Ein kurzer, subjektiv eingefärbter Abriß der Geschichte Mittelerdes
Editionen und Historie
© Frank Weinreich
I
Natürlich kann man den HdR völlig ohne Hintergrundinformationen verstehen. Der Zyklus stellt eine wunderbare eigenständige Erzählung dar, die in sich verständlich und abgeschlossen ist. Wie wir jedoch in der Einleitung über “Tolkien, das neue Element in der phantastischen Literatur” sahen, nahm Tolkien die Geschichte, die er erzählt und die Welt, in der er sie ansiedelte außerordentlich ernst, gab er doch an, die Geschichte nicht zu erfinden, sondern sie aufzuzeichnen.
So ist denn die Handlung des HdR eingebettet in einen größeren Rahmen, die in anderen Werken Tolkiens beschrieben werden, die sich mit Mittelerde befassen – einer Welt, deren Wesen Dufau zu Recht als fehlerlose Kohärenz in geographischer wie historischer Hinsicht charakterisiert (Dufau 2005, 107) und die man wohl als die “reichste und am weitesten ausgestaltete imaginäre Weltenschöpfung der bisherigen Fantasyliteratur” bezeichnen kann (Görden 1988, 205). Das wichtigste Buch neben dem HdR für diesen Zusammenhang ist das Silmarillion. Das S ist allerdings viel weniger eine zusammenhängende Erzählung als der HdR. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Ansammlung von Kurzgeschichten, Fragmenten und Notizen, die in der vorliegenden Form von Tolkien selbst gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren und die er größtenteils noch vor dem HdR verfaßte. Humphrey Carpenter berichtet, daß Tolkien mit der Arbeit an ersten Teilen des S schon im Jahr 1917 begonnen hat. Das war immerhin 20 Jahre vor der Veröffentlichung des kH 1937 und 37 Jahre bevor der HdR 1954 erschien.
Sein Sohn Christopher hat die Geschichten des S geordnet, nachbearbeitet und lange nach J.R.R.´s Tod herausgegeben. Man kann davon ausgehen, daß der wesentliche Anlaß für die Erstellung des S war, daß Tolkien sich damit seiner Zweitschöpfung selbst vergewissern und sie systematisieren wollte. Das S erzählt von der Erschaffung Mittelerdes und seiner Geschichte bis zu den Geschehnissen, die zum HdR führen. Bei aller Größe der Ereignisse, die im HdR berichtet werden, erscheinen sie vor der Geschichte des S doch nur als eine Facette im ewig dauernden Kampf zwischen Gut und Böse. Im S sind die Heere zahlreicher, die Schlachten blutiger und die gebrachten Opfer größer. Und der Beginn des S mit der tolkienschen Schöpfungsgeschichte sowie die Erzählung von Eärendils Zorn weisen darauf hin, daß der Kampf bis zum Ende aller Tage, also auch nach dem Ende des Ringkrieges, weitergehen wird: “… von Zeit zu Zeit treibt [das Böse] neue Sprossen und wird [seine] dunkle Frucht tragen bis zum letzten Tage” (S, 282). Trotzdem stellt der HdR aufgrund seiner inneren Geschlossenheit natürlich die fesselndere Geschichte dar.
In die gleiche Richtung gehen die beiden Bände mit den verlorenen Geschichten aus Mittelerde. Diese sind allerdings noch fragmentarischer als das S und am ehesten für Leser von Interesse, die akribische Spurensuche in auch noch den kleinsten Geschichtsfitzelchen treiben wollen. Das S leistet allerdings den entscheidenderen Beitrag zum Verständnis des Umfanges der “Zweitschöpfung” Tolkiens.
Eine weitere Erzählung aus Mittelerde ist die Geschichte des kleinen Hobbit. Sie spielt direkt vor den Ereignissen, die im HdR beschrieben werden und führt einige der Akteure sowie den Ring selbst ein. Der kH weist noch nicht die epischen Ausmaße der großen Erzählung auf und ist auch eher als Kinder- und Jugendbuch geschrieben. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine wunderschöne, gar nicht so kleine Geschichte. Da in ihr einige Grundlagen für den HdR gelegt werden, werde ich die Handlung nach diesen Ausführungen zur Geschichte von Mittelerde zusammenfassen und kurz vortragen. Vom kH gibt es eine liebevolle und völlig textgetreue Adaption als Comic von Charles Dixon mit Zeichnungen von David Wenzel, die auf jeden Fall zu empfehlen ist.
