Hannah Arendts
Kritik an der politischen Ideengeschichte.
Eine Gegenüberstellung
© Frank Weinreich (08/95)
Die folgende Untersuchung beschäftigt sich mit Hannah Arendts fundamentaler Kritik an der politischen Ideengeschichte des westlichen Kulturkreises. Arendts Werk enthält immer wieder grundlegende kritische, ja vollkommen ablehnende Positionen der klassischen politischen Philosophie. Auf den folgenden Seiten werde ich die Grundzüge der kritisierten Ideen und Autoren in einer Art Zwiegespräch ihrer Kritik gegenübergestellen. Ich werde bei diesem Unterfangen nicht versuchen, eine Entscheidung über ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ von Idee und Autor bzw. Kritik zu fällen. Die Gegenüberstellung soll vielmehr dazu dienen, den Ideen und ihrer Kritik schärfere Konturen zu verleihen und so beide Seiten verständlicher machen.
Die Untersuchung gliedert sich folgendermaßen
1. Einleitung
2. These und Antithese
3. Antithese und These
3.1 Die Antike
3.2 Das Mittelalter
3.3 Die Neuzeit
3.4 Die Moderne
4. Synthese
Zum Ausdruck und bequemeren Lesen steht der gesamte Text (ca. 40 DIN A4-Seiten) an dieser Stelle als PDF-Datei zur Verfügung: Arendt_Ideenkritik. Diese Datei ist in den mehr als sechs Jahren Verfügbarkeit (Winter 2008) knapp 10 000 mal abgerufen worden. Ich freue mich über soviele Leserinnen und Leser bei einem vergleichsweise drögen Stoff.
Um zu zeigen, worum es geht, hier noch die Einleitung:
Siehe, was Du weiter getan hast, wiederum im Namen der Freiheit.
Ich sage Dir, der Mensch kennt keine qualvollere Sorge,
als jemanden zu finden, dem er möglichst bald jenes Geschenk der Freiheit übergeben könnte,
mit dem er, dieses unglückselige Geschöpf, auf die Welt kommt.
(Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow)
Unsere Regierungs- und Gesetzeseinrichtungen seien unmißverständlich
unserem deutlichen Mangel an Vernunft und folglich auch an Tugend zuzuschreiben,
denn Vernunft allein genüge schon, ein vernünftiges Geschöpf zu regieren;
ein solches zu sein sei daher ein Wesensmerkmal, das uns anzumaßen wir kein Recht hätten,
eben aufgrund des Berichts, den ich von meinem eigenen Volk gegeben hätte.
(Jonathan Swift: Gullivers Reisen)
1. Einleitung
Hannah Arendt war eine politische Denkerin, deren theoretisches, politisches Werk von einem äußerst kritischen Grundgedanken durchzogen ist: Die von den Philosophen entwickelten politischen Ideen sind weitestgehend falsch, denn sie laufen dem Menschen qua Menschen zuwider. Sich selbst des Etiketts ‚Philosophin‘ erwehrend, weil sie nicht im kantschen Sinne als „Denker von Gewerbe“ gelten wollte (LdGI, 13), sah sie sich als außerhalb des Wissenschaftsbetriebes stehende Denkerin an, die von dieser Position aus die Erfordernisse des Menschen in die politische Wissenschaft zurückträgt.
Man darf jedoch nicht denken, daß Arendt die bisherige politische Wissenschaft einfach in Bausch und Bogen verwirft. Sie ist weder so überheblich dies zu tun, noch macht sie es sich so einfach. Sie erkennt viele Vorstellungen durchaus an. So geht sie mit Aristoteles konform, den Menschen als ein politisches Lebewesen zu sehen; jedoch auf eine eigene Art (WiP, 37ff). Sie wird auch Montesqieu nie bestreiten, daß Gewaltenteilung nötig ist; jedoch nach ihrem eigenen Modell (ÜdR, 197ff). Und dergleichen Beispiele gibt es noch viele. Sie kritisiert die Ideen und Denker jeweils einzeln, indem sie sich auf die Vorstellungen und Modelle einläßt und diese je für sich behandelt.
