Totalitarismus
© Frank Weinreich 05/02
Bei diesem Artikel handelt es sich um die deutsche Fassung eines Lexikonartikels, den ich für das Dictionnaire du Monde germanique geschrieben habe. (Weinreich, Frank: Totalitarisme. In: Decultot, Elisabeth/ Espagne, Michel/ Le Rider, Jacques (ed.): Dictionnaire du Monde Germanique. Paris: Edition Bayard 2007. 1133 – 1134.) Der Artikel steht in engem Zusammenhang mit dem umfangreicheren Aufsatz über Hannah Arendts Kritik der Ideengeschichte auf dieser Seite.
I. Begriff und Geschichte
Der Begriff des Totalitarismus in der politischen Theorie geht zurück auf den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini, der den „stato totalitario“ mit folgenden Worten präzise kennzeichnete: „Alles für den Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat“. Trotz einer nicht immer einheitlichen Charakterisierung des Totalitarismus in der politischen Theorie kann man festhalten, dass er durch die völlige propagandistische Gleichschaltung aller Lebensbereiche aller Gesellschaftsmitglieder auf ein als ‚wahr‘ erkanntes Ziel gekennzeichnet ist und die Freiheit von Gruppen wie Individuen unterdrückt, die sich und ihr Handeln dem Ziel nicht widmen. Bei dem Ziel handelt es sich dann meist um ein höheres, aber im Diesseits angelegtes Heil, dessen Verwirklichung die auserwählte Gruppe bzw. die ganze Menschheit einer Art Erlösung auf Erden nahebringt. Der Weg dorthin rechtfertigt alle Mittel und die totalitäre Gesellschaft befindet sich permanent auf diesem Weg – der Totalitarismus ist immer auch Bewegung (Arendt, Elemente). Seine Merkmale sind (1) die umfassende Ideologie, (2) eine Ein-Parteien-Regierung mit einer Führerpersönlichkeit, die den gesamten Apparat auf sich zuschneidet, (3) der „permanente“ (Arendt, Elemente, 29) Terror als Herrschaftsinstrument, (4) ein Medien- und Informationsmonopol, (5) ein Waffenmonopol und (6) eine zentral gelenkte Wirtschaft (vgl. Friedrich/ Brzezinski).
Es herrscht in der Totalitarismusforschung keine Einigkeit darüber, ob dieser nur eine Fortführung autoritärer Regierung mit modernen Mitteln ist, oder ob es sich um ein neues, von den klassischen Herrschaftsformen zu unterscheidendes System handelt.
So wird bspw. diskutiert, ob es sich beim klassischen Sparta nicht schon um ein totalitäres System gehandelt habe. Auch wird Rousseau und seiner Annahme eines allgemeinen Willens im „Contrat Social“ vorgeworfen, den Totalitarismus zu legitimieren, den Robespierre dann in die Tat umgesetzt habe. Dies tut meiner Meinung nach Rousseau aber Unrecht und dichtet der französischen revolution Mittel in die Hand, die sie nicht besaß. Festzuhalten ist zudem, dass der Totalitarismus ohne die moderne Idee der Volkssouveränität nicht denkbar ist, da er seine Ziele mittels pseudodemokratischer Akklamationsverfahren durchsetzt und sich so den Anschein gesellschaftlicher Legitimation gibt und auch ohne die Herrschaft über effektive Massenmedien nicht so weit greifen könnte wie die Stalin und Hitler zur Verfügung stehenden Institutionen dies tun konnten. Zudem gibt es in der Literatur Kontroversen darüber, welche historischen Staaten wirklich als totalitär bezeichnet werden können, da allen die eine oder andere Zutat fehlte, die Friedrich und Brzezinski in ihrem Idealtypus totaler Herrschaft skizzierten.
