Oromë, unvergleichlicher Jäger, keiner kennt das Land wie Du.
Sahst Du Tom Bombadil auf Deinen Wanderungen?“
„Nein“, antwortete eine vierte volltönende Stimme,
„ich sah ihn nie und hörte niemand von ihm reden.“
(Frank Weinreich: Toms Verfahren)


 

Wer ist Tom Bombadil?

© Frank Weinreich

Wer ist Tom Bombadil? Das ist neben den Fragen, ob Elben spitze Ohren und Balrogs Flügel haben eines der am heißesten diskutierten Themen unter den Tolkien-Fans weltweit. Und es ist eine Frage, auf die es keine letztgültige Antwort gibt, es sei denn in der Fiktion, wie in meiner kleinen Kurzgeschichte “Toms Verfahren”
(auch abgedruckt in Schneidewind / Weinreich 2006).

Tom Bombadil ist die vielleicht rätselhafteste Gestalt, die im HdR auftaucht. Sie beruht auf einem Gedicht Tolkiens aus dem Jahr 1934 und stellte darin die Verkörperung des »Geistes der schwindenden Natur rund um Oxford und Berkshire« dar (L, Nr. 19). Die Figur Toms ist eigentlich gar nicht für die Mittelerdedichtung erfunden worden, er wurde vielmehr in die Welt des HdR eingefügt (Vgl. L, Nr. 237), weil »es den Charakter schon gab und ich ein Abenteuer auf dem Wag passieren lassen wollte« (L, Nr. 153). Tom übernimmt aber auch die Rolle eines Rätsels: »Selbst in einem mythischen Zeitalter muss es ein paar Rätsel geben, so wie es sie immer gibt. Tom Bombadil ist eines (mit Absicht).« (L, Nr. 144). Und das ist denn auch alles, was Tolkien jemals zu dem Rätsel gesagt hat – er war nicht bereit, es zu lösen.

Im HdR wird Tom denn auch rätselhaft dargestellt. Elrond von Bruchtal, immerhin eines der weisesten Wesen Mittelerdes im Dritten Zeitalter, weiß über ihn nur zu berichten, dass er, als er ihn vor vielen Jahren traf, »schon älter als alt« war und dass die Elben ihn »Iarwain ben-adar nannten«, den »Ältesten und Vaterlosen«. Tom selbst wird nun aber nicht geheimnisvoll oder sogar bedrohlich beschrieben, sondern vielmehr als lustiger und gemütlicher Bursche dargestellt, der trotz allen aufgesetzten Spaßes aber zu erstaunlichem Tiefgang fähig ist, etwa wenn er die Natur des Rings sofort erkennt und auf gänzlich unaufgeregte Art seine Nutzung unterbindet. Er ist quietschbunt gekleidet, immer gut gelaunt und Lieder singend und von tiefer Liebe zu seiner Partnerin Goldbeere, einer Wassernymphe, erfüllt. Das erstaunlichste an Tom ist jedoch, dass der Eine Ring bei ihm als einzigem Wesen Mittelerdes keine Auswirkungen hat.

Als die Hobbits in seinem Haus zu Gast sind, lässt Tom sich den Ring zeigen (merkwürdig ist schon, dass Frodo ihm den Ring anstandslos gibt, was er sich selbst nicht erklären kann; FR, 182), setzt ihn auf – und nichts passiert: er wird nicht unsichtbar, er zeigt keinerlei Verlangen nach dem Ring (er ist neben Bilbo und Sam die einzige Person, die den Ring je freiwillig abgibt) und als Frodo den Ring aufsetzt, bleibt er für Tom sichtbar. Gandalf sagt dazu später, »dass der Ring keine Macht über ihn hat«, denn »er ist sein eigener Herr und Meister« (FR, 347). Damit ist Tom allerdings das einzige Wesen in ganz Mittelerde, auf das der Ring keinen Einfluss hat. Auf Frodos Frage »Wer ist Tom Bombadil?« antwortet ihm Goldbeere nur »Er ist« und nennt ihn »Meister« (FR, 172). Und Tom antwortet auf die gleiche Frage mit einem rätselhaften: »Kennst Du denn meinen Namen nicht? Das ist die einzige Antwort.« (FR, 180).

