The theatre of my tale is this earth, the one in which we now live.
(J.R.R. Tolkien: Letters; Letter No. 183)


Französischer Archäologe weist nach:
J.R.R. Tolkien hat den “Herrn der Ringe” nicht erfunden!

Seit Langem schon wird immer wieder behauptet, dass Mittelerde nicht bloß eine Erfindung sein könne. Zu plastisch und kohärent sei das alles beschrieben, als dass ein Mensch es erfunden haben könne. Doch nie gab es einen Beweis für diese Vermutung.

Das hat sich jetzt geändert

 


 

Es ist wahr – Mittelerde hat existiert, ja in gewisser Weise existiert Mittelerde sogar immer noch, denn Arda, das ist unsere Welt! Der französische Wissenschaftler François Polyon hat herausgefunden, dass Mittelerde wirklich existierte und dass Tolkien gar keine fantastische Geschichte erfand, sondern echte historische Ereignisse dokumentierte. Mittelerde: Das ist diese, das ist unsere Welt! Polyon jedoch hatte vor, diese Ergebnisse für sich zu behalten. Dies könnte ihm immer noch gelingen, wenn niemand diesen Bericht liest und verbreitet. Kopiert diesen Text und postet ihn überall im Netz, denn der verrückte Franzose darf mit seinem Plan nicht durchkommen! Doch erst hört mir zu.

Vor etwa einem Monat rief mich ein Mann namens François Polyon an, weil er anhand meiner Website auf mich als Experten für Mythen und Okkultismen im Werk von J.R.R. Tolkien, des Schöpfers von Mittelerde, gestoßen war. Er lud mich ein, ihn auf seinem Anwesen in Gien an der Loire, ca. 60 km von Orléans entfernt, zu besuchen. Er wollte meine Meinung zu ein paar Funden erfahren, die er gemacht hatte. Am Telefon erweckte er den Eindruck in mir, dass er ein Tolkien-Fan sei, der sich wegen der Beurteilung kürzlich aufgefundener Briefe des britischen Autors an mich wendete. Da Polyon mir außerdem in Aussicht stellte, meinen Aufwand und alle Spesen großzügig zu begleichen, packte ich den Laptop ein und fuhr am nächsten Wochenende nach Frankreich. Gien ist über Paris kommend ziemlich einfach zu finden und das Schloss der Polyons, das etwas außerhalb des Städtchens liegt, kann man gar nicht verfehlen, denn es wird dominiert von einem schlanken Turm, der weit über die wehrhafte, spätmittelalterliche Anlage hinausragt.

Ich wurde äußerst liebenswürdig von meinem Gastgeber empfangen. Polyon ist von hohem, schlanken Wuchs. Er mag ungefähr Sechzig bis Mitte Sechzig gewesen sein. Er trug sein glattes, weißes Haar kurzgeschnitten und unter buschigen, hellen Brauen musterten mich dunkle, tiefe Augen aus einem scharf geschnittenen Gesicht. Nach der Begrüßung führte Polyon mich über sein Anwesen, während im Inneren das Abendbrot bereitet wurde. Wie mir mein Gastgeber bei der Führung erzählte, war “La Garde sur les Arbres”, so der Name des Anwesens, kein Erbstück der Familie, sondern wurde von Polyons Vater erst zehn Jahre nach dem Krieg erworben. Die Polyons waren im Rahmen der Befreiungsunruhen aus Algerien eingewanderte Staatsbürger Frankreichs, die im Tabakhandel mit Haiti und Kuba zu dem Reichtum gekommen war, der es ihnen erlaubte, diese stattliche Residenz im Loiretal zu erwerben. François, der zweitälteste Sohn der Polyons, hatte keinerlei Interesse an den merkantilen Tätigkeiten der Familie und fühlte sich von Kindes Beinen an zur Forschung, insbesondere auf den Gebieten der Geisteswissenschaften und der Geschichte hingezogen. Er studierte Geschichte, Archäologie, Philosophie und Psychologie in Paris, London, Bukarest und Kosiçe. Die beiden letzten Studienorte fielen mir als er dies erzählte noch gar nicht auf, – hätten mir Rumänien und die Slowakei nicht eine Warnung sein müssen? – doch wie sollte ich ahnen, was kommen würde. Nach Beendigung von Studium undPromotion verbrachte der Franzose viele Jahre auf der Suche mit Feldforschungen und Expeditionen.