Der Bolschewismus stalinistischer Prägung und der deutsche Nationalsozialismus gehören jedoch dazu, auch wenn unter Stalin die Ideologie die Schwungkraft verloren hatte, die sie unter Lenin noch aufwies und wenn die Nazis auch nicht auf eine so zentral gelenkte Wirtschaft zurückgreifen konnten wie die Bolschewisten. Das wesentliche Element, die alles erlaubende und alles verlangende Bewegung, wiesen jedoch beide in einer Reinform auf, die so bspw. in Italien nicht zu beobachten war.
Insofern besteht in Deutschland nach der Erfahrung beider Systeme in den dreissiger und vierziger Jahren sowie im Ostteil mindestens bis Ulbrichts Tod ein besonderes Verhältnis zum Totalitarismus und seiner theoretischen wie praktischen Aufarbeitung.
II.Theorie
Die wichtigste Theoretikerin des Totalitarismus ist die in Deutschland geborene und unter der Erfahrung des Dritten Reiches unter dramatischen Umständen in die USA geflüchtete Jüdin Hannah Arendt (1906-1975), deren „Elemente und Urprünge totaler Herrschaft“ – ursprünglich unter dem Arbeitstitel „Die Elemente der Schande“ konzeptioniert – eine bestechende Analyse des Totalitarismus darstellt und die in ihrem philosophischen Hauptwerk „Vita Activa“ eine mit Diktaturen unvereinbare Ontologie des Menschen als eines „existenziell vorbestimmt“ freien Lebewesens entwickelt (Über die Revolution, 272), die den Totalitarismus als zutiefst inhuman identifiziert.
Der Totalitarismus versteht sich selbst nach Arendt als eine im Streben nach Weltherrschaft geschichtliche Vorbestimmtheiten exekutierende Bewegung, für die „Menschen nur das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und Geschichte vollzogen“ werden (Elemente, 706). Diesem im wörtlichen Sinne menschenverachtenden Anspruch setzt Arendt ihre spezifische Ontologie der conditio humana als einer in existenzieller Freiheit geborenen Spezies entgegen, die den Menschen in aristotelischer Diktion als soziales Lebewesen versteht, dessen Indidvidualität sich in der Pluralität der menschlichen Lebensweise als Gesellschaftglied erst entwickelt (Vita Activa). Dieses Sein des Menschen drückt sich im miteinander Handeln aus, „der einzigen Tätigkeit […], die sich direkt zwischen Menschen abspielt“, und die von unseren sonstigen alltäglichen Tätigkeiten des Arbeitens und Herstellens von Dingen und Sachverhalten strikt unterschieden wird (Vita Activa, 14).
Im Handeln der Menschen untereinander entsteht der einzigartige Machtbegriff Arendts als die „Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“ (Macht und Gewalt, 45), den sie aus der politischen Theorie der vorplatonischen Antike entwickelt hat. Dieses Verständnis von Macht ist das Gegenteil des dem Totalitarismus in einer Extremform zu Grunde liegenden Machtbegriffs, der, Max Weber folgend, als die Möglichkeit verstanden werden kann, andere zu einem Tun zu bewegen, das sie sonst unterlassen hätten, im Sinne des lateinischen potestas. Die arendtsche Interpretation ist heute dahingehend kritisch zu hinterfragen, ob ein an der griechischen Polis orientiertes Politikverständnis in modernen Massengesellschaften eine realistische Richtschnur für das Zusammenleben aufspannen kann.
Von bleibendem Wert jedoch ist die spätestens seit Arendt nicht mehr preiszugebende unbedingte Ablehnung eines den Menschen total instrumentalisierenden Herrschaftssystems, das in der Erkenntnis gipfelt: „Würde das Bewegungsgesetz [des Totalitarismus] in positives Recht übersetzt, so könnte sein Gebot nur heißen: Du sollst töten!“ (Elemente, 708).
Literatur
Arendt, Hannah (1970: Macht und Gewalt. München: Piper.
Dies. (1986): Über die Revolution. München: Piper.
Dies. (1992): Vita Activa. Vom tätigen Leben. München: Piper.
Dies. (1993): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München: Piper.
Friedrich, Carl J./ Brzezinski, Zbigniew (1969): Totalitarian Dictatorship and Autocracy. New York: Praeger.