Even in a mythical Age there must be some enigmas,
as there always are. Tom Bombadil is one (intentionally).
(J.R.R. Tolkien: Letter No. 144)


Toms Verfahren

© Frank Weinreich
(Abgedruckt in Schneidewind/ Weinreich: MIttelerde ist unser Welt. 217 – 220)


Diese Geschichte ist nur verständlich, wenn Sie auch die Bücher zum Herrn der Ringe gelesen haben und nicht nur den Film kennen. Denn Tom Bombadil, von dem diese Geschichte handelt, kommt im Film nicht vor. Das ist auch ganz OK so von Regisseur Peter Jackson, denn Tom ist für den Fortgang der Geschichte nicht wichtig. Tom ist, obwohl er gut nach Mittelerde passt, ein Fremdkörper in der Story, auf den man verzichten kann. Was Tom ist, ist denn auch völlig ungeklärt. Die Auguren sahen in ihm alles Mögliche von einem bloßen Waldgeist bis zum Schöpfergott selbst (vgl. den Beitrag über Tom auf diesen Seiten). Tolkien selbst aber hat es nie erklärt und nur einmal in einem Brief gesagt, dass Tom Bombadil ein absichtlich eingefügtes Rätsel sei, dass er nicht zu lösen gedächte.

Nun … die folgende Geschichte jedoch klärt ein für alle Mal auf, wer Tom Bombadil wirklich ist. Viel Spaß…


 

I

Es war in jenem Augenblick: Am Pass von Cirith Ungol lag Frodo wie tot am Boden, durchbohrt von Kankras Stachel, und Sam hatte gerade eben den Ring an sich genommen. In dem Moment als der arme Sam, hoffnungslos, aber bestimmt die schwersten Schritte seines Lebens unternahm, wandte sich weit, weit im Westen Manwe mit traurigen Augen Varda zu.

„Endet es so, das Dritte Zeitalter? Endet es damit, dass die Welt im Dunkel versinkt?“

„Du weißt, mein Herr“, antwortete Varda, „dass es nie wirklich im Dunkel enden kann. Und Frodo lebt, auch wenn sein armer kleiner Freund dies nicht wissen kann. Also ist auch das Dritte Zeitalter noch nicht völlig in des Feindes Hand gefallen.“

Ein gezwungenes Lächeln erschien auf den Lippen des Herrn von Valinor. „Doch es ist nicht Sams Aufgabe, den Ring zu vernichten und wenn er nun weiterzieht, so muss er scheitern.“

„Und doch dürfen wir nicht eingreifen, oder jegliche Balance ist zerstört“, beeilte sich Varda jegliche Unbesonnenheit in ihres Gemahles Geist im Keim zu ersticken.

Der jedoch wusste dies nur zu gut selber und seufzte. „So sei es also wie es sei. Doch brennt mir eines noch auf den Nägeln. Einer hätte sich der dunklen Macht entgegenstellen müssen, denn er hätte die Macht gehabt. Er hätte helfen können. Er hätte helfen müssen, denn seine Fähigkeiten sind zugleich auch seine Verpflichtung. Große Macht bringt große Verantwortung mit sich.“

„Du redest von dem merkwürdigen Verseschmied im Alten Wald, mein Herr?“

„Von ihm! Nun, da die Hoffnung im Osten vergeht, soll er uns Rede und Antwort stehen. Zu lange haben wir seinen Eigenwilligkeiten Geduld entgegen gebracht und siehe, wohin es uns nun gebracht hat.“

„Er ist ein Rätsel,“ flüsterte Varda, mehr zu sich selbst als zu Manwe.