Meine Freude war groß, dass uns nach der anstrengenden Fahrt und der ausführlichen Besichtigung ein köstliches Mahl serviert wurde, welches wir in zwangloser Unterhaltung – die sich jetzt fast nur um mich und meine Arbeit drehte – einnahmen. Gesättigt zogen wir uns in ein holzgetäfeltes Arbeitszimmer zurück, in dem mondernste Kommunikations- und Computertechnik mit beladenen Buchregalen und einem anheimelnden Kamin eine geborgene aber konzentrierte Arbeitsatmosphäre erzeugten. Die vorige Ungezwungenheit meines Gastgebers wich nun einer fühlbaren Spannung und er begann, mich über den Zweck meines Besuches aufzuklären. Ich hatte mir, wie Ihr wisst, über Jahre hinweg einen Namen als Tolkienkenner erarbeitet und war doch recht gespannt was mich erwartete. Ich sollte den Höhepunkt meiner Forschungsanstrengungen erfahren, wie mir bald klar wurde.

Polyon fing an detailliert seine Arbeit zu beschreiben, die zunächst nichts mit Tolkien zu tun hatte. Zum Thema “Herr der Ringe” war Polyon gar nicht, wie ich erst angenommen hatte, als Fan gekommen, sondern aufgrund seiner archäologischen Forschungen. Polyons ursprüngliches wissenschaftliches Interesse galt der Besiedlung Europas durch den modernen Menschen. Die Paläontologie als Fachwissenschaft der menschlichen Urgeschichte streitet seit langem über die Wege auf und die Zeitpunkte zu denen der Mensch gegen Ende des Pleistozäns Europa eroberte, in Besitz nahm und sesshaft wurde. Polyon hatte sich vorgenommen, diesen Streit ein für alle Mal zu entscheiden. Den Schlüssel sah er im Gebiet des Oberrheins. Die Gegend um Freiburg und Straßburg weist nördlich der Alpen das angenehmste und fruchtbarste Klima Europas auf, also lag die Überlegung nahe, dass dies der Ort sein müsse, an dem wandernde Nomadengruppen sich zuerst niederlassen würden. Die Höhenzüge des Schwarzwaldes und die Vogesen weisen zwar nicht so viele leicht zu besiedelnde Höhlen wie die gar nicht so weit entfernte Dordogne auf. Hier liegt ja veispielsweise die Höhle von Lascaux mit ihren berühmten steinzeitlichen Wandmalereien, diebeweisen, dass der Mensch schon früh zu kulturellen Hochleistungen in der Lage war. Doch von der andersartigen geologischen Struktur des Breisgaus ließ Polyon sich nicht aufhalten. Nie hätte ich gedacht, dass Lascaux in Wirklichkeit nur ein Beweis für den tiefen Fall der Menschen war.

Der Franzose begann, an den Hängen von Schwarzwald und Vogesen auf der Suche nach Spuren einer Besiedlung zu graben, die mindestens 30.000 Jahre vor Christi Geburt liegen sollte. Viel Zeit und Geld verschlang das Unternehmen ohne das sich Funde hätten zeigen lassen, die vor die Bronzezeit zu datieren gewesen wären. Die Fachwelt fing an, sich über Polyon und seine eifrige aber fruchtlose Suche zu mokieren. Er verlor zunehmend an Ansehen bei seinen Kolleginnen und Kollegen und brach den Kontakt mit der etablierten Wissenschaftswelt irgendwann verbittert ab. Als er dies erzählte, war ich geneigt, mich unter Vorwänden aus seinem Schloss davonzustehlen. Zu sehr schien mir seine Erzählung auf einen verbitterten Sektierer hinauszulaufen, der die Schuld immer nur bei anderen aber nie in den eigenen Wahnvorstellungen sucht. Doch die einnehmende, edle Erscheinung Polyons hielt mich irgendwie zurück. Auch wenn seine Erzählung anfangs wenig Substanz aufzuweisen schien, so brachte er sie doch mit sanftem Tonfall vor, dass es eine Freude war, allein die Stimme sprechen zu hören. Ich blieb und hörte weiter zu.

Allein das von der Familie im Handel erworbene Vermögen erlaubte es Polyon, seine Forschungen weiter zu führen, nachdem er die Fachwelt aufgegeben hatte. Vater, Mutter und der ältere Bruder waren in den Siebzigern mit dem Privatflugzeug der Familie abgestürzt, so dass niemand dem jüngsten Polyon mehr drein reden konnte, der mehr und mehr des ererbten Reichtums in Grabungen am Oberrhein versenkte. Und eines Tages kam dann doch noch der Durchbruch. Etwa 15 Kilomter nördlich von Thann, am Fuße des Hohneck stieß man auf etwas. In einer Verwerfungssenke, die aufgrund von Erdbewegungen vor etwa einer Million Jahren aus dem Erdinnern ausgespien worden war, fand der Franzose eine Höhlung, die sich als gemauertes Gewölbe herausstellte. Mauerwerk – in einer Erdschicht, die älter war als der Mensch! Vor einer Million Jahren und mehr war an den Homo sapiens noch nicht zu denken gewesen. Gerade hatten sich in Afrika die ersten Urahnen des Menschen auf zwei Beine erhoben als in Europa Mauerwerk entstanden sein sollte?