Arendts gesamtes Werk ist in erster Linie ein politisches. So finden wir ihre Kritik und ihre Alternativvorstellungen denn auch verstreut über ihre Schriften. Das macht es ein wenig schwierig, ihre Thesen nachzuzeichnen und in ein einheitliches Bild zu bringen. Leider hat die Autorin ein geplantes Werk zur „Einführung in die Politik“ (so ein mit dem Piper-Verlag, München, vereinbarter Projekttitel) nie geschrieben. Aus ihrem Nachlaß hat Ursula Ludz jedoch eine Zusammenstellung von Fragmenten dieses Themas herausgegeben, die sich sehr gut eignet, die Fehlentwicklungen der politischen Ideen in Arendts Anschauung aufzuzeigen.Besonders Fragment 3b der „Einführung in die Politik II“ (WiP, 35-80) eignet sich dank des chronologischen Aufbaus der in ihm enthaltenen Kritik dazu, die Thesen Arendts darzustellen. Der Aufbau von Fragment 3b soll auch die Weise vorgeben, in der sich diese kleine Untersuchung Hannah Arendts Verständnis der politischen Theorie nähert. Gestützt auf die prägnanten Aussagen in dieser Schrift wollen wir unter ständiger Zuhilfenahme anderer Werke der Autorin – und hier sind besonders „Vita Activa“ und „Über die Revolution“ als ergiebige Quellen zu nennen – die Kritik Arendts an der politischen Ideengeschichte aufzeigen.
Allerdings soll es dabei nicht bleiben. Die Grundzüge der kritisierten Ideen und Autoren werden in einer Art Zwiegespräch ihrer Kritik gegenübergestellt. Wir werden bei diesem Unterfangen nicht versuchen, eine Entscheidung über ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ von Idee und Autor bzw. Kritik zu fällen. Die Gegenüberstellung soll vielmehr dazu dienen, den Ideen und ihrer Kritik schärfere Konturen zu verleihen und so beide Seiten verständlicher machen. Eine allgemeine Kritik der arendtschen Position, daß das Politische seit Plato unter permanenter Fehlentwicklung leide, wird diese Arbeit im Anschluß an die Darstellung der Positionen beschließen.
Es kann nicht Absicht dieser Arbeit sein, die gesamte Geschichte politischer Ideen aufzuzeigen und diese Hannah Arendt gegenüberzustellen. Das hat nämlich auch Arendt selbst nicht getan. Schon ihre Kritik ist eine Reduktion auf die wesentlichen Elemente der politischen Theorie. Es werden schon bei ihr viele wichtige Autoren gar nicht erwähnt und diese Untersuchung wird Ideen und Autoren noch weiter reduzieren, um nur die wesentlichen Bestandteile aufzuzeigen, auf die es der Autorin wirklich ankam.
Ich werde so vorgehen, daß ich mit einer allgemeinen Darstellung der arendtschen Kritik beginne, um aufzuweisen, was die Autorin damit überhaupt bezweckte. Dann werde ich analog zu Fragment 3b von „Was ist Politik“ chronologisch die Kritik und Kritisiertes einander gegenüberstellen. Arendt macht im wesentlichen vier Zeitabschnitte aus, die sich durch eine gewisse Homogenität ihrer politischen Theorie von einander abgrenzen lassen: Antike, Mittelalter bzw. Christenheit bis zur Renaissance, Neuzeit und Moderne. Ich werde diese Zeitabschnitte einzeln behandeln; zum einen durch Darstellung der arendtschen Position zu ihnen, zum anderen durch die meiner Meinung nach wesentlichen politischen Ideen der jeweiligen Zeitabschnit te. Die Arbeit endet dann mit einer kritischen Betrachtung der arendtschen These von der Fehlentwicklung des Politischen meinerseits, natürlich in Anlehnung an die im Vorhergehenden entwickelten Gedanken.
(Bochum 04/95)