Wenn unsere Hoffnung nun am Alten hängt

Konsequenzen der pränatalen Gentherapie

© Frank Weinreich


 

‚Wenn unsere Hoffnung nun am Alten hängt‘ – diese Überschrift könnte andeuten, dass ich mich bei der Frage nach den ethischen Konsequenzen von Gentherapien vom Alten abwenden und revolutionären neuen Einsichten zuwenden möchte.

Das ist allerdings nicht der Fall

Ganz im Gegenteil bin ich der Überzeugung, dass wir mit einem reflektierenden Humanismus im Gepäck ganz gut ausgerüstet sind, um modernen Anforderungen an die Ethik zu begegnen.

Dass es problematisch werden kann, wenn unsere Hoffnung am Alten hängt, soll vielmehr auf einen anders gearteten Kern meines Vortrages deuten. Ich möchte ihnen in der nächsten halben Stunde nämlich zu zeigen versuchen, dass wir in die Gefahr geraten, unsere ‚alten‘ Werte in unzulässiger Weise zu befestigen. Es ist völlig legitim und für jegliche Verbesserung auch nötig, dass die Menschen den Traum von einer besseren Welt mit besseren Gesellschaften verfolgen. Die Verbesserung und ihre Mittel durfte sich aber bisher jede Generation selbst und auf eigenen Wegen suchen. Wenn Menschen aber ihren Nachkommen irgendwann ihre Werte in das Genom schreiben sollten, dann bleibt deren Hoffnung an das Alte geschmiedet. Und das halte ich für unzulässig. Lassen sie mich jedoch zunächst einige Vorüberlegungen anstellen, um bis zu diesem Punkt und seinen Konsequenzen zu kommen.

Im einzelnen möchte ich über folgende Punkte sprechen:

  • Herausforderung für die Ethik
  • Die Utopie als Ausgangspunkt der ethischen Reflexion
  • Das Besondere am Eingriff in die menschliche Keimbahn
  • Das Problem der Verewigung von Wertvorstellungen

 

Hauptanliegen der Ethik im philosophischen Kontext – also als Reflexion, der moralischen Vorstellungen, die das menschliche Handeln bestimmen – Hauptanliegen dieser Ethik ist es, intersubjektiv gültige Wertbestimmungen zu liefern, an denen sich Mensch und Gesellschaft in ihrem Tun und Lassen orientieren können. Dabei war nie unkontrovers und wurde schon immer von heftigen Diskussionen begleitet, was denn in ethischem Sinne nun ‚falsch‘ und ‚richtig‘ sein könne. Durch den technischen Fortschritt und die Errungenschaften der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung kommt erschwerend hinzu, dass die Handlungsmöglichkeiten der Menschen sich seit ca. hundert Jahren drastisch erweitert haben: Nun können wir das Weltklima verändern, Atome spalten und den Mensch in seinem biologischen Innersten manipulieren.

Damit steht die Ethik vor der zweifachen Herausforderung, erstens die Menschen an ihre Erkenntnisse heranzuführen, damit diese sie in moralisches Handeln übertragen können und zweitens auf der Höhe der technischen Entwicklungen und der naturwissenschaftlichen Entdeckungen zu bleiben und deren Bedeutung auf- beziehungsweise besser noch vorwegzunehmen. Der (natur-)wissenschaftliche und technische Fortschritt nötigt der Ethik nämlich neue Fragen und Antworten auf. Ernst Tugendhat formulierte es im Rahmen der Diskussion um Sloterdijks „Menschenpark“-Aufsatz in einem Artikel folgendermaßen: „Durch die Fortschritte hat sich ein ganz neuer Handlungsspielraum eröffnet, bei dem wir wegen der Neuartigkeit der Probleme nicht ohne weiteres zurückgreifen können auf tradierte Richtlinien über das, was als erwünscht und unerwünscht, als zulässig oder unzulässig angesehen werden soll“. Das heißt nun nicht, dass wir eine neue Gen-Ethik bräuchten. Wie gesagt glaube ich in diesem Zusammenhang an die Adäquatheit unseres humanistischen Wertekanons oder an den Rückgriff auf die „alten Tafeln“, wie Peter Hofschneider es ausdrückt. Aber wer über die ethischen Fragen der Biowissenschaften diskutieren will, muss sich die Mühe machen, deren Forschungsarbeiten zu verfolgen und in ihren Möglichkeiten zu durchdenken.

