Das Web gab es damals noch nicht und das Internet in Deutschland nur an Unis oder über abenteurliche Gateways aus privaten Mailboxen, in denen ich fortan mit Leuten wie Dirk oder meinem Freund Michael Götting stöberte. Aber Vater will hier nicht vom Krieg erzählen;-). Jedenfalls war alles textbasiert und die einzigen Grafiken, die es gab, wurden von phantasievollen Leuten aus den 256 Zeichen des ASCII-Satzes zusammengestoppelt. Natürlich wurde tierisch Software gesaugt und upgeloadet – aber eigentlich drehte sich alles um Kommunikation. Die Mailboxen waren in lauter mehr oder weniger kleinen Netzwerken zusammengeschlossen und man kannte zumindest die Namen der Leute, die in den Headern der Mails standen, fast alle. Vielleicht kennen Sie noch das Z-Netz? Das Maus-Netz? Naja, es ist lange her …
Neben der Credo war die KKB meine Stammmailbox, eine von zwei oder drei Boxen, die von einer Frau unterhalten wurde (hallo Kim, bist Du irgendwo da draußen? -sicher!). Kim legte wenig Wert auf Softwareaustausch und bot kaum Programme an. Deshalb waren auch fast alle Leute in der Box zum Quatschen da. Ich habe mir damals mit Kim, Calvin und einigen anderen Mails von 20 KB-Text und mehr geschrieben. Über Gott, die Welt, Gefühle und alles andere.
Wahrscheinlich kommt daher meine Überzeugung, dass das Netz zu mehr als dem Surfen dienen muss. Orte wie die Mailboxen sind meiner Erfahrung nach selten geworden im Netz. Oder man sieht sie nicht mehr vor lauter Pop-Ups, Bannern und Flash-Animationen …
Es gibt natürlich sehr engagierte private Homepages. Ein gutes Beispiel ist etwa die Site meiner Kollegin Annabell Preussler, die sich auf Ihrem Webspace engagiert mit Frauen- und Lesbenpolitik auseinandersetzt und dabei starke, prägnant und schön formulierte Texte veröffentlicht, wie etwa ihre tollen Glossen. Auch wird auf diesen Sites der Versuch unternommen, Diskussionen in Foren anzustoßen und am Leben zu erhalten, so auch bei Annabell oder bei meinem Freund Axel Scherer und seinem Versuch einer Communitygründung namens “Freunde der Nacht”. Das erreicht jedoch meiner Erfahrung nach kaum einmal das Gemeinschaftsgefühl und das Gefühl gemeinschaftlich etwas aufzubauen, wie es in den Mailboxen der Fall war.
Im Sommer 1993 kam mir dann in einem Seminar für sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden die Idee zur Forschung im Internet. Ich führte eine Befragung zum Nutzungsverhalten in Mailboxen durch. Damals war ich ganz vorne mit dran, denn so etwas gab es noch nicht (sicher, Wetzstein et al führten gerade die Erhebungen zu “Datenreisende” durch – aber die Ergebnisse waren noch nicht veröffentlicht). Eines kam zum andern und letztlich machte ich die große Studie zum Uses and Gratifications Approach im Internet, der ich meinen Magistertitel und meine erste Monographie – Moderne Agoren – verdanke.
Für die modernen Agoren habe ich dann 1996 Interviews geführt, z.B. mit Dirk Ulrich. Dasjenige, das mich auf meiner Meinung über das Netz am weitesten gebracht hat, war das mit padeluun vom “Verein zur Förderung des bewegten und unbewegten Datenverkehrs” (FOEBuD e. V.). padeluun ist gewöhnungsbedürftig, das stimmt. Aber seine Ideen und die Positionen für die FOEBuD steht, sind auch meine Überzeugungen dazu, wie das Netz sein sollte: dezentral, herrschaftsfrei, tolerant, die Menschen vernetzend:
“Sie sehen schon: Als Nutzerin des Z-Netzes haben Sie auch Einfluß auf die Gestaltung des Mediums. Und im Z-Netz haben alle den gleichen Einfluß: Nämlich wie im richtigen Leben. Einen Einfluß größer als Null. Kein Individuum kann und soll über das Netz und über andere hinweg bestimmen können.”
(padeluun1: Mailbox auf den Punkt gebracht, S. 1-7)
Die modernen Agoren kamen natürlich eigentlich schon zu spät – Mailboxen waren 1997 klar auf dem absteigenden Ast, schade (aber viele werden bestehen bleiben, dessen bin ich sicher). Doch der Nutzungsansatz ist zumindest für die Kommunikationswissenschaft von Interesse und trifft in weiten Teilen auch auf das Internet zu. Hey, im Frühjahr 1999 habe ich eine Magisterarbeit gelesen, die auf meinen Arbeiten aufbaut und vieles bestätigt. Und an der Uni Leipzig und einigen anderen Hochschulen arbeiten sie in Seminaren mit dem Text.
1997 trieb auch ich selbst mich schon viel öfter im Web herum als in den Mailboxen und den DFUE-Netzen. Aber anders als früher die Mailboxnetze war das Internet jetzt für mich ein Werkzeug, kein Herdfeuer mehr, an das ich mich hätte setzen wollen, um mich zu wärmen und ein paar Gedanken zu tauschen. Das Internet war mir einfach zu laut geworden im Vergleich mit den früheren, lauschigen Mailboxen.