„Das ich nun gelöst wissen will,“ antwortete Manwe, der dies gleichwohl gehört hatte, „man bringe ihn vor unseren Rat, denn nicht nur will ich dieses Rätsel lösen, ich will auch, dass Gerechtigkeit geschehe.“

II

Auf und unter dem Berg trat Tom Bombadil in genau dem Augenblick aus seinem Haus als zwei gleißende Lichtstrahlen aus dem Himmel auf den Boden niedergingen. Das Licht konzentrierte sich zu zwei Bündeln, die vage humanoide Formen annahmen – es waren Maiar, die, von Manwe geschickt, in der Zeitspanne eines flüchtigen Gedankens vor Toms Hütte erschienen. Maiar können, wie die Valar, jede Gestalt annehmen, die ihnen beliebt und dies war die vielleicht beeindruckendste Form, in der sie gemeinhin auftraten, betonten die Lichtgestalten doch das Wesen dieser engelhaften Personen ebenso wie die Macht, über die sie verfügten und die in jenen Tagen schon seit Jahrtausenden nicht mehr unverhüllt in Mittelerde gesehen worden war.

Doch auch dieses eine Mal war niemand da, die Herrlichkeit der Maiar zu bewundern … außer Tom Bombadil. Der rechts von Tom stehende Maia sprach: „Tom Bombadil, Du wirst uns begleiten. Du wirst vor Manwes Thron erwartet.“

„Das stimmt nicht“, entgegnete der wunderlich gekleidete, kleine Mann voller Überraschung. Doch was es war, das nach seiner Meinung nicht stimmen sollte, das konnte er nicht mehr zu Gehör bringen, wurde seine schwache menschliche Stimme doch übertönt von einer Stimme, in der viele mitschwangen und die leise und doch alles dominierend sagte: „Es ist unser Wille.“

III

In wiederum nur einem Augenblick erschien der kleine Mann in einem Kreis von acht Lichtsäulen, die viel größer und erhabener waren als die beiden Lichtgestalten zur Rechten und zur Linken Tom Bombadils. Die beiden gaben ihn frei, zogen sich zurück und eröffneten so einen ungehinderten Blick auf die acht Lichtinkarnationen der Aratar, die auf dem Gipfel eines Berges in einem weiten Kreis um Tom herum standen. Denn das waren sie – die Aratar, die acht höchsten der Valar, die sich versammelt hatten, um Gericht über den kleinen, unscheinbaren Mann in ihrer Mitte zu halten. Doch dieser schien bei weitem nicht so eingeschüchtert oder auch nur beeindruckt zu sein, wie dies normalerweise zu erwarten gewesen wäre. Er blickte die pulsierenden Lichtsäulen ruhig abwartend an und schien doch weiter sehen zu können als es dem menschlichen Auge eigentlich erlaubt ist.

„Das Dritte Zeitalter ist an sein Ende gelangt und es ist ein bitteres Ende, das ihm nun bereitet wird,“ sprach eine der Erscheinungen, „ein Ende, welches zu beeinflussen Du die Möglichkeit hattest. Doch Du standest abseits, wo Deine Macht Dir Verpflichtung war, zu helfen. Doch wollen wir nicht urteilen, ohne Dir die Möglichkeit zur Rechtfertigung zu gewähren.“

Leise, aber ohne Angst, mit einer nur von Trauer gefärbten Stimme, entgegnete Tom, „So nah bei Eru und doch so wenig Vertrauen?“