Über die Inhalte von Ethik bzw. Bioethik setzen wir uns jetzt intensiv auseinander und die Positionen divergieren dabei zum Teil sehr. Doch sollten wir – auch wenn ich gerade verlangte, die Arbeit der Biowissenschaftler zu verfolgen – nicht allein den aktuellen Status bedenken, sondern auch über das Erreichte hinausdenken, um später nicht gänzlich von den Fakten überrollt zu werden. Ein Problem, das in der Diskussion immer wieder auftaucht, besteht darin, dass gar nicht so ganz klar ist, worüber wir uns heute eigentlich unterhalten können. So sehr viel ist ja noch gar nicht machbar und die Wissenschaft ist noch weit davon entfernt, im Stile von Huxleys „Brave New World“ verschiedene Menschenklassen züchten zu können. Das Ausmaß dessen, was technisch wirklich einmal wird umgesetzt werden können, ist heute noch reichlich unbestimmt und so haben negative Utopien schnell auch den Geschmack eines zur Übertreibung neigenden Alarmismus. Ich möchte deshalb mit den Worten Reinhard Löws vorausschicken, dass man „eine ethische Überlegung nicht damit überflüssig machen kann, dass [man] sagt, es gebe ohnedies niemanden, der die in Frage stehende Sache technisch beherrsche“. Deshalb gehe ich beim Folgenden von einer Position aus, die dies berücksichtigt und losgelöst vom technischen Entwicklungsstand prinzipiell über die Folgen des Einsatzes von Gentechnik nachdenkt.

Ich möchte mit Ihnen jetzt gerne ’so tun, als ob‘ – ’so tun als ob‘ wir alle Werkzeuge zur Verfügung hätten. Ich unterstelle noch den kühnsten Visionen des Einsatzes von Gen- und Biotechnik prinzipielle Machbarkeit und möchte dann fragen: Was hat die Philosophie dazu zu sagen? Erlauben uns ethische Überlegungen, diese Werkzeuge in die Hand zu nehmen? Wenn also die Frage gestellt wird – Sollen wir unsere Kinder gesünder, schöner und schlauer machen? – dann will ich mich nicht darauf zurückziehen zu sagen: Gesundheit, Schönheit und Schlauheit werden von einem so komplexen Zusammenspiel der Gene gesteuert, dass eine derartige Manipulation heute völlig unmöglich ist. Dem ist zwar so – aber vielleicht ist das schon nicht mehr so, wenn meine Enkel eine Familie planen. Natürlich bleibt die Schwierigkeit bestehen, dass Entwicklungen, deren Verwirklichung Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte in der Zukunft liegen mögen, vielleicht auch völlig anders geartete philosophische Antworten und Lösungen mit sich bringen. Und natürlich wird die eben genannte Überlegung unsinnig, wenn das Zusammenspiel der Gene wirklich zu komplex sein sollte, als dass es dem technischen Zugriff erschlossen werden könnte. Aber was verliere ich, wenn dem so sein sollte? Im schlimmsten Fall habe ich Zeit vergeudet. Im besten Fall aber hat sich der Opa Gedanken gemacht, mit denen die Enkel arbeiten können, wenn es die Umstände erfordern.

Als Zeitvergeudung werden sich die Gedanken aber wohl trotzdem nicht erweisen, denn auch das Spiel mit der Utopie kann Hinweise und Entscheidungshilfen für Probleme geben, die sich schon heute stellen.