Das folgende Abstract habe ich ´98 als Bewerbung für den Jahreskongress der Internetsociety geschrieben. Obwohl ich eingeladen wurde, war es dann leider recht schnell klar, dass ich den Vortrag nicht würde halten können, da die Arbeit an der “Schulen ans Netz-Evaluation”, es zeitlich nicht erlauben würde. Den Vortragstext habe ich deshalb nie geschrieben. Aber das Abstract drückt recht genau aus, was ich mit dem “lauten” Charakter des Internets meine.
Communication Wasteland
With CMC society for the first time has the facilities of unrestricted and emancipated communication and public interaction at its disposal. Recent studies in CMC and the success of projects like the Public Electronic Network, Santa Monica, or De digitale Stad, Amsterdam, provide us with the insight that social interaction is to be viewed upon as the core of CMC and the internet. But with the emergence of the World Wide Web, consisting of colourful tv- and magazine-like facades, the Net is threatened to regress in an ordinary mass medium with the wellknown (and restricted) one-to-many flow of information. This paper emphasizes the organizational, discourse and communication qualitities of the internet according to thoughts of Bertolt Brecht, Juergen Habermas and others in contrast to the development of the WWW as advertising carrier. It argues towards a better understanding of the value of CMC as a tool of connectivity and social interaction in spite of overvalueing its promotional and mercantile aspects.
Literature and empirical findings agree that the main purpose of internet-connectivity is communicative interaction. Although not exactly meeting the definition of Habermas´ “communicative action” this concept is nonetheless kin to the uses the participants make of the Net. After briefly explaining communicative action and discourse ethics the paper will compare these concepts with findings about the uses the Net is currently put to. I will show that the internet as communication device is already used in a habermasian sense, albeit only one facet of the Net. I will also show that these uses stem from a certain kind of “socialization” current users have gone through. If more and more users come to experience the internet from a “websidian” point only, meaning that they learn to use the Net solely as a strolling and shopping mall of more less than more interactive web-pages, these socially centered uses will be in danger of vanishing. CMC offers ethical chances: you can participate in a broader social and public life! you should see your relation to the internet as builder and participiant not as a customer! In this sense CMC can be discourse ethics come true, but only if it is encouraged to do so through selfunderstanding its role this way.
Zum Glück hat das Netz sich – und zwar durch Iniativen und Ideen der User, unbeeinflusst von und oft gegen die Interessen der Medien- und Softwarekonzerne – in eine andere Richtung entwickelt. Einerseits gibt es das von den Großen beherrschte Netz, aber daneben, und in der Nutzung mittlerweile deutlich ausgeprägter, ist das von den Nutzern und den Nutzergemeinschaften gestaltete Internet entstanden, das man heute gerne unter Web 2.0 verschlagwortet. Blogger, Bürgerreporter, Communities, private Content-Ersteller, Fotografen und Musiker gestalten das Netz heute weit innovativer und interessanter als die vermeintlichen Medienprofis. Außerdem gestatten die entstandenen Strukuren die emanzipierte Teilnahme an den öffentlichen Kommunikationsprozessen. Zur Zeit kann man sagen: mein Exposé von 98 ist wiederlegt. Super!
1999 wollte ich dann auch im Netz mitmischen und habe anlässlich der ersten zehn Tolkien-Aufsätze die Version 1.0 von polyoinos ins Netz gestellt, vielleicht erinnern Sie sich ja noch, sie stand schließlich fast zehn Jahre hier:
Und letztlich ist mein Leben durch ‘online’ auch ein anderes geworden. Meine Bekanntheit als Autor, meine Einbindung in einen Großteil meines Bekannten- und Feundeskreises und vor allem meine Arbeit als Autor und Lektor seit 2001 wäre in der derzeitigen Form ohne CMC nicht möglich. Alles, was ich mache, läuft über das Netz und elektronisch ab. Ich habe bspw. im Regal neben mir noch zwei Packen von ehemals 5 Packen mit je 500 Seiten DIN-A4-Papier stehen, die ich 2000 gekauft habe. Sie sehen, was Ausdrucke angeht, schone ich wirklich die Umwelt.
Und so langsam erlebe ich in Ansätzen auch wieder etwas von den alten Herdfeuern, und zwar durch die sogenannten Web-2.0-Communities wie Ecademy, Xing, Facebook und wie sie alle heißen. Zuerst bin ich in einige dieser Gemienschaften nur eingetreten, um leichter gefunden werden zu können. Das hat auch gut geklappt, ich kann jedem Freiberufler nur dringend raten, sich so zu vernetzen. Mehr als 75% meiner Aufträge kommen über Xing oder Ecademy. Aber ich schließe auch Bekanntschaften und unterhalte mich wieder angeregt. Noch nicht so eng wie früher in der KKB, aber es macht wieder richtig Spaß.
1 Bielefelder Künstler und bekannter Bürgerrechtler, langjähriger Vorsitzender des FOEBuD e. V.