Die weiteren, besonders in deutscher Sprache erschienenen Bücher Tolkiens, in denen von Mittelerde berichtet wird – denn Tolkien hat auch andere Geschichten, Aufsätze und Bücher geschrieben – sind Exzerpte aus dem S und den verlorenen Geschichten. So ist bspw. das schmale Büchlein Feanors Fluch aus dem dtv nur ein Auszug aus dem S. Für diese Bücher gilt, daß sich die Anschaffung in der Regel nicht lohnt, außer evtl. um sie zu verschenken und so jemanden auf den Geschmack zu bringen. Obwohl ich dann immer den kleinen Hobbit empfehlen würde, der auch preiswert erhältlich ist.
Schließlich muß man bei einer weiteren Kategorie von Büchern aufpassen, auf denen zwar Tolkien draufsteht, aber kein Tolkien enthalten ist. Eine ganze Reihe von Kurzgeschichtensammlungen ist zu Ehren von Tolkien oder in Anlehnung an ihn und Mittelerde aufgelegt worden oder erzählt sogar Geschichten aus Mittelerde, die gar nicht von Tolkien stammen. Aus Marketinggründen prangt Tolkiens Name meist sehr groß auf den Einbänden und man muß schon genau hinsehen, um den Zusatz “zu Ehren von” und die Namen der eigentlichen zu lesen. Die Geschichten sind auch nicht zwangsläufig schlecht – aber es ist eben kein Tolkien.
II
Nun aber zur Geschichte von Mittelerde.
Mittelerde, die Welt, in der die Erzählungen und Fragmente des S spielen, in welcher von der Reise des H berichtet wird und die ihren Höhepunkt in der epischen Erzählung vom HdR findet, ist eine logische und konsistente Schöpfung J.R.R. Tolkiens mit einer eigenständigen Geographie, Umwelt, Anthropologie (ich schließe hierin alle vernunftbegabten Wesen Mittelerdes als anthropoi ein), Soziologie und Geschichte.
Die Geschichte beginnt in biblischem Ausmaße mit einer echten Schöpfungsgeschichte. Gott, der im S Eru oder Ilúvatar heißt, ist ewig da und existiert vor dem Anbeginn alles anderen. Er schöpft mit seinem Willen alles das, was ist. Zunächst sind dies die Ainur. Tolkien nennt sie auch “die Heiligen” und sie gleichen sehr den Engeln der christlichen Mythologie. Tolkien hat nie geschrieben, wieviele Ainur es gab, doch dürfte es sich um eine recht begrenzte Zahl von Wesen handeln, von denen später nur vierzehn namentlich erwähnt werden und eine Rolle spielen. Den Ainur wird eine Vision Ilúvatars von einer Welt zuteil, die sie selbst, aber nach seiner Partitur, durch Musik erschaffen. Diese Welt ist Mittelerde. Von Anbeginn ist diese Schöpfung mit der Kluft zwischen Gut und Böse erfüllt. Von Anfang ist Dis-sonanz in der Schöpfungsmusik.
Der begabteste und mächtigste der Ainur nämlich ist vom Drang beseelt etwas eigenes, von Ilúvatar unabhängiges und Schöneres zu schaffen, das ihm allein gehört. Dieser Ainur heißt Melkor und wird später in Morgoth, was “dunkler Feind der Welt” heißt umbenannt. Von ihm geht alles Böse aus und auch der böse Herr der Ringe na-mens Sauron ist nur sein Statthalter. Ilúvatar hat dies natürlich voraus gesehen und läßt das Böse – genau wie der christliche Gott – zu, um dem freien Willen der Menschen Sinn zu verschaffen. An dieser Stelle treffen wir auf das deutlichste Zitat aus unserer wirklichen Welt, das Tolkien benutzt, denn diese Schöpfungsgeschichte folgt natürlich der christlichen Schöpfungsmythologie mit Ausnahme des Gedankens der creatio ex musica auf das Genaueste.
Nach der Erschaffung der Welt aus Musik, beginnt nach kurzer Zeit der Kampf um sie. Einige der Ainur, die im Folgenden in Valar und Maiar differenziert werden, begeben sich auf die Welt, um dort zu leben, denn sie wissen aus der Vision das andere Lebewesen geschaffen werden würden, die Kinder Welt. Aus Liebe zu ihrer Vision, möchten die Valar die Welt mit diesen Kindern teilen. Mittelerde ist zu dieser Zeit ein Paradies, um das Melkor bzw. Morgoth, der dunkle Feind, die Valar beneidet und um das er mit den Valar Krieg führt.