Ich tue also ’so als ob‘ und frage ‚was wäre wenn?‘. Das hat meiner Meinung nach den Vorteil, dass ich damit die Zwischenschritte auf dem Weg zur Perfektionierung der Biotechniken in ethischer Hinsicht berücksichtige. Nehmen wir an, dass ich mich mit dem ‚Gesünder‘, ‚Schöner‘ und ‚Schlauer‘ durch Genmanipulation beschäftige. Komme ich in Ansehung der biotechnologischen Utopie dann zu einem Ergebnis, so sind die Chancen groß, dass dieses Ergebnis auch auf Zwischenschritte der Realisierung anwendbar ist. Ein Beispiel ist die Präimplantationsdiagnostik (kurz PGD = pre implantation genetic diagnosis, der englische Terminus setzt sich in der wissenschaftlkichen Diskussion durch und im englischen ist das Akronym PID anderweitig besetzt), nach deren Anwendung schon über 200 Kinder geboren wurden. Diese Diagnosemethode kann heute schon bestimmte Gene und Genkomplexe identifizieren, die krank machen. Mit ihrer Hilfe kann man aber auch einzelne phänotypische Eigenschaften wie die Farbe der Haare und der Augen bestimmen. Die PGD kann also schon heute Aussagen zur Gesundheit und dem Aussehen des ungeborenen Menschen machen. Wenn ich in meinen utopischen Überlegungen zur Anwendung der Gentechnik dann befinde, dass ich Gesundheit wünsche, aber die Manipulation des Aussehens für nicht mehr vertretbar halte, so habe ich auch eine gänzlich unutopische Position zu aktuellen Möglichkeiten der PGD formuliert. Ich würde mir wünschen, dass wir von diesem Punkt des ’so tun als ob‘ aus diskutieren könnten. Wenn die Diskussionspartner sich nicht mehr auf den Standpunkt zurückziehen können, dass das ja alles noch Zukunftsmusik sei, dann erst stellen sich moralische Fragen in aller Schärfe.

Die Bestimmung dieses Ausgangspunktes war jedoch leicht im Vergleich zur Bestimmung der ethischen Normen, die das moralisch begründete Handeln leiten sollen. Ich selbst suche immer noch nach einer eindeutigen ethischen Position, die ich gegenüber den Möglichkeiten der Biowissenschaften einnehmen kann. Mein Hauptproblem besteht dabei darin, dass das Tun und das Lassen aus der Perspektive der Ethik gesehen gleichermaßen problembehaftet sind. Lehnt der Mensch den Einsatz von biotechnologischen Verfahren ab, dann lehnt er auch mindestens eine ganze Reihe von Möglichkeiten der Behandlung schrecklicher Krankheiten oder der Beseitigung des Hungers ab. Die Ablehnung kann theoretisch bis zu dem Punkt reichen, die Möglichkeit zu verspielen, Hunger, Armut, soziale Ungleichheit und Krieg abzuschaffen – denn nicht weniger versprechen einige auf gentechnischen Errungenschaften wesentlich fußende Visionen. So bspw. die Verheißung des „geklonten Paradieses“. Das ist der vom Autor durchaus ernst gemeinte Titel eines Buches des Biologen Lee M. Silver. Stimmt der Mensch auf der anderen Seite dem Einsatz biotechnischer Eingriffe in das Erbgut zu, so handelt er sich nach Meinung der negativen Utopisten damit unter Umständen seine eigene Abschaffung ein. Und jede Position zwischen diesen Extremen verlangt nach einer begründeten Grenzziehung, die für jeden Einzelfall entscheidet: Darum bis hierher! – Darum nicht weiter! Diese Grenzziehung ist zu diskutieren und sie ist auf der Folie des ’so tun als ob‘ auch dringend zu diskutieren. Das möchte ich an dieser Stelle, die von soviel Unsicherheiten und Dissens gekennzeichnet ist, jedoch nicht weiterverfolgen, sondern ich möchte auf meinen eigentlichen Punkt kommen.

Gentechnik kann zu verschiedensten Zwecken eingesetzt werden. Wir können in das Genom von Tieren und Pflanzen eingreifen, um Ertrag und Qualität zu verbessern oder um Gewebe oder Medikamente zu produzieren. Wir können auch somatische Gentherapie betreiben, indem wir mit Hilfe von Vektoren das Genom des geborenen Menschen verändern. Und wenn wir wieder ’so täten als ob‘ ist noch viel mehr vorstellbar. All das ist bei weitem nicht frei von ethisch relevanten Fragestellungen. Darüber möchte ich hier aber jetzt nicht nachdenken, sondern über das, was es bedeutet, am ungeborenen Menschen zu arbeiten, denn ein Eingriff in die menschliche Keimbahn hat eine ganz andere Qualität. Auf der einen Seite sind die Möglichkeiten sehr viel größer. Ist ein Lebewesen erst einmal zur Welt gekommen, so sind die Möglichkeiten der gentechnischen Intervention sehr beschränkt, denn man muss ja erst einmal zuverlässig an all die Zellen herankommen, deren Material man verändern möchte. Wenn dies gelungen ist, so sind die Gestaltungsmöglichkeiten bei weitem geringer als wenn man es mit omnipotenten Zellen zu tun hat. Man kann vielleicht Drüsen dazu bekommen ein fehlendes Hormon zu produzieren, aber ein krankmachendes Gen bekommt man nach Beginn der Zelldifferenzierung ebenso wenig aus dem Genom geschnitten wie man ein intelligenzsteigerndes einbauen kann. Dies ist bei Eingriffen in die Keimbahn aber theoretisch möglich, wenn auch im Augenblick noch kein Wissenschaftler eine Ahnung davon hat, wie dies in bezug auf die Intelligenzsteigerung aussehen könnte. Aber wir wollten ja ’so tun als ob‘.

