Zur Verhältnisbestimmung von Ethik und Biowissenschaften und -technologie

© Frank Weinreich 05/01


 

Die Ethik versucht, zu ermitteln, wie Menschen sich verhalten sollen. Das war nie einfach und wurde schon immer von heftigen Diskussionen begleitet. Heutzutage kommt erschwerend hinzu, dass die Handlungsmöglichkeiten der Menschen sich auf dramatische Weise erweitert haben und beständig erweitern.

Über die Inhalte von Ethik bzw. Bioethik werden wir uns intensiv auseinander setzen müssen. Ich möchte dies jedoch aus einer Position unternehmen, die wenigstens die Schwierigkeit des laufenden Fortschritts so weit wie möglich umgeht. Ich möchte deshalb ‘so tun als ob’. Ich unterstelle noch den kühnsten Visionen des Einsatzes von Gen- und Biotechnik prinzipielle Machbarkeit und möchte dann fragen: Was hat die Philosophie dazu zu sagen?

Ich tue also ‘so als ob’ und frage dann ‘was wäre wenn’.

Das hat den Vorteil, dass ich damit die Zwischenschritte auf dem Weg zur Optimierung der Biotechniken berücksichtige. Nehmen wir an, dass ich mich aus ethischer Sicht mit dem ‘Gesünder’ und ‘Schöner’ durch Genmanipulation beschäftige. Komme ich dann zu einem Ergebnis, so sind die Chancen groß, dass dieses Ergebnis auf Zwischenschritte der Realisierung anwendbar ist. Nehmen wir die Präimplanatationsdiagnostik (PID): Sie kann heute schon bestimmte Gene identifizieren, die krank machen. Sie kann einzelne phänotypische Eigenschaften wie Haar- und Augenfarbe aufdecken. PID kann also schon heute Aussagen zur Gesundheit und dem Aussehen des ungeborenen Menschen machen. Wenn ich in meinen utopischen Überlegungen zur Genmanipulation dann befinde, dass ich Gesundheit wünsche, aber die Manipulation des Aussehens ablehne, so habe ich auch eine gänzlich un-utopische Position zu aktuellen Möglichkeiten der PID formuliert.

Erst wenn ich ‘so tue als ob’ stellen sich moralische Fragen in aller Schärfe – und die Diskussionspartner können sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass das ja alles noch Zukunftsmusik sei.

Es geht ab diesem Punkt also wirklich um das Handeln und seine Folgen.

Lehnt der Mensch den Einsatz von biotechnischen Verfahren ab, dann lehnt er im Extremfall eine ganze Reihe von therapeutischen Möglichkeiten ab. Stimmt der Mensch dem Einsatz biotechnischer Verfahren zu, so handelt er sich im Extremfall vielleicht seine eigene Abschaffung ein. Und jede Position dazwischen verlangt nach einer Grenzziehung, die in jedem Einzelfall begründet: “Darum bis hierher!” Was bleibt angesichts dieser Unsicherheit? Ich denke es bleibt eine Gewissheit. Und zwar die, dass wir uns vergegenwärtigen müssen, dass die Entscheidung für den Einsatz biotechnologischer Verfahren impliziert, dass wir uns auf die Folgen festlegen.

Ich ‘tue’ wieder ‘so als ob’:

Wenn ich das Gen für Chorea Huntington – eine monogene und immer tödlich verlaufende Krankheit – ausschalte, schalte ich damit die Möglichkeit aus, dass der entsprechende Mensch daran erkrankt. Das ist unbezweifelbar gut! Gäbe es ein oder mehrere Gene für Homosexualität – was ich nicht glaube – und würde sie ausschalten – so lege ich die sexuelle Präferenz desjenigen Menschen fest. Solange Homosexualität diskriminiert wird, täte ich der Person vielleicht sogar einen Gefallen. Vielleicht aber auch nicht. Was wäre aber, wenn ich die Fähigkeiten eines Menschen genetisch umfassend beeinflussen könnte? Ich würde ihn doch nur vor dem Hintergrund dessen, was ich oder die Gesellschaft zum Entscheidungszeitpunkt gut fänden, manipulieren können. Ich könnte in das genetische Material nur die Anlagen und Werte einbauen, die ich kenne. Ich würde die Person damit auf meine Werte und meinen Erfahrungshorizont festlegen und nähme ihr oder ihm Entfaltungsmöglichkeiten, nur weil ich sie nicht absehen kann oder will.

Jegliche Entscheidung, die ein Mensch trifft, fällt er auf dem Hintergund des für ihn gültigen Weltbildes. Auch der Einsatz biotechnischer Verfahren folgt kulturell begründeten Entscheidungen. Aber was berechtigt uns, für die nächste Generation auch nur irgendeine Entscheidung zu treffen? Die Sorge um ihr Wohlergehen? Aber in der Sorge um ihr Wohlergehen zwingen wir ihr unsere Vorstellungen vom Wohlergehen auf.

Der Schriftsteller und Philosoph C.S Lewis schrieb schon 1943

“Falls ein bestimmtes Zeitalter dank der Eugenik und einer wissenschaftlichen Erziehung die Macht erlangte, seine Nachkommen nach Belieben herzustellen, so sind eben in Wirklichkeit alle nachfolgenden Menschen dieser Macht unterworfen. Sie sind schwächer, nicht stärker; denn obwohl wir ihnen vielleicht wundervolle Maschinen in die Hand geben werden, haben wir doch deren Bedienung vorausgeplant.” (Lewis 1993, 60)

Für unsere Fragestellung könnte man auch sagen: Obwohl wir ihnen vielleicht wunderbare Anlagen mitgeben, haben wir doch deren Möglichkeiten festgelegt. Die Wertvorstellungen des die Biotechnik anwendenden Menschen werden damit sozusagen über die nachfolgenden Generationen perpetuiert. Es mag vielleicht enttäuschend erscheinen, dass die Philosophie meiner Überzeugung nach noch nicht weiter ist, als auf diese Konsequenz hinzuweisen – aber diese Konsequenz ist immerhin so folgenreich, dass es für das erste schon ausreichte, wenn man sich ihrer bewusst wäre.

Für das Verhältnis von Biowissenschaften und Ethik bzw. Philosophie als der die Ethik begründenden Wissenschaft bedeuten die angestellten Überlegungen zum ‘so tun als ob’, zur Frage des Anwendens bzw des Unterlassens sowie zu der ‘Verewigung’ von Wertvorstellungen durch ihre Perpetuierung, dass die Philosophie in der Lage ist, als eine Leitwissenschaft für die psychologischen, die politischen und die sozialen Folgen der Anwendung von Biotechnologie dienen kann und diese Position auch einnehmen sollte. Etwaig auftretende Aporien – etwa bei der Frage des Tuns oder Lassens – sollten dabei nicht als Hinderungsgrund für die philosophische Debatte gewertet werden, stellen sie doch andererseits eine recht verlässliche Basis für diskursive Lösungsansätze dar, zu deren Aushandlung sich dann die Menschen zusammensetzen müssen.