Die Stimme ging auf diesen Einwand nicht ein und fuhr fort, „Wisse also wessen Du beschuldigt wirst. Die Mächtigen in Valinor besitzen zwar keine Erlaubnis mehr, in Mittelerde einzugreifen, doch wissen wir immer um die unsrigen. Die Essenz des Feindes, der einst zu uns gehörte, ist nun an den Einen Ring geschmiedet, dessen Schicksal das Schicksal der Welt in diesem Zeitalter bestimmen wird. Aus diesem Grund wissen wir auch ständig, wo der Ring sich befindet und was mit ihm geschieht. Wir wissen deshalb auch, dass er in Deinen Händen war als die Schar der kleinen Leute in Deinem Hause zu Gast war. Und wir wissen, was Du mit dem Ring machtest: Wir wissen, dass Du den Einen trugst, ohne unsichtbar zu werden. Wir wissen, dass Du den Einen trugst, ohne unter seinen Einfluss zu gelangen. Wir wissen, dass Du den Träger des Einen sehen konntest, als er für Dich hätte unsichtbar sein müssen. Wir wissen nicht, wer Du bist oder wie Dir dies gelingen konnte, doch eines ist klar: Der Eine Ring hat keine Macht über Dich! Doch was hast du daraus gemacht? Du hättest ihn einhegen können als die Klinge des Hexenkönigs Frodos Herz nur knapp verfehlte! Du hättest ihn auf verborg´nem Pfad gefahrlos tragen können, wo die Gemeinschaft versagte. Du hättest ihn vor dem Geschöpf Gollum zu verbergen vermocht, als es die Getreuen auf den Pass von Cirith Ungol führte. Was hast Du dazu zu sagen?“

„Zuerst aber will ich wissen, wer Du bist, Tom Bombadil“, dröhnte eine weitere Stimme ungeduldig wie wenn der Schmiedehammer auf dem erkaltenden Eisen tanzt.

„Ich bin“, antwortete Tom.

„Was ist das für eine Antwort?“

„Ich bin.“ wiederholte Tom tonlos.

„Soso, er ist also“, mischte sich eine dritte Stimme ein. „Wie aufschlussreich. Man sagt auch, dass Du behauptest, der Älteste zu sein. Man sagt, dass Du vor dem Fluss und vor dem ersten Baum da warst. Man sagt Du seist der ‘Meister’ und dass Du den ersten Regentropfen ebenso wie die erste Eichel fallen sahst.“

„Das stimmt“, blieb Tom einsilbig, aber bestimmt.

„Und wie kann das sein? Wir Valar waren wirklich von Beginn an da und kennen Dich doch nicht. Oromë, unvergleichlicher Jäger, keiner kennt das Land wie Du. Sahst Du Tom Bombadil auf Deinen Wanderungen?“

„Nein“, antwortete eine vierte volltönende Stimme, „ich sah ihn nie und hörte niemand von ihm reden.“

„Yavanna, Du kennst und liebst alles, was da lebt. Ist Dir etwa Kunde von Tom Bombadil zugetragen worden?“

„Nein,“ antwortete eine fünfte Stimme und fuhr fort, „Doch frage ich mich, wie er der Älteste sein will, waren doch wir, die Elben und andere von Beginn an da.“

„Man sagt auch,“ fiel wiederum die erste Stimme ein, „dass Du dich den Vaterlosen nennst. Und doch sind wir alle nur Kinder des Einen, wir sind alle Kinder Erus. Behauptest du vielleicht Gottvater gleich, ja Gottvater selbst zu sein?“

Das erste Mal zeigte Tom da eine Reaktion – er schien aufs Äußerste bestürzt zu sein. „Nein, nein, niemals würde ich eine solche Blasphemie aussprechen, noch habe ich das damit gemeint, als ich angab, vaterlos zu sein. Nichts liegt mir ferner – wenn ich nur eine Gewissheit besitze, dann die, dass wir alle Kinder Gottes sind! Die einzige Schöpferkraft, die uns innewohnt, ist die der Zweitschöpfung, in bloßer Anlehnung des Vorbilds, das uns durch Gott gegeben ist.“

„Wer also bist du?“

Keine Antwort.

Das Gleißen der Lichtsäulen vervielfachte sich und ließ den kleinen Tom nackt und schutzlos dastehen. Doch wirkte er nicht wirklich eingeschüchtert und auch dass er den Blick zu Boden gerichtet hielt, schien weniger in Angst, denn in Ratlosigkeit gegründet, und als kämpfe er mit sich, wisse aber nicht, was er tun solle.