Viel ist über die Figur des Tom Bombadil spekuliert worden, entgegen der Absicht Tolkiens, der schrieb, dass man über Tom nicht zu philosophieren bräuchte (Vgl. L, Nr. 153). Tolkien hat sich dann aber doch näher über Tom ausgelassen, auch wenn Tom für die Geschichte des Rings »nicht wirklich wichtig« ist (L, Nr. 144; in der Verfilmung Jacksons taucht Tom bspw. auch überhaupt nicht auf). Tom ist nur eine Art »Kommentar« (vgl. L, Nr. 144). In einer Geschichte, die vom Kampf zwischen Gut und Böse erzählt, stellt er eine »natürliche pazifistische Sichtweise dar, die immer auftaucht, wenn Krieg herrscht« (B, Nr. 144). Tom steht für eine andere Art und Weise zu leben – er steht für die Natur, die Gut und Böse nicht kennt. Allerdings verschweigt Tolkien mit der fröhlichen Figur Toms die Härte der Natur, die zwar wirklich keine Moralvorstellungen hat, aber auch gnadenlos selektiert. Insgesamt können die Erklärungen auch nicht befriedigen, dazu sind sie einfach zu kryptisch. Außerdem erkennt Tom das Böse sehr wohl, wenn er es in der Gestalt des Ringes sieht.

Das hat die Interpreten denn auch nicht befriedigt.

So wurde in der Folge munter weiterspekuliert.

Aus den verschiedenen Interpretationen haben sich vier als besonders hartnäckig erwiesen.

Die erste besagt, dass Tom ein Vala oder Maia sein müsse. Diese Erklärung ist allerdings eindeutig falsch. Aus dem Silmarillion weiß man genau, dass im Dritten Zeitalter kein Vala mehr in Mittelerde weilte. Maias blieben in unbestimmter Zahl zurück (bspw. alle Balrogs, von denen es mehr als nur den einen in Moria gegeben haben muss). Aber Maiar unterliegen dem Einfluss des Rings – Gandalf und Saruman sind schließlich Maiar.

Die zweite Erklärung geht davon aus, dass Tom einer der nicht näher bestimmten Naturgeister ist, die Yavanna in die Welt entlassen hat. In der Tat sind sie so wenig bestimmt, dass Tom einer sein könnte. Aber es scheint doch ziemlich unwahrscheinlich, dass diese Naturgeister so mächtig sein sollen, dass sie dem Ring widerstehen können und damit in gewisser Weise “über den irdischen Mächten steh[en]” (Simek 2005, 88). Möglich ist dies aber.

Die dritte, recht populäre Erklärung, besagt, dass Tom die Verkörperung Ilúvatars oder sogar des christlichen Gottes ist. Sie stützt sich darauf, dass der Ring Tom nichts anhaben kann, dass Tom, wie Gott, aber nicht in den Kampf eingreift, weil die Sterblichen eigene Stärke beweisen müssen und dass Tom aber, wie Gott, Mitleid zeigt und den in Not Geratenen hilft. Dieser Sicht hat Tolkien selbst in einem Brief widersprochen (vgl. L, Nr. 153): »Sie sehen das zu ernst und Sie verfehlen auch den eigentlichen Punkt«. Das ist noch etwas unbestimmt und unnachdrücklich ausgedrückt, ein weiterer Brief schließt die Interpretation dann aber aus. Dort sagt Tolkien nämlich ausdrücklich, dass Iluvatar sich nie in Mittelerde inkarniert hat: »Der Eine Gott hatte nie eine Verkörperung in der Welt« (L, Nr. 181). Eine ähnlich lautende Aussage findet sich auch in der Athrabeth Finrod Ah Andreth der History of Middle-earth: “Arda was made by Eru, but He is not in it” (HoMe 10, 311) .

