Eine Neuerzählung des Märchens „Vogel Phönix“
von Hans-Christian Andersen

Im Garten des Paradieses, direkt unter dem Baum der Erkenntnis, stand einst ein Rosenstrauch, von dem die Bibel nichts berichtet. Dessen erste Blüte bildete ein Nest, aus dem der Vogel Phönix entsprang. Rot-golden leuchtete sein Gefieder, sein Flug war ein herzbewegendes Strahlen und sein Gesang die schönste Musik, die je erklang. Und seinen wahren Namen, den gaben ihm Adam und Eva, denn er vervollkommnete ihr Glück. Doch als das Menschenpaar die verbotene Frucht von dem Baume nahm und aß und aus dem Paradies vertrieben wurde, da geschah es. Ein Funke fiel vom Flammenschwert des strafenden Engels und entzündete das Nest. Die Flammen schlugen hoch und der Phönix verbrannte. Doch als die Asche abkühlte, da lag darin ein golden schimmerndes Ei. Aus ihm schlüpfte der Phönix erneut und erhob sich in all seiner Pracht.

Doch er ist der einzige seiner Art und er wird für immer der einzige seiner Art bleiben. Hundert Jahre lebt der Phönix, dann verbrennt er in seinem eigenen Nest, von dem man sagt, dass es in Arabien liege. Ein neues Ei wird dann in der Asche liegen und aus ihm wird ein neuer Phönix schlüpfen, wieder der einzige seiner Art, wieder für hundert Jahre, bis sein Lebenszyklus neu beginnt.

Wo der Phönix auftaucht, da spendet er Mut und Hoffnung und die Schönheit seines Fluges und seines Gesanges erhebt die Herzen der Menschen. Der Vogel umflattert uns, schnell wie das Licht, herrlich von Farbe und mit wunderbarem Klang. Und er ist nicht allein der Vogel Arabiens, sondern flattert ebenso unter dem Nordlicht über Lapplands Eisfelder, wie er sein Lied über der Mojavewüste oder der Millionenstadt Bangkok erklingen lässt. Er ist in den schwindenden Dschungeln Brasiliens anzutreffen und in den Kohlegruben Australiens. Und manchmal taucht er dort auf, wo man seine Ankunft erwartet, noch öfter aber erscheint er da, wo niemand sein Erscheinen auch nur zu erhoffen wagt.

Gerade erst, so geht eine neue Kunde, sei der Vogel Phönix in Syrien erschienen. Oder war es der Irak? Venezuela? Vielleicht auch Afghanistan? Oder Ruanda oder Somalia? Ich weiß es nicht, doch sein Erscheinen, wo immer es auch war, war die Folge eines Rufes, von dem die Rufenden nicht einmal wussten, dass sie ihn ausgestoßen hatten.

Es heißt, dass in einer von Granaten zerschossenen Schule ein Eimerchen gefunden wurde, das voller farbiger Kreiden war. Kinder hatten in dem Elend gespielt, denn es gab dort nur Elend und die Kinder machten das Beste daraus, wie Kinder es immer tun. Dann stießen sie auf das Kreideeimerchen. Es waren Straßenkreiden, ganz wie Du sie kennst, Straßenkreiden, wie die, mit denen du als Kind auf dem Pflaster maltest und die Kreise und Quadrate gezeichnet hast, die man braucht, um Himmel und Hölle zu spielen. Und doch waren sie auch anders, als deine Kreiden von früher, denn ihre Farben leuchteten viel kräftiger als du sie von deiner Kreide gewöhnt warst. Und als die Kinder sie aus dem Eimerchen nahmen und die ersten Striche auf das zerstörte Gemäuer auftrugen, da staunten sie nicht schlecht, denn die Farben leuchteten hell wie die Sonne und das tiefe blaue Meer. Du kennst die Farben der Straßenkreide und weißt, dass sie blass sind, doch nicht diese! Die sahen aus, als wäre der Regenbogen selbst zur Erde gestiegen und zeichne Traumbilder auf gesprungene Ziegel.