Die ethische Relevanz des Unterschiedes zwischen somatischer Therapie und Eingriffen in die Keimbahn des Menschen ist jedoch nicht nur eine der unterschiedlichen Möglichkeiten, sondern auf der anderen Seite noch viel mehr eine des individuellen Rechts der Selbstbestimmung. Tiere und Pflanzen unterstehen der menschlichen Verfügungsgewalt. Die somatische Therapie steht zuletzt in der Verantwortung des zu Therapierenden, der zustimmen oder ablehnen kann. Das Ungeborene steht ebenfalls unter einer außer ihm liegenden Verfügungsgewalt – aber aus ihm wird ein sich selbst bewusstes Menschenwesen, für dessen Leben Entscheidungen getroffen werden, die es hilf- und mitsprachelos annehmen muss. Ich gehe davon aus, dass jeglicher Eingriff in die Keimbahn nur zum Guten des Ungeborenen vorgenommen wird und dass das Beste für den werdenden Menschen beabsichtigt ist. Trotzdem stellt sich die im Gegensatz zu den anderen Beispielen gänzlich verschiedene Frage, was ich für meinen noch nicht handlungsfähigen Mitmenschen entscheiden darf. Die Tragweite dieser Entscheidungen ist unter Umständen so groß, dass sich ein Vergleich mit der Erziehung, die ja auch auf strukturellen Ungleichheitsbeziehungen beruht und – hoffentlich – auch nur das Beste will, dass sich dieser Vergleich nicht mehr ziehen lässt.

Am Eingang dieser Frage – der Frage, was ich anstelle des Ungeborenen entscheiden darf – steht eine bedeutsame Trivialität: Wir müssen uns vergegenwärtigen, das die Entscheidung für den Einsatz biotechnologischer Verfahren impliziert, dass wir den hilf- und mitsprachelosen Anderen auf die Folgen der Maßnahmen festlegen, lebenslang und in den allermeisten Fällen wahrscheinlich irreversibel. Ich ‚tue wieder so als ob‘: Wenn ich das Gen für Tay-Sachs, Chorea Huntington, Mukoviszidose – alles schreckliche, monogene und unbedingt tödlich verlaufende Krankheiten – wenn ich dies Gen ausschalte, schalte ich damit die Möglichkeit aus, dass der entsprechende Mensch daran erkrankt. Ich lege sie oder ihn darauf fest, diese Krankheit niemals zu bekommen. Das ist unbezweifelbar gut! Gäbe es ein oder mehrere Gene für Homosexualität – was ich nicht glaube – und würde ich diese Gene ausschalten – so legte ich die sexuelle Präferenz desjenigen Menschen fest. Solange Homosexualität diskriminiert wird, täte ich der Person vielleicht sogar einen Gefallen. Vielleicht aber auch nicht.

Darf ich diese Entscheidung treffen?