Die vierte und nur selten geäußerte Interpretation, die mir beispielsweise nur aus ein, zwei Gesprächen bzw. Mails, aber nicht aus der Literatur bekannt ist, bleibt nicht mehr bei den Büchern stehen, sondern erklärt Tom außerhalb der Mittelerdedichtung. Sie besagt nämlich, dass Tolkien sich mit Tom selbst in die Handlung geschrieben habe. Mir ist nicht bekannt, dass Tolkien dem ausdrücklich widersprochen hätte und ich neige dazu anzunehmen, dass dies auch die zutreffende Erklärung ist.

Tom liebt die Natur, und dort den wilden Wald vor dem gezähmten Garten.

Genau wie Tolkien. Tom schmiedet lustige Verse und singt und spielt den ganzen Tag. Das tat Tolkien natürlich nicht – aber er konnte so ausgelassen sein und war in diesen Momenten wohl auch am glücklichsten. Warum sollte Tom also nicht den schönen Zustand in Permanenz verkörpern? Tom steht für den Geist des ländlichen Englands, das Tolkien liebte. Und Tom hütet außerdem den alten Wald, den einzigen – außer Fangorn und Lóthlorien – der in Mittelerde noch die Kraft der alten Wälder aufweist. Beides war auch Bestandteil des Wesens Tolkiens, der sich immer gegen das moderne Leben wehrte, in dem er leben zu müssen glaubte: »So ist das moderne Leben. Mordor in unserer Mitte.« (L, Nr. 135).

Tom ist der »Älteste und Vaterlose«, der »vor allem anderen« da war – wie der Zweitschöpfer vor seiner Schöpfung da ist und selbst, in seiner Rolle als Zweitschöpfer, vaterlos ist. Das sagt er nicht nur selbst, das ist sogar in seinen zwergischen und von den Nordmännern verliehenen Namen Forn und Orald – beide bedeuten sehr hohes Alter (Simek 2005, 87) – enthalten. Innerhalb der Mittelerdedichtung scheint die Angabe Toms auch nicht zuzutreffen, dass er das älteste Wesen ist. Im Silmarillion ist die Ankunft des Lebens in Arda genau aufgeführt, ohne das Tom erwähnt würde (und die oben erwähnten Naturgeister kommen nicht zuerst auf die Welt). Tom existiert nur im HdR als das von Tolkien dort bewusst platzierte Rätsel (s.o.). Das ist eine Merkwürdigkeit, die nur auf Tom zutrifft und ihm schon deshalb einen erratischen Charakter verleiht. Alle anderen Wesen werden nämlich auch im Silmarillion (und der History) genannt.

Am wichtigsten aber: Der Ring hat keine Macht über den Autor – das ist klar. Gandalf behauptet über Tom, dass er den Ring nicht verändern oder zerstören kann (FR, 347). Der Autor hat auch nicht die Macht, den Ring zu vernichten oder zu beherrschen, denn dann gäbe es die Geschichte nicht. Zudem betont Gandalf, dass Tom sich eigene Grenzen in der Welt gesetzt hat, die er keinesfalls überschreiten wird (FR, 247). Es ist ja schon ein wenig gewagt, sich als Autor, ohne auf des Autors Macht zu verzichten, heimlich in die eigene Geschichte zu schmuggeln. Das kann nur funktionieren, wenn man sich enge Grenzen setzt, sonst zerstört man das Werk.

In dieser Interpretation von Tom Bombadil als Tolkien sehe ich auch keinen Verstoß gegen des Professors Wunsch, seine Schöpfung bloß nicht allegorisch zu lesen. Denn er spielt meines Erachtens nach nicht aus inhaltlichen Gründen auf seine eigene Person an. Er will dem Leser damit nichts sagen und keine Botschaft übermitteln. Er sah die primäre Welt, in der wir leben, als immer ärmer werdend an und sehnte sich nach einer romantisch verklärten natürlichen Vergangenheit zurück. Nun, mit Mittelerde hat er so ein Idealbild geschaffen und konnte es sich wohl nicht verkneifen, sich und seiner Frau Edith (Goldbeere!) dort einen kleinen umhegten Platz zu schaffen. Nein, Tom ist ein kleines Porträt des Autors, dessen Lohn es ist, ein Teil seiner eigenen Zweitschöpfung sein zu dürfen – und für den Leser auf immer darin zu bleiben!

Bochum, 10/05