„Was kümmert es, wer er ist,“ ertönte da die Stimme wieder, deren Klang an einen Hammer gemahnte, „rechtfertigen soll er sich, für die unterlassene Hilfe. Wicht, stehst du auf des Feindes Seite oder gehörst du zu den Getreuen?“

„Ist Eure Welt so klein geworden, dass Ihr nurmehr in Begriffen von Schwarz und Weiß denken könnt? Dann hat wohl wahrlich Vergessen das Geschlecht der Valar erfasst,“ antwortete Tom leise.

„Nein, wir haben nicht vergessen,“ warf die fünfte Stimme, Yavannas Stimme, sanfter ein, „doch mag es sein, dass die Liebe zum Leben und zum Schönen uns den Blick trübt und uns nach Vergeltung verlangen lässt, wo wir selbst nicht mehr eingreifen dürfen. Verstehst Du überhaupt, um was es in der Welt nun geht, Tom?“

„Ich verstehe genau, doch scheint mir Euer vermeintliches Verständnis getrübt. Wo bleibt nur Euer Vertrauen?“

„Lenke nicht ab,“ mischte sich die erste Stimme, Manwes Stimme, wieder ein, „und rechtfertige dich.“

„Das kann ich nicht.“

„Du gibst deine Schuld zu?“

„Nein, es ist nicht Schuld, die mich trifft, es sei denn, dass diese Welt selbst schuldig wäre.“

„Was soll das nun wieder heißen? Welche Vermessenheit lässt Dich deine Person und die Welt gleichsetzen?“

Wieder fuhr hammergleich eine Stimme dazwischen, „Und wieder setzt er sich an des Schöpfers Statt!“

„Das tue ich nicht!“, nur bei dieser Anschuldigung trat Leidenschaft in Toms Stimme und in seine Augen, die nun nicht mehr zu Boden, sondern auf die Lichtsäulen gerichtet waren. „Es gibt nur einen Schöpfer, dem alles, was ist, sein Dasein verdankt. Doch euer Verdacht ist nicht unverständlich. Es ist nur … anders. Seht doch! Wenn ich an jener Stelle, als die Hobbits in meinem Hause zu Gast waren. Wenn ich da eingegriffen hätte, dann wäre alles nicht passiert, was nun geschieht.“

„Nichts anderes, als das all das nicht geschehen wäre, was nun passiert. Das ist, was man von dir verlangen musste. Du hättest das Zeitalter damit gerettet.“

„Nein, ich hätte es nicht gerettet, ich hätte es verhindert. Es wäre nie geschehen, das ganze Zeitalter wäre nicht geschehen. Alles hängt davon ab, dass …“

Tom rang sichtlich mit den Worten als plötzlich ein Zittern durch die acht Lichtgestalten ging, die im gleichen Augenblick den geheimnisvollen Mann in ihrer Mitte vergessen hatten. Denn genau in diesem Augenblick belauschte Sam das Gespräch der Orks und erfuhr, dass Frodo gar nicht tot war. Es war dieser Augenblick, wegen dessen der Ring doch noch seinen bestimmungsgemäßen Träger fand, dass die Hoffnung der Valar wieder aufflammte und sie den Berggipfel verlassen ließ.

IV

Auch Tom verblasste nun langsam. Wäre noch jemand da gewesen, der seine Aufmerksamkeit auf den kauzigen kleinen Mann gerichtet hätte, so hätte er Tom murmeln hören, „Wie hätte ich es auch sagen können. Hätten sie begriffen, dass sie nur Träume in meinem Traum sind? Dass ich selbst ein Traum in meinem Traum bin – nie hätten sie das verstanden. Doch diese zweite Welt ist so reich und die erste wird immer ärmer. Ist es da wirklich vermessen, dass ich uns ein kleines, unbedeutendes Haus im Paradies erbaute?“

Dann war auch der kleine Mann verschwunden und auf dem Berggipfel blieb einzig ein Blatt zurück, das wohl von Toms Kleidung gefallen sein musste.

Fulda, 10/05