Alle Farben waren in dem Eimerchen zu finden, und die Kinder freuten sich, denn so etwas Schönes hatten sie noch nie gesehen. Doch ihr Leben war schwer und was die Kinder am besten kannten, war das Leid. So griffen die ersten zu den Farben, mit denen sie ihr Elend malen konnten. Doch das Blutrot, es wollte nicht auftragen. Auch das Giftgrün und das Gelb des Neides verschwanden, kaum dass mit ihnen die ersten Linien auf den schmutzigen Gehsteig gemalt worden waren. Die Kinder versuchten sich mit dem Schwarz des Todes, doch dieses Stück Kreide zerfiel einfach in den kleinen Händen. Aber mit jeder bösen Farbe, die verging, wurden die Herzen der Kinder leichter und ihre Mienen freudiger. Der Kummer, den sie in ihre Bilder hatten legen wollen, floss aus ihnen heraus, wenn sie nur die Kreiden in die Hand nahmen, die sie zu des Leides Darstellung ausgewählt hatten.

Doch andere Farben strahlten um so stärker, je öfter die Kinder sie benutzten. Das leuchtende Sonnenrot, das warme Gelb des reifen Weizens, das helle Blau des Himmels und das dunkle Blau der See sowie das saftige Grün junger Blätter; diese Farben vergingen keineswegs, stattdessen erblühten sie, egal auf welchem Untergrund sie aufgetragen wurden. Bilder wie Gedichte flossen den Kinder aus den Fingern. Und das reine Weiß frischen, unberührten Schnees legte sich wie eine Decke über all den Dreck und das Grau und den Kummer … unbeschrieben, frei und bereit für einen neuen Anfang. Und diese Kreidestücke schwanden auch nicht. Sie wurden nicht kleiner und ihre Farben verschmutzten nicht, egal durch wie viele Hände sie gingen.

Ein farbiger Teppich aus Bildern entstand an der alten zerschossenen Schule und wuchs und wuchs und er berührte die Herzen der Väter und Mütter, die der Onkel und Tanten und die der Großeltern des Dorfes. Ein Lächeln nach dem anderen erschien auf abgearbeiteten Gesichtern und langsam, aber unaufhaltsam glätteten sich die Sorgenfalten der Erwachsenen. Lächeln breitete sich aus und Hände fanden zu einander, die sich seit vielen Wochen nicht mehr zärtlich berührt hatten.

Ein Mädchen hatte in der Mitte des ehemaligen Schulhofes aus Rot und Gelb und Gold und Silber einen wundersamen flammenden Vogel gemalt und es war als ob ein Traum ihr die Hand dabei geführt hatte, so echt und so ergreifend schön wirkte der Vogel. Du weißt natürlich, dass es der Phönix ist, aber auch die armen Menschen des Dorfes wussten es, obgleich sie diesen Namen nicht hätten nennen können. Und das Bild erwachte zum Leben, ein rot-gold´ner Vogel erhob sich auf dem Schulhof. Er schlug mit seinen strahlenden Schwingen, machte einen Schritt, dann zwei weitere und schwang sich in die Luft. Er drehte Kreise über dem Dorf und ließ seinen herrlichen Gesang erklingen und es waren die reine Lebensfreude und das Glück, die sich über dem fast vergessenen Dorf ausbreiteten.

Einen Tag hielt das Glück sicherlich. Vielleicht aber war es auch ein Monat des Lachens und der Freude an einem Ort, der zu lachen vergessen hatte. Vielleicht war es auch ein Jahr oder ein Leben. Ich weiß es nicht. Aber dieser eine Tag, von dem weiß ich gewiss.

Bald wird der Phönix sich wieder in sein Nest begeben, um einen neuen Zyklus zu beginnen. Er wird einen neuen Zyklus beginnen und die Menschen werden ihn wieder rufen. Und sie rufen ihn bei seinem richtigen Namen. Und sein rechter Name lautet „Poesie“.

Frank Weinreich, Bochum im August 2017

 

Das wunderschöne, inspirierende und verzaubernde Originalmärchen von Hans-Christian Andersen aus dem Jahre 1850 findet sich an vielen Stellen im Internet, unter anderem hier: http://visitandersen.de/vogel-phonix/