qualität der Erzählung und der Erzählweise an, wenn sie uns in den Bann schlagen soll. Da kann der Erzähler ruhig bekannte Motive aufnehmen und neu arrangieren. Und die Qualitätsfrage ist es, die Tolkien zu einem wahren Meistererzähler macht! Ich hoffe und glaube, daß ihm noch viele Geschichtenerzähler ähnlichen Kalibers nachfolgen werden. Auch diese werden in ihren großen Geschichten auf Mythen zurückgreifen und vielleicht einige neue hinzufügen. Denn die epische Größe, die in allen Mythen steckt, ist es, die uns Leser und Hörer ahnen läßt, daß es neben der physischen Welt noch eine phantastische Welt der menschlichen Erfindungskraft zu entdecken und zu beschreiben gibt.

 

(F.W., Bochum 10/99)