Der erste Krieg endet damit, daß Melkor in den Norden Mittelerdes exiliert wird und daß die Valar und Maiar einen paradiesischen Teil der Welt durch einen Ozean vom Rest abtrennen. Dieser Teil liegt zwar noch physikalisch auf Mittelerde, gehört aber schon nicht mehr ganz dazu. Das sieht man auch daran, daß Mittelerde in der Sprache der Elben Endor genannt wird und der Teil, in dem die Valar und Maiar leben Valinor heißt. In diesem Teil leben die meisten von ihnen von nun an und besuchen den Rest nur zeitweise.
Nun wird Mittelerde von den Kindern Ilúvatars bevölkert. Damit beginnt das erste Zeitalter. Zuerst kommen die Elben oder Elfen, menschenähnliche aber unsterbliche Wesen, sodann Zwerge, Menschen, Hobbits und eine ganze Vielfalt von Geschöpfen, von denen viele mit Verstand und Sprache begabt sind. Die Lebewesen sind direkte Schöpfungen Ilúvatars. Sie wurden nicht von den Ainur geschaffen und haben diesen gegenüber einen autonomen, freien Willen. Sie sind auch nicht zu Gehorsam verpflichtet, sondern sollen von der Einsicht in das Richtige geleitet werden. So kommt es, das diese Wesen auch mißgeleitet werden und dem Bösen anheim fallen können. Nur den Elben ist es übrigens erlaubt, in den Teil der Welt zu gelangen, in dem die Valar und Maiar leben. Die Sterblichen, so die typisch christliche Vision, werden erst am Ende aller Tage in den Gnadenstand erhoben und bei den Valar leben dürfen. Daneben gibt es eine zweite Gruppe von Wesen die von Melkor, der nun nur noch Morgoth genannt wird und seinen weltlichen Statthaltern wie Sauron geschaffen wurden. An erster Stelle sind hier die Orks zu nennen. Diese Wesen sind völlig böse und haben insofern auch keinen freien Willen. Sie sind fehlerhafte Nachäffungen der durch Ilúvatars Vision er-schaffenen Lebewesen. Auf die verschiedenen Lebewesen auf Mittelerde gehe ich aber in einem weiteren Vortrag noch ein.
Die Geschichte Mittelerdes wird weiter durch den Gegensatz von Gut und Böse bestimmt. Sie ist eine bis zum HdR führende Kette von Kriegen zwischen Morgoth und den Valar bzw. Morgoth und seinen Kreaturen und den Kindern von Mittelerde. An dieser Stelle hat es wenig Sinn, die siebenundzwanzig Kapitel des Silmarillion zu rekapitulieren. Tolkien reiht hier viel-gestaltige Geschichten aneinander, die große Ähnlichkeit mit dem abendländischen Sagen- und Geschichtenfundus haben. Beispielsweise die Geschichte von Feanors Fluch. Im übertra-genen Sinne ist der Fluch seine eigene Überheblichkeit, die die Elben unausweichlich ent-zweit und in die Katastrophe führt. Diese Unausweichlichkeit hat den gleichen Zug wie die klassische griechische Tragödie. Die Heldentaten, von denen zuhauf berichtet wird gleichen denen von Siegfried und Dietrich von Bern. Die Verrätereien, die begangen werden, erinnern an die Handlungen eines Hagen von Tronje oder des bösen Zwergenkönigs Alerich. Die Ge-schichte von Beren Halbhand und Luthién Tinuviél, die Euch auch im HdR begegnen wird, zeigt sogar drei Motive. Einerseits das Romeo und Julia-Motiv der unglücklichen weil gesell-schaftlich geächteten Liebe. Dann das klassische Märchenthema einer Liebe zwischen Sterb-lichen und Unsterblichen, bei dem die Unsterbliche ihre Unsterblichkeit aus Liebe aufgibt. Und drittens das Thema von Orpheus und Eurydike, nur das diesmal die Frau, den Herrscher des Totenreiches dazu überreden muß, den Geliebten ins Leben zurück zu lassen.
Die Geschichten des Silmarillion laufen auf einen kataklysmischen Höhepunkt hinaus. Nach vielen Tragödien und Schlachten in mehreren Jahrtausenden sehen die Valar ein, daß die Kinder von Mittelerde nicht gegen Morgoth bestehen können, denn Morgoth hat die mei-sten Helden getötet und eine unglaubliche Streitmacht um sich versammelt, um mit ihr die Welt zu überrennen. Die Valar verlassen ein letztes Mal ihre paradiesische Abgeschiedenheit und ziehen in den Norden Mittelerdes, in dem Morgoth seine riesige Festung hat. In der gigantischsten Schlacht aller Zeiten wird Morgoth geschlagen und seine gesamte Streitmacht vernichtet. Morgoth selbst wird nicht vernichtet, sondern “durch das Tor der Nacht, aus den Mauern der Welt hinaus in die zeitlose Leere” (S, 281) gestoßen.