Was immer auch an organischen Substanzen in der Höhlung gewesen sein mochte war lange zu Staub zerfallen. In einer Ecke auf einem Mauervorsprung fand Polyon jedoch ein Artefakt aus bearbeitetem Metall. Es war eine Spange in Form eines grünen Blattes, duchzogen von silberner Aderung. So fein ziseliert war das Schmuckstück, das seine Herstellung wohl die Kunstfertigkeit des besten heute lebenden Goldschmieds übersteigen würde. Dies sollte entstanden sein als die Vorfahren des Menschen gerade mal erste primitive Faustkeile aus dem Fels schlugen? Der Franzose musste auf einen Schatz gestoßen sein, den irgendein Legionär oder Ritter in der Antike oder später dort versteckt hatte. So lautete zumindest mein spontan eingeworfener Erklärungsversuch. Doch Polyon bestand darauf, dass das Artefakt viel, viel älter sei. Er sagte, er habe es und seinen Fundort mittels der äußerst zuverlässigen Radio-Carbon-Methode auf über drei Millionen Jahre datieren können.

Und dann stand er auf, öffnete ein kleines aus Eichenholz gefertigtes Kistchen auf seinem Schreibtisch und entnahm ihm die Spange. Ich war mir nun sicher, dass ich einen gewaltigen Bären aufgebunden bekommen sollte. Denn ich kannte dieses Artefakt. Ich kannte die Spange ebenso gut wie ihr alle sie sofort erkannt hättet. Die Form, die Farben Grün und Silber und die Filigranität der handwerklichen Gestaltung ließen keinen Zweifel: Dies war eine der Spangen, die Tolkien als jene beschrieben hat, die die Elben von Lothlórien an die acht Überlebenden der Gemeinschaft des Ringes verschenkten.

Ich war perplex, erschrocken, dann aber belustigt. Es konnte nur ein elaborierter Scherz sein! Machte man sich mit versteckter Kamera über mich lustig? Polyon erkannte meinen sich Bahn brechenden Unglauben. Die große Gestalt des Forschers kniete vor mir nieder, sein Gesicht jetzt auf der Höhe des meinen. Er umfasste meine Schultern und ein brennender Blick bohrte sich in meine Augen: “Es ist wirklich wahr! Spüren Sie es denn nicht? Nehmen Sie die Spange! Spüren Sie sie! Fühlen Sie! Hören Sie auf ihr Herz!” Die Stimme schlug mich nun völlig in ihren Bann und eine Ahnung der Wahrheit begann in mir aufzusteigen. Aber Polyon ließ mich los. Er sprang auf und begann wie innenwärts gehetzt durch das Zimmer zu schreiten. Die Spange, obwohl doch kühl und samten in der Berührung, schien in meiner Handfläche zu brennen.

Polyon fuhr fort zu reden und öffnete gleichzeitig einen großen Wandschrank, dem er eine gewaltige Mappe entnahm. Er holte hochauflösende Satellitenfotos und Luftaufnahmen hervor, von denen keine weniger als 1,5×1,5 Meter messen konnte und legte sie auf dem Boden vor mir aus. Dann bewegte er sich zur einzigen Wand, an der keine Regale waren, betätigte einen Schalter und etwa drei Quadratmeter der Täfelung glitten zur Seite, um den Blick auf eine detaillierte Landkarte Europas freizugeben. Polyon befahl mir, zuerst die ausgebreiteten Fotos zu betrachten. Seine Stimme war nun intensiv, schneidend, fordernd geworden. Einige der Aufnahmen zeigten, soweit ich dies zu erkennen vermochte, den Oberlauf des Rheins aus sehr großer Höhe. Auf anderen Aufnahmen konnte ich die Landschaften nicht erkennen, es schien sich um Wälder und Berge mit verinezelten Dörfern und kleinen Städten zu handeln, doch es gelang mir nicht, sie geographisch einzuordnen. Eine weitere Kategorie von Bildern zeigten wie mir schien auch Landschaften, aber die Farben waren völlig falsch und die abgebildeten Formationen bildeten Winkel und geometrische Figuren, die mir als unnatürlich erschienen.

