Tolkien und seine Welt Mittelerde

-Eine kurze Einführung-

© Frank Weinreich

We make in the law, in which we´re made
J.R.R. Tolkien: Mythopoeia

 

In den Jahren 1954 und ´55 erschien mit Der Herr der Ringe der wahrscheinlich meistverkaufte Roman aller Zeiten, im Hinblick auf die Verkaufszahlen überhaupt wohl nur übertroffen von der Bibel und dem Koran. Die Geschichte wurde in völlig verschiedenen Kulturkreisen, wie Südamerika, Asien, Russland, dem mittleren Osten und natürlich in Westeuropa zu einem der beliebtesten Bücher. Es wurde zur Vorlage für den erfolgreichsten Film der Welt, sowohl gemessen an Zuschauerzahlen wie auch an Filmpreisen, und hatte Auswirkungen bis tief in Gesellschaft und Politik hinein, wurde es doch als geistige Vorlage für Protestierende sowohl gegen den Vietnamkrieg wie auch für sowjetische Dissidenten verstanden. Der Herr der Ringe ist unbestreitbar ein kulturelles Phänomen großer Tragweite. Das allein reicht als Motiv aus, sich einmal mit Autor und Werk zu beschäftigen. Was auch geschieht und sich in Hunderten von Monographien und einer ganzen Reihe von wissenschaftlichen Periodika niederschlägt.

(Der Erzähler)

Und das alles für einen halbmodernen Märchenautoren? Haben die Leute denn zuviel Zeit? Schließlich ist diese Fantasyliteratur mit Marcel Reich-Ranicki oder Elke Heidenreich gesprochen Zeitverschwendung:

Denn was anderes sind die Geschichten von Drachen und Magiern schon als infantile Wolkenkuckucksheime?

Wäre das so, wäre aber der allgemeine, besonders aber interkulturelle Erfolg von Tolkiens Büchern kaum zu erklären. Etwas an diesen Geschichten muss sehr tief gehen, wenn sie so viele verschiedene Menschen ansprechen. Zu erklären ist der Erfolg deshalb erst, wenn man die phantastische Literatur als riesengroße Bühne für Gedankenexperimente begreift. Ein Genre wie die Fantasy hat, wenn es von Zauberern, Dämonen und Wundern erzählt, damit doch in erster Linie ein Handwerkszeug ergriffen, das es erlaubt, mit Ideen zu spielen, deren extreme Konstruktionen einen Blick auf das Wesen des Menschen werfen. Platon, der Begründer und wichtigste Vertreter des westlichen Philosophie hat das schon genauso gesehen und benutzte Fantasymotive zur Erläuterung seiner Philosophie: die Geschichte des Rings von Gyges etwa, in der berichtet wird, dass der Hirte Gyges einen unsichtbar machenden Ring findet und ihn zu Verbrechen nutzt, die ihn ungestraft bis auf den Thron führen und Platon in der Politeia so als phantastisches Beispiel dient, Moralität zu diskutieren.

Wovon also Fantasy, aber auch die Science Fiction und das Horrorgenre eigentlich handeln sind nicht irreale Drachen, lächerliche lebende Tote und unrealisierbare Raumfahrtszenarien, sondern ganz menschlich-irdische Hoffnungen, Ängste und Verhaltensweisen. Die Autoren und Regisseure entwerfen ein phantastisches Szenario, das vor einer Ausnahmesituation menschliches Verhalten beleuchtet. Oder es wird konkret spekuliert, wie in 1984 beispielsweise, wo es darum geht, wie Regierungen – also Menschen mit Verfügungsgewalt über einen Machtapparat – sich verhalten würden, wenn sie über uneingeschränkte Mittel verfügten. Egal wie phantastisch die phantastische Literatur auch wird, sie ist von Menschen gemacht und kann letztlich von nichts anderem erzählen als von Menschen.

Eine solche Erzählung von dem Menschen ist Der Herr der Ringe. Ihr Schöpfer, John Ronald Reuel Tolkien, erzählt die Geschichte eines nahezu allmächtigen Ringes, der von seinem bösen Schöpfer getrennt wurde und nun vernichtet werden muss, denn wenn er ihn zurück bekäme, würde er damit die Welt beherrschen. Ganze Armeen und mächtige Zauberer stehen zwischen dem Ring und seiner Vernichtung. Zudem weckt das mächtige Artefakt vielfältige Begierden selbst seitens der Leute, die ihn nur zum Guten einsetzen wollen. Das bereitet eine Bühne für all die großen Dramen, die Menschen bewegen: Freundschaft, Pflicht, Wahrhaftigkeit und Verrat, Freiheit – allein die Liebe wird im Herrn der Ringe recht stiefmütterlich behandelt (kommt dafür aber an anderer Stelle in der Mittelerdedichtung völlig zu ihrem Recht).

Ja, so mag man nun einwenden, aber es ist doch alles die Phantasterei eines Märchenonkels, der sich da wild etwas aus den Fingern saugt. Wenn man schon über solche Autoren sprechen muss, so gibt es da doch interessantere Exemplare. Die Gebrüder Grimm, so könnte der Einwand weitergehen, die erzählten zwar auch Märchen, aber eigentlich trugen sie doch damit einen riesigen Schatz an Volkswissen und verschütteter Geschichte zusammen. Außerdem verfassten sie mit ihrem Wörterbuch das wichtigste Dokument über die deutsche Sprache, sie waren also nicht Phantasten, sondern eigentlich Wissenschaftler. Das aber war auch Professor Tolkien, 37 Jahre lang Inhaber von Lehrstühlen für die englische Sprache.

Lassen Sie mich also, um Ihnen einen Zugang zu Mittelerde zu eröffnen, näheres von seinem Autor erzählen, denn Werk und Biographie sind auf das engste verbunden und erklären sich wechselseitig. Anders als andere Schriftsteller, die verschiedenste Genres und Handlungsorte wählten, dreht sich Tolkiens Werk um die von ihm erfundene Welt Mittelerde. Nur ein paar Geschichten spielen nicht in dieser Welt. So ist es in seinem Fall einfach, Verbindungen zwischen Werk und Autor herzustellen.

Erfunden hat er seine Welt spätestens kurz vor Beginn des ersten Weltkrieges als Student in Oxford mit einer bis dahin tragischen Lebensgeschichte. Tolkien wird 1892 in Bloemfontein, im heutigen Südafrika, als Sohn eines Bankfilialleiters geboren. Sein Vater stirbt als er 4 Jahre alt ist, seine Mutter als er zehn ist. Da die Mutter durch Konversion von der anglikanischen Kirche zur Katholischen auch mit ihrer Familie gebrochen hat, stehen Ronald – Rufname war nämlich nicht John, sondern sein zweiter Vorname – und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Hilary ganz allein. Doch die Kirche hilft, genauer Father Francis Morgan, der die Brüder als Mündel annimmt und sie sicher durch den Rest der Kindheit und Jugendzeit begleitet, so dass aus beiden Jungs etwas wird. Hilary wird 82 Jahre alt werden, Ronald stirbt mit 81 und beide leben ein materiell gesichertes und auch sonst, soweit man das wissen kann, glückliches Leben.

Erstaunlich ist erstens, dass Tolkien nicht an dem frühen Verlust zerbricht, erstaunlich ist aber auch, dass der Tod der Eltern im Werk so gut wie keine Spur hinterlassen wird. Was Spuren hinterlässt, sind vier Jahre der Kindheit im ländlichen Warwickshire. Hier leben Ronald und Hilary mit der Mutter in einer ländlichen Idylle, die seine Vorlieben fürs Leben prägt. Das Ende des Idylls prägt dann in gleicher Weise seine Abneigungen. Durch die Konversion zum Katholizismus verliert Tolkiens Mutter Mabel die Unterstützung der Familie. Die karge Rente aus des Vaters Nachlass zwingt die Kleinfamilie zum Umzug nach Birmingham. Birmingham ist zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine dreckige Industriestadt, die alle Vorurteile übererfüllt, die man gegen das Ruhrgebiet draußen so aufgebaut hat. Den Kontrast des Landlebens in Warwickshire mit dem Stadtleben in Birmingham vergisst Tolkien nie. 40 Jahre später sagt er über Mordor, das Reich des Bösen, das er in Der Herr der Ringe skizziert, „Die Moderne – das ist Mordor in unserer Mitte“. Die in Mittelerde sich ausdrückende Romantik entspringt erstens einem idealisierten Bild vom Leben auf dem Lande und zweitens der Ablehnung der Moderne, besonders der Ablehnung ihrer Technik, aber auch der Ablehnung von Urbanisierung und sogar dem naturwissenschaftlichen Fortschritt. So konnte der gute Katholik Tolkien beispielsweise nie seinen Frieden mit Darwins Evolutionstheorie schließen.

Aber Tolkien schaffte es durch die Verluste seiner Kindheit und wurde ein erfolgreicher Student in Oxford. Kompensation mögen ihm auch seine Freundschaften geboten haben. Zeitlebens war Tolkien Mitglied in Clubs und Freundeszirkeln, in die er sehr viel Zeit und Emotionen investierte. Der erste war eine Gruppe bestehend aus ihm und drei weiteren jungen Männern, die ihre literarischen und Lebensträume im sogenannten TCBS miteinander teilten. Obwohl er seine spätere Frau da schon kannte, hat ihm der TCBS gegen Ende der Teenagerzeit wohl mehr bedeutet als Edith Pratt, die spätere Mrs. Tolkien.

Allerdings verbat Father Morgan zu dieser Zeit auch noch den Umgang mit Edith, so blieb ihm nur der Club. Doch auch der TCBS zerbrach. Es begann der erste Weltkrieg und zwei der vier Freunde kehrten nicht aus ihm zurück.

Tolkien selbst war Infanterieleutnant im Grabenkrieg in Frankreich. Wenn man die Beschreibung der höllenartigen Ödnis liest, durch die die Helden in Der Herr der Ringe am Schluss den Ring tragen müssen, so kann kein Zweifel bestehen, dass Tolkien hier die leblose Kraterlandschaft der Schlachtfelder an der Somme zum Vorbild nahm. Nach einigen Monaten kaum vorstellbaren Leids erkrankte Tolkien am Grabenfieber und der Krieg war für ihn beendet. In dem folgenden einen Jahr der Rekonvaleszenz entstanden nachweislich die ersten Gedichte aus Mittelerde und auch die Schöpfungsgeschichte dieser Welt wurde verfasst. Doch verarbeitet Tolkien hier nicht nur Leid. Er hatte kurz vor dem Feldzug noch schnell geheiratet, und nun wurden Edith und Ronald das erste von vier Kindern geboren, ein Sohn, der später Priester wurde. Bei dieser Berufswahl wird wohl das strenggläubige Haus der Familie Tolkien einen Einfluss gehabt haben.

( Tolkien an seinem Lieblingsbaum)

Der christliche Glaube in der römisch-katholischen Ausprägung war von kaum zu unterschätzender Bedeutung in Tolkiens Leben, aber auch für Mittelerde. Das springt schon bei der erwähnten Schöpfungsgeschichte der Welt ins Auge, die allerdings erst posthum, im sogenannten Silmarillion veröffentlicht wurde. Das ist eine Sammlung von Geschichten aus Mittelerde, die sein Sohn Christopher, selbst ein Oxford-Professor, publizierte.  Ein Schöpfergott bringt Kosmos und Welt durch einen Schöpfungsakt zur Existenz. Eine Musik gespielt von Engeln, auch wenn die nicht Engel heißen, ist es, die das Sein gebiert.

Der mächtigste der Engel erhebt sich gegen den Schöpfer und seinen Plan und will die Welt nach eigenen Vorstellungen formen. Der Rest der Weltgeschichte besteht im Wesentlichen aus dem Kampf gegen das Böse, das durch diesen Akt der Auflehnung in die Welt kam. Und wie im Christentum ist dieser Kampf überlagert von der Gewissheit, dass sich am Ende Gottes Wille durchsetzen wird: „Denn wisse, keiner kann das Lied ändern mir zum Trotz“, so wird der Aufsässige beschieden.

Der Schöpfungsakt Mittelerdes ist von großer Wichtigkeit für das Verständnis der Motivation Tolkiens. Ab 1917 bis zum Ende seines Lebens 1973 verbringt Tolkien einen Großteil seiner Lebenszeit mit dieser Welt und den Geschichten, die er in ihr platziert. Warum? Das macht er in einem literaturtheoretischen Aufsatz deutlich, in dem er Kreativität als den eigentlichen Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit der Menschen identifiziert. Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild – damit ist nicht unsere merkwürdige Gestalt gemeint, sondern die Fähigkeit, wie Gott selbst, etwas zu erschaffen. Kunst, Musik, Schriftstellerei sind für Tolkien schöpferische Tätigkeiten, ganz ähnlich der Schöpferkraft Gottes. Nur viel schwächer eben, aber immerhin doch von dem Charakter, dass er Erzeugnisse der Kreativität „Zweitschöpfungen“ nennt. Kreativität ist so verstanden eine Art von Gottesdienst, denn sie preist in ihren Grenzen durch das Zweitschöpfen schöner oder wertvoller Dinge die von Gott ins Werk gesetzte Erstschöpfung – unsere Welt. Das meint das Motto dieses Vortrages „We make by the law in which we´re made“, eine Zeile aus dem Gedicht Mythopoeia, in dem Tolkien seine Sicht des Realitätsgehaltes menschlicher Schaffenskraft erläutert (abgedruckt in Leaf and Tree – s. Literatur).

Kreativität umfasst allerdings hauptsächlich künstlerische Kreativität – technische Kreativität lässt er nur ganz begrenzt gelten, im Handwerk etwa. Wo aber technische Kreativität die Schöpfung verändert – und die ist als Gottes Schöpfung natürlich perfekt! – da unternimmt der Mensch Angriffe auf Gott. Ganz so wie die schlimmsten Schurken in Mittelerde, die alle dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Umwelt zerstören. Sie schänden die Natur durch das Verbrennen von Wäldern in Schmieden oder durch die Umleitung von Flüssen zum Antrieb von Industriebetrieben. In Laboratorien arbeiten sie alle zudem an der Erzeugung von Lebewesen, die als Sklaven oder Soldaten dienen sollen. Technikkritik zuhauf! Hier vermengen sich Glaube und die Erinnerungen an Warwickshire einerseits und Birmingham andererseits zu leicht verständlichen Utopien und Dystopien.

In Tolkiens Biographie beginnt nach den genannten Schicksalsschlägen eine gute Zeit des Erfolgs und Glücks, die bis zu seinem Tod im Wesentlichen anhalten wird. Bis 1929 werden zwei weitere Söhne und eine Tochter geboren, die Ehe wird ein Leben lang halten und 1922 erhält Tolkien in Leeds mit 30 Jahren seine erste Professur. 1925 wechselt er nach Oxford und dort nur noch einmal den Lehrstuhl bis er 1959 emeritiert wird. Da ist er auch schon als Kinderbuchautor bekannt, denn 1937 erschien Der Hobbit, ein äußerst erfolgreiches Kinderbuch, das auch in Mittelerde spielt, aber von deutlich anderem Charakter ist als der Herr der Ringe. Doch noch bekannter ist er in Fachkreisen als Philologe, der beispielsweise mit einer Interpretation des Beowulf-Gedichtes ein Standardwerk geschrieben hat, das heute noch den maßgeblichen Aufsatz zu diesem Thema darstellt. Zudem verfasste er mit dem Aufsatz On Fairy Stories eine der wichtigsten wissenschaftlichen Betrachtungen der phantastischen Literatur.

Für seine Arbeit an Mittelerde sind drei Dinge aus der wissenschaftlichen Erfahrung wichtig: erstens die Bedeutung von Sprache, zweitens die Mythologien und Sagenwelten, an denen er forschte, und drittens der Stellenwert von Sage und Mythos für das menschliche Bewusstsein, den er in On Fairy Stories herausarbeitete.

  • Seine Arbeit als Philologe hatte den Professor verinnerlichen lassen, dass der Mensch sich als Mensch im Medium der Sprache konstituiert. Denken, Sprache und die Geschichte entwickeln sich gemeinsam, denn sie üben wechselseitig entscheidenden Einfluss aufeinander aus. Dies ließ Tolkien in Mittelerde einfließen und schrieb die Geschichte der Welt als eine der Entwicklung ihrer Sprachen. In Der Herr der Ringe drückt sich das nur noch indirekt aus, aber dieser Erzählung unterliegen zigtausende Manuskriptseiten mit der Geschichte und den Geschichten dieser Welt. Auf dieser Basis entstand die Welt mit ihrer kompletten Geographie, ihrer durchgängigen Geschichte und ihren überzeugenden Bewohnern. Mittelerde ist eine erfundene Welt, aber sie wirkt vollkommen realistisch, wenn man sich nur darauf einlässt, sie kennenzulernen. Coleridge nannte dies das „willentliche Aussetzen des Unglaubens“. Tut man das bei Mittelerde, so überzeugt die Welt als literarische Schöpfung vollkommen.
  • Tolkien arbeitete die Sprachen, an denen er forschte – er sprach übrigens mindestens 10 lebende und tote Sprachen fließend – anhand der Sagen und Mythen ihrer Kulturkreise auf. Wie auch anders? – aus dem Altnordischen oder Altenglischen gibt es nur Schriftstücke, die sich mit Sagas, Mythen und weitgehend erfundenen pseudohistorischen Ereignissen befassen. Er liebte diese Mythen, besonders die alten nordischen mit ihrem stoischen Heroismus angesichts des sicheren Untergangs, und er verstand, sie in eine kreative Spannung mit dem christlichen Hintergrund seines Werkes zu setzen, der für einen großen Anteil des Erfolgs von Mittelerde verantwortlich sein dürfte. Christliche Heilsgewissheit allein ist langweilig, der Stoizismus im Angesicht von Ragnarök übermenschlich und daher wenig anrührend – vermengt man aber beides erhält man einen mitreißenden epischen Stoff.
  • Sagen und Mythen, in schwächerer Weise aber auch die moderne Fantasy, befreien den Menschen aus seiner Alltäglichkeit und erlauben eine Art geistigen Urlaub. Und sie erlauben die eingangs erwähnte Spekulation über das Verhalten unter außergewöhnlichen Umständen oder Möglichkeiten. Damit können sie erholend, unterhaltend, lehrreich und sogar sinnstiftend wirken, denn der Weg von Mythos zu Glaube ist ein kurzer Weg. Für Tolkien war die Erschaffung Mittelerdes und ihrer Geschichten Gottesdienst, für den Leser kann es dies auch sein, aber eben auch alles andere. Dies ist der dritte Punkt, der den Erfolg von Der Herr der Ringe erklärt.

Sicherlich sind weitere zutreffende Erklärungen für den Erfolg auch, dass Tolkien einfach ein begnadeter Erzähler war – übrigens auch zuhause vor den Kindern und abends im Pub – dass die Geschichte besonders anrührend und spannend aufgebaut ist und viele weitere Faktoren. Doch ich bin sicher, dass der wesentliche Punkt der Einklang der drei genannten ist und dazu führt, dass Tolkien in gewisser Weise neue, mythenartige Gebilde aus Stoffen wie wir sie kennen erschafft. Trotz Zauberern, Monstern und Magie wirkt seine Welt realistisch durch die geschickte Verarbeitung dessen, was Menschen seit Jahrtausenden in Glaube, Mythen und Sagen berührt. So kommt es, dass die allgemeine Attraktivität des Genres als eines Genres der unbegrenzten Möglichkeiten in diesem Werk seine nahezu perfekte Vollendung und den entsprechenden kultur-, geschlechter- und altersgrenzenübergreifenden Anklang findet.

Bleibt nur noch die Frage, ob das Genre und damit auch ein Beispiel seiner nahezu perfekten Umsetzung nicht doch Zeitverschwendung bedeutet. Zeitverschwendung könnte es sein, wenn Fantasy komplett unrealistischer Unsinn wäre. Aber dazu müssten wir wissen, was Realität ist. Mit Mikro- und Teleskopen können wir immer tiefer ins Allerkleinste und ins Weitestentfernte schauen. Die theoretischen Erkenntnisse der klügsten Forscher weisen auf N- Dimensionen, -Universen und auch auf N-Realitäten hin. Es wurde so kompliziert, dass selbst Einstein am Ende angesichts der theoretischen Physik von Gespenstern sprach. Und was das Denken angeht, so mehren sich die Hinweise, dass jedes Bewusstsein ganz individuelle Formen von Realität wahrnimmt. Da kann es nur gut sein, allen Äußerungen des menschlichen Geistes zunächst offen gegenüberzutreten. Wer weiß, vielleicht lernen Sie ja zu mögen, was sich dort finden lässt.

(Zuletzt geht die Sonne wieder auf)

Das war jetzt nur ein ganz kleiner Einstieg in Werk und Person Tolkien. Was Sie gerade lasen ist ein Vortragstext für eine Veranstaltung gewesen, auf der ich nur 25 Minuten Zeit hatte, völligen Tolkien-Agnostikern Mann und Buch nahezubringen. Sie finden auf polyoinos mehr als 40 Aufsätze, die das Thema vertiefen sowie – in der Rubrik Phantastik – weitere Arbeiten über die phantastische Literatur im Allgemeinen. Ich würde mich freuen, wenn Sie stöberten …

 

 

(Bochum 01/2009)