Mit der endgültigen Verstoßung Morgoths endet das erste Zeitalter.
Das zweite Zeitalter kann man wahlweise als das große Zeitalter der Menschen oder als das Zeitalter Saurons ansehen. Die Elben waren in großer Mehrheit den Valar nach Valinor gefolgt, so daß nur eine Minderheit auf Mittelerde zurückbleibt. Die Zwerge und anderen Geschöpfe hatten sich nach dem ersten Zeitalter weitgehend auf sich selbst zurückgezogen und den Menschen die Welt überlassen. Die Menschen jenes Zeitalters werden von Tolkien überlebensgroß geschildert, sie sind langlebiger, kräftiger und klüger als die Menschen zu Zeiten des HdR. Aber sie sind auch aufbrausender und überheblicher und das Böse kann in ihnen leicht wieder Fuß fassen. Morgoths engster Vasall, ein Maia namens Sauron hatte die Valar überzeugen könne, daß er dem Bösen abgeschworen habe und konnte sich auf Mittelerde ver-stecken. Als die Valar weg waren schlich er sich mit falschen Absichten in die menschlichen Machtzentren und konnte viele Leute auf seine Seite bringen, bis es ihm gelang die Insel Numenor, das damalige Zentrum Mittelerdes, unter seine Herrschaft zu bringen. Von hier aus versuchte Sauron den Rest der Welt zu unterjochen. Dies jedoch wollten die Valar nicht zulassen. Allerdings hatten sie nach dem Sieg über Morgoth beschlossen, nicht mehr auf der Welt einzugreifen, also wandten sie sich an Ilúvatar um Hilfe. Ilúvatar half, indem er Numenor im Meer versinken ließ und Saurons Inkarnation tötete – jedoch nicht seinen Geist.
Nach dem Untergang von Numenor trennen die Valar und Maiar ihren Lebensraum Valinor auch physikalisch von Mittelerde. Es heißt bei Tolkien, daß die Erde dadurch ihre Kugelform erhält. Sie wurde nun rund geschaffen und der Weg nach Valinor wird als der gerade Weg bezeichnet. Nur die Elben dürfen noch, wenn sie des Lebens auf Mittelerde müde ge-worden sind, den geraden Weg beschreiten und direkt ins paradiesische Valinor übersetzen. Alle anderen Schiffe können endlos Richtung Osten segeln und werden doch kein Land finden wo einst Valinor lag, sondern nur “einen Kreis um die Erde beschreiben” (S, 309).
Sauron aber nahm eine neue Form an und schlich sich unter die Elben, von denen er die Schmiedekunst erlernte. Als er genug gelernt hatte machte er sich daran, den einen Ring zu schmieden. Was hieraus folgte, wird aber auch im HdR erzählt und ich möchte nicht zu sehr vorgreifen. Am Ende des zweiten Zeitalters stellten sich die vereinigten Heere der Menschen, Elben und Zwerge Sauron auf der Ebene von Dagorlad im “Letzten Bund” zur Entscheidungsschlacht. Sauron wird geschlagen und der eine Ring geht verschollen. Hiermit endet das zweite Zeitalter.
Der HdR spielt am Ende des dritten Zeitalters, über das es über den kH und den HdR hinausgehend nicht viel zu berichten gibt, außer das Mittelerde nicht viel anders war als die reale Welt – nur ein bißchen phantastischer. Denn eigentlich suchen Elben, Menschen, Zwerge und Hobbits nur, in Frieden zu leben, ohne daß es ihnen – außer den Hobbits – jemals nachhaltig gelingt. Denn eines wird bald klar – Sauron hat wiederum überlebt und beginnt schon bald mit neuen Ränken. Mittelerde steht ihm diesmal aber mit noch viel weniger Elfen und ohne die Hilfe der Valar gegenüber. Allerdings tauchen ungefähr im Jahre 1000 des dritten Zeitalters die Zauberer auf. Darunter ein alter Mann namens Gandalf, der unter vielen Namen in der Welt bekannt ist und den man “früher im Westen” Olórin nannte … und als Olórin war am Anfang der Zeit einer der Maia bekannt …
Mit Gandalfs Auftritt beginnt die Handlung des Hobbit, die in den großen Ringkrieg führen wird.
(F.W., Bochum 10/99)