Was wäre nun, könnte ich die Fähigkeiten eines Menschen genetisch in Richtung künstlerische oder technisch-naturwissenschaftliche Intelligenz beeinflussen? Täte ich das eine oder das andere, so würde ich ihn vor dem Hintergrund dessen, was ich oder die Gesellschaft zum Entscheidungszeitpunkt gut fänden, für sein Leben lang festlegen. Und selbst wenn ich nicht wählen müsste, wenn beides, wenn alles genetisch ginge – so könnte ich doch in das genetische Material nur die Möglichkeiten und Werte einbauen, die ich kenne. Damit hänge ich des Kindes Hoffnung an mein Altes. Ich würde die Person damit auf meine Werte und meinen Erfahrungshorizont festlegen und nähme ihr oder ihm Entfaltungsmöglichkeiten, nur weil ich sie nicht absehen kann, nicht absehen will oder weil ich sie ablehne. Es dürfte für die meisten Menschen und Gesellschaften unstrittig sein, dass ich als Vater eines ungeborenen Kindes das Fürsorgerecht besitze, es vor dem Schaden einer genetisch bedingten Krankheit zu beschützen. Habe ich aber ebenso ein Recht, die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten meines Kindes ein wenig zu tunen, weil Informatikerinnen und Informatiker wahrscheinlich auch in zwanzig Jahren noch gutbezahlte Jobs bekommen? Habe ich aber in der Umkehr das Recht, das Tuning zu verweigern, wenn mein Kind dann im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt mit den optimierten Altersgenossen chancenlos ist?

Wie groß wird aber erst der Erwartungsdruck an das genoptimierte Individuum? Hans Jonas hat mit Blick auf die Klonierung von Menschen das Klonen aus einem sehr bedenkenswerten Grund für unzulässig erklärt. Jonas formulierte das Recht eines jeden Individuums darauf, „von seiner Umwelt nicht bereits im voraus gekannt zu sein“ und nannte es das Recht „auf Unwissenheit um die eigene Biographie“. In dieser Schärfe stellt sich das Problem bei der pränatalen Gentherapie zunächst einmal nicht. Je umfangreicher aber die Modifikationen sind, die am Ungeborenen vorgenommen werden, desto berechenbarer wird seine Biographie, desto größer der Erwartungsdruck und desto geringer die Freiheit, sich die eigene Biographie erarbeiten zu können.

Man kann das Thema auch auf gesellschaftliche Zusammenhänge ausweiten. Wir reden in diesen Tagen und im Angesicht jüngster Barbareien sehr viel von Sicherheit. Peter Sloterdijk formulierte in der seinerzeit sehr kontrovers diskutierten „Menschenpark“-Rede die Einschätzung, dass die tradierten humanistischen Werte nicht mehr genügten, den Menschen zu leiten bzw. ihn zu bändigen. In Gestalt der Gentechnik sieht Sloterdijk das Instrument, die vermeintlich weichen Werte und die schwachen Grenzziehungen der Kultur und des Humanismus abzustreifen, und dem entfesselten Menschen endlich zuverlässige Bande anzulegen. Konzedieren wir ihm mal, dass dies technisch möglich sei, dass es möglich sein wird – es folgt die Begrifflichkeit Slotderdijks – per „Anthropotechnik [den] Menschenpark zur optimalen Homoöstase“ gelangen zu lassen. Tun wir ’so als ob‘. Welche Menschen würden wir in unserer Gesellschaft haben wollen? Friedliche Arbeitnehmer-Schafe oder aggressive Unternehmer-Wölfe? Oder besser beides? Nur wer teilt dann die Rollen zu? Auf jeden Fall würden wir auch dies wieder für ungeborene Generationen entscheiden.
Jegliche Entscheidung, die ein Mensch trifft, fällt er auf dem Hintergrund des für ihn gültigen Weltbildes und der für ihn gültigen Werte. Das gilt gleichermaßen für die Forscherinnen und Forscher, wie für die Politik und für die werdenden Mütter und Väter. Selbst wenn Werte, die allein der Mensch stiften und zuweisen kann, schwach und relativ sein sollten, so bilden diese doch die Basis, auf der Technik entwickelt wird und zum Einsatz kommt. Auch der Einsatz biotechnischer Verfahren folgt kulturell begründeten Entscheidungen. Die Monokultur der klugen, schönen, zähen Arier, die in Deutschland einmal das Ziel der Menschheitsentwicklung war, mögen wir heute vielleicht mehrheitlich ablehnen. Aber was berechtigt uns, für die nächste Generation auch nur irgendeine Entscheidung zu treffen? Die Sorge um ihr Wohlergehen? Die Sorge um das Wohlergehen der Spezies Mensch? Aber in der Sorge um das Wohlergehen oktroyieren wir den Nachkommenden unsere Vorstellungen vom Wohlergehen auf.

