Die Geographie von Mittelerde.

Der historische Atlas von Mittelerde
von Karen Wynn Fonstad.

© Frank Weinreich


 

Die Bücher über Mittelerde zeichnen eine bis ins einzelne durchdachte und in sich stimmige Welt, deren Wesen Dufau zu Recht als fehlerlose Kohärenz in geographischer wie historischer Hinsicht charakterisiert (Dufau 2005, 107). Die ganze Komplexität und die innere Geschlossenheit erkennt man am deutlichsten, wenn man einmal aus einem anderen Blickwinkel auf diese phantastische Welt blickt.

 

Einen solchen Einblick gewährt der Historische Atlas von Mittelerde der amerikanischen Geographin Karen Wynn Fonstad.


 

Der Titel zeigt schon, daß es sich dabei nicht um eine bloße Kartensammlung handelt, sondern daß die Historie von Mittelerde im Zentrum des Buches steht. Fonstad erzählt die Geschichte Mittelerdes vom Silmarillion ausgehend bis zum Ende des Ringkrieges. Sie verwertet Material aus dem Buch der verlorenen Geschichten, dem H und den größten Raum nimmt natürlich der HdR ein. Zu allen Ereignissen werden detaillierte Karten geliefert und der Begleittext erzählt die Geschichten aus den Büchern zusammenfassend, aber vollständig nach. Fonstad behandelt die Werke Tolkiens dabei mit größtem Respekt. Sie nimmt Mittelerde genauso ernst wie Tolkien selbst dies getan hat. Die Autorin ist – wie gesagt – ausgebildete Geographin und hat sich auf Kartographie spezialisiert. Der Atlas ist dementsprechend von einer kompetenten Autorin nach allen Regeln der Wissenschaft aufgebaut. Fonstad gibt an, woher die Beschreibungen stammen, nach denen sie die Karten gezeichnet hat. Sie weist die Stellen aus, die unklar sind und zeigt, wo sie auf Mutmaßungen angewiesen war. Alle Jahresangaben sind belegt. Die Chronologie der Ereignisse wird genauestens beachtet. Jede Angabe zu Reisewegen oder Heerzügen und Schlachtordnungen läßt sich an dem Originaltexten einwandfrei überprüfen. Fonstad behandelt die Fiktionen Tolkiens so, als ob es sich dabei um echte historische Geschehnisse gehandelt hätte. Insgesamt hat sie über zehn Jahre an dem Atlas gearbeitet bis er in seiner heutigen Form vorlag. Die Autorin scheint sich übrigens vollständig auf fiktionale Geographie verlegt zu haben: Neben dem Atlas von Mittelerde gibt es von Fonstad mittlerweile noch drei weitere historische Atlanten, die sich in der gleichen Weise anderen Fantasy-Welten widmen. Dabei handelt es sich um Atlanten der Welten Krynn und Toril, die auf den Fantasy-Rollenspielsystemen der „Drachenlanze“ und der „Vergessen Königreiche“ beruhen und um den Atlas von Pern, der Welt auf der die Abenteuer der Drachenreiter von Anne MacCaffrey spielen. Die ersten beiden Atlanten kenne ich aus eigener Anschauung und halte sie für ähnlich gelungen wie den von Mittelerde.

Doch zurück zu Mittelerde und dem anderen Blick, den der historische Atlas erlaubt. Zum einen ermöglicht die bildliche Darstellungsform natürlich eine bessere Orientierung. Man kann den Atlas parallel zur Lektüre des HdR aufschlagen und sich so plastisch vor Augen führen wie sich die Handlung entwickelt. Spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem sich die Gefährtengruppe des Ringes trennt, ist es nämlich nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten, wenn das eine Paar in Richtung Mordor zieht, das andere Paar Richtung Isengart entführt wird und sich der Rest der Gruppe mal hierhin und mal dorthin bewegt. Das Beispiel der Trennung der Gefährten im HdR zeigt zum anderen aber auch die innere Geschlossenheit des Werkes auf. Beim Blättern im Atlas sieht man erst richtig, wie genau Tolkien es mit der Abfolge der Ereignisse genommen hat. Wenn von Frodo und Sam berichtet wird, daß sie beim nächtlichen Lager den Vollmond sehen können, so kann man sicher sein, daß Tolkien einhundert Seiten vorher daran gedacht hat, daß über dem Lager von Legolas, Gimli und Aragorn am gleichen Tag auch ein voller Mond zu sehen ist. Das sind natürlich nur Details – aber gerade die Exaktheit in den Details vermittelt einen Eindruck davon, wie ernst Tolkien seine Zweitschöpfung genommen und wie akribisch er daran gearbeitet hat. Das ist zumindest mir erst bei der Lektüre des Atlanten so richtig aufgefallen. Auch die Größe und Komplexität Mittelerdes ist mir erst durch die Aneinderreihung der Karten in Fonstads Buch ganz bewußt geworden.

Die Mittelerde, die Leser und Hörer im H und im HdR kennenlernen, ist eine vergleichsweise kleine Welt. Alle Ereignisse spielen sich in einem Gebiet ab, das etwa 2500 km von Westen nach Osten und 1700 km von Norden nach Süden mißt. Eine Karte des Gebietes liegt im übrigen allen Ausgaben des HdR in mehr oder weniger detailreicher Form bei. Vom Westen wird im HdR nur berichtet, daß dort ein Ozean liegt und daß die Elben in diese Richtung fahren, wenn sie Mittelerde verlassen. Der Norden geht in eine arktische Landschaft über und im Osten und Süden liegen Länder, über die man kaum etwas erfährt.

Wenn man das S hinzuzieht wird Mittelerde sehr viel größer – und man erfährt schnell, daß Mittelerde nur die Bezeichnung für einen Teil der Welt darstellt. Die ganze Welt heißt Arda. Bei ihrer Erschaffung war sie noch flach und auf allen Seiten von Meer umgeben, das in eine nicht näher definierte äußere Leere überging. Im Osten von Arda liegt ein nicht weiter beschriebenes „Land der Sonne“ und im Westen die Ebene von Valinor auf der die Ainur und einige der Elbenstämme leben. Dazwischen liegt Mittelerde, dessen elbischer Name Endor ist. Hier leben die sterblichen Völker und ein großer Teil der Elben. Mittelerde ist im Osten und Westen durch tausende Kilometer von Meer vom Land der Sonne und der Ebene von Valinor getrennt. Im Norden besteht eine unpassierbare Landverbindung zu Valinor, über den Süden ist nichts bekannt. Die Weltkarte erinnert in vielem an eine radikal euopazentrierte Karte unserer Welt, die über Asien und Afrika fast nichts aussagt und den amerikanischen Kontinent schon fast der Welt entrückt.

Das ist die grundsätzliche Form von Tolkiens Welt im ersten und zweiten Zeitalter. Die Kriege mit Morgoth verändern Mittelerde allerdings immer wieder stark und am Ende des ersten Zeitalters reißt die Landverbindung zu Valinor ab. Jedoch erst mit Beginn des dritten Zeitalters erhält die Welt ihre runde Form. Valinor wird jetzt der Welt entrückt und befindet sich nicht mehr auf der gleichen Existenzebene wie Mittelerde. Mittelerde liegt auch nicht mehr in einer irgendwie definierten Mitte. Die Angaben Tolkiens erlauben es nicht mehr, eine richtige Weltkarte zu erstellen. Fonstad kann im Westen nur noch ein endloses Meer einzeichnen und in Norden, Osten und Süden eine kompakte, aber inhaltsleere Landmasse.

Alle Ereignisse finden jetzt in dem eng umgrenzten Gebiet zwischen der Küste im Westen und Mordor im Osten statt. Dazu hat Fonstad liebevoll ausgestattete Regionalkarten gezeichnet, die alle Ereignisse wiedergeben. Die Reisewege aller Personen sind mit kompletten Datumsangaben eingezeichnet. Die Chronologie wird tabellarisch aufgelistet. Man erfährt dadurch auch so nebenbei, daß alle Ereignisse auch wirklich genauso stattgefunden haben könnten und daß Tolkien hat sich auch in dieser Beziehung viel Mühe gegeben hat. Heere ziehen mit aller Langsamkeit, die sie in einer vorindustriellen Welt nur erreichen konnten. Die Gruppen, die zu Fuß reisen, bewältigen realistische Strecken. Und Phantastisches, wie der Ritt Gandalfs auf dem sagenhaften Pferd Schattenfell bleibt phantastisch in seiner Geschwindigkeit.

Den letzten Teil des Atlas von Mittelerde macht eine Sammlung thematischer Karten aus, die sich ganz im Stile eines Atlanten unserer realen Welt mit Landschaftsformen, Vegetation, Klima, Sprachverbreitung und Bevölkerungsstruktur beschäftigt. Auch diese Karten beruhen einzig auf den Originalwerken Tolkiens und zeigen noch einmal eindrucksvoll wie stimmig und durchdacht die Welt ist.

Der Atlas von Mittelerde ist eine wunderbare Ergänzung zu den Büchern über Mittelerde und stellt eine anspruchsvolle Leistung seiner Autorin dar, die man mit Fug und Recht als wissenschaftlich bezeichnen kann. Aber der meiner Meinung nach stärkste Eindruck, den er hinterläßt, ist der des Respektes für das schöpferische Werk des geistigen Vaters von Mittelerde.


 

Einen weiteren, günstigeren, Atlas gibt es von Barbara Strachey Journeys of Frodo (Strachey 1998). Dieses Buch beschränkt sich mit detaillierten 3-farbigen Karten auf die Wege der Neun Gefährten durch Mittelerde und kann an Informationsumfang mit Fonstads Atlas nicht mithalten.

(Bochum 10/99)