Der Forscher begann zu erklären. Bei den Aufnahmen, die ich zu erkennen vermeinte, handelte es sich in der Tat um das Gebiet zwischen Colmar im Norden, Freiburg im Osten, Basel im Süden und Remiremont im Westen. Auf den Falschfarbenfotos gelang es mir unter Polyons Anleitung nun so etwas wie einen Stadtplan zu erkennen. Die Falschfarben rührten davon her, dass ich Aufnahmen der Landschaft vor mir sah, die mit Boden- und Tiefenradar aus dem Weltraum angefertigt worden waren und aus denen ein Computer wie bei einer Computertomographie des Menschen ein Abbild des Inneren der Erde errechnet hatte. Polyons Erläuterungen erlaubten mir langsam, die Strukturen zu interpretieren. Es schien sich um eine große Stadt zu handeln, die sich in großer Tiefe entlang eines runden, südöstlichen Ausläufers des heute als Hohneck bekannten Berges in den Vogesen erstreckte. Die Gesteinsschicht war in der Tiefe viel steiler als am Erdboden und die Stadt drängte sich in konzentrischen Kreisen immer höher um die aufsteigende Schicht. Ich zählte sieben Kreise! Es gibt nur eine Stadt, für die ein solcher Aufbau beschrieben ist: Minas Tirith, die Hauptstadt Gondors, Sitz des hohen Königs Aragorn und seiner Erben. Eine Fälschung, es muss eine Fälschung sein schrie es in mir.

Ich musste es wohl laut ausgerufen haben, denn Polyon schüttelte mich plötzlich und mahnte mich, Ruhe zu bewahren. Er bestürmte mich mit Fragen, die mir die Möglichkeiten vor Augen führen sollten, seine Stimme von hypnotischer Kraft erfüllt. Konnte es denn nicht sein? War denn diese Geschichte vom Ringkrieg nicht genauso überzeugend wie nur irgendein Mythos? War denn nicht auch die Sage von der Zerstörung Trojas wahr, wie man heute weiß? War denn irgendetwas an den Mythen Mittelerdes unglaubwürdiger als der Olymp, die Edda oder die Artussage, mittels derer Menschen sich die Welt früher zu erklären versuchten? Die Ahnung wurde stärker. Ich erinnerte mich an einen Vortrag des bekannten Tolkienforschers Friedhelm Schneidewind, in dem er nachgewiesen hatte, dass der Mythos von Mittelerde genauso geschlossen und überzeugend ist wie nur irgendein Mythos. “Stehen denn in der Bibel nicht fast die gleichen Dinge wie im Silmarillion?”, drängte Polyon inquisitorisch. Das Gleiche? Das Gleiche! Wie nun …, wie nun, wenn Tolkien nicht aus der Bibel abgeschrieben hätte.

“Sie sind der Experte für Mythologien!”, rief Polyon mir den Grund meines Hierseins ins Gedächtnis. Meine Gedanken kreisten immer schneller. Das Silmarillion erzählt von der Erschaffung der Welt aus der Musik, die Gott – Iluvatar – erdacht hat und die seine Engel spielen. Aus der Melodie erwächst der Kosmos Mittelerdes. Der begabteste unter den Engeln aber fällt von Gott ab und will selbsttätig etwas erschaffen, auf dass es nur ihm angehöre und durch diese Tat wird er zur Verkörperung des Bösen, zu einem Teufel. So kommt das Unheil als Dissonanz in die Welt, um die fortan die Engel und die Teufel Krieg führen. Genauso überliefert der christliche Glaube die Geschichte Luzifers. Was wäre, wenn nun der andere Mythos der ältere wäre?, schoss es mir durch den Kopf. Was, wenn der andere Mythos der wahre wäre? Tolkien war ein Wissenschaftler. Er war ein Philologe und Forscher, der sein Leben damit verbachte, alten Mythen nachzugehen. Ungezählte Archive und Bibliotheken öffneten sich seinerzeit dem geschulten Auge des berühmten Engländers. Konnte der Gelehrte da nicht über alte Erzählungen gestolpert sein, die die andere und doch so ähnliche Schöpfungsgeschichte erzählten? Hatte er vielleicht Fragmente entdeckt, auf denen etwas davon festgehalten wurde? Konnte es nicht sein, dass es das rote Buch wirklich gab? Humphrey Carpenter, so erinnerte ich mich jetzt, erzählt in seiner Biographie des großen Autors, dass dieser über Mittelerde weniger wie ein Erzähler als vielmehr wie ein Forscher zu sprechen pflegte. Wenn beispielsweise einer der zahlreichen Fans sich an Tolkien wandte, weil er meinte, einen Fehler oder eine Ungereimtheit in den Erzählungen des Professors