Der Schriftsteller und Philosoph C.S Lewis schrieb schon 1943

„Falls ein bestimmtes Zeitalter dank der Eugenik und einer wissenschaftlichen Erziehung die Macht erlangte, seine Nachkommen nach Belieben herzustellen, so sind eben in Wirklichkeit alle nachfolgenden Menschen dieser Macht unterworfen. Sie sind schwächer, nicht stärker; denn obwohl wir ihnen vielleicht wundervolle Maschinen in die Hand geben werden, haben wir doch deren Bedienung vorausgeplant.“

Für unsere Fragestellung könnte man auch sagen: Obwohl wir ihnen vielleicht wunderbare Anlagen mitgeben, haben wir doch deren Möglichkeiten festgelegt. Und Lewis behält auch darin Recht, dass die Nachfolgenden „schwächer, nicht stärker“ sind. Wenn spätere Generationen nämlich auf eine „optimale Homoöstase“ des „Menschenparks“ zugeschnitten worden sein sollten, so verfügen sie nicht mehr über die ganze Bandbreite menschlicher Ansichts- und Handlungsfähigkeit. Und dieser Verlust macht sie schwächer. Aber wieder müssen wir auch an die andere Seite der Medaille denken. Was tun wir nachfolgenden Generationen unter Umständen an, wenn wir auf die Möglichkeiten verzichten? Heilen wollen und werden wir wohl auch. Doch werden wir dann auch rechtzeitig innehalten?

Über Formen und Ausmaß des Einsatzes von Gentechnologie – insbesondere von pränatal durchgeführten Interventionen – ist in meinen Augen noch lange kein Konsens in Sicht. Aber ob Gentechnologien zur Anwendung kommen oder nicht: In beiden Fällen hat dies folgenreiche Konsequenzen, derer man sich bewusst sein muss. Auf der Jugendzukunftskonferenz in Kassel im Mai diesen Jahres hat mir gegenüber der hessische Pfarrer Reinhard Brand seine Einschätzung zur Frage des Einsatzes der Gentechnik folgendermaßen zusammengefasst:

„So oder so – wir werden uns in jedem Fall schmutzig machen.“

Literatur:

Hofschneider, Hans Peter: Eingriff in die Erbsubstanz. Aspekte, Fakten, Thesen. In: Koslowski, Peter/ Kreuzer, Philipp/ Löw, Reinhard: Die Verführung durch das Machbare. Stuttgart: 1983. 13-19.
Jonas, Hans: Laßt uns einen Menschen klonen. Vortrag an der Universität München am 10.5.1981. Publiziert in Scheidewege 12 (1982).
Kollek, Regine: Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht (Ethik in den Wissenschaften, Band 11). Tübingen, Basel: Francke Verlag 2000.
Korff, Wilhelm/ Beck, Lutwin/ Mikat, Paul: Lexikon der Bioethik. 3 Bände. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2000.<
Koslowski, Peter/ Kreuzer, Philipp/ Löw, Reinhard: Die Verführung durch das Machbare. Ethische Konflikte in der modernen Medizin und Biologie (CIVITAS Resultate, Band 3). Stuttgart: S. Hirzel Verlag 1983.
Kress, Hartmut: Ethik. In: W. Korff/ L. Beck/ P. Mikat: Lexikon der Bioethik, Band 1. Gütersloh 2000. 654-682.
Lewis, C.S.: Die Abschaffung des Menschen. Freiburg i. Br.: Johannes Verlag Einsiedeln 1993.
Löw, Reinhard: Gen und Ethik. Philosophische Überlegungen zum Umgang mit menschlichem Erbgut. In: P. Koslowski/ Ph. Kreuzer/ R. Löw: Die Verführung durch das Machbare. Stuttgart 1983. 33-48.
Mathwig, Frank: Technikethik – Ethiktechnik. Was leistet angewandte Ethik? (Forum Systematik, Band 3) Stuttgart u.a.: Kohlhammer 2000.
Silver, Lee M.: Das geklonte Paradies Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend. München: Droemer 1998
Schröer, Christian: Moral/Moralität. In: W. Korff/ L. Beck/ P. Mikat: Lexikon der Bioethik, Band 2. Gütersloh 2000. 707-712.
Sloterdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die Elmauer Rede. In: Die Zeit 38 (1999) v. 16.9.1999. 15-21.

© Frank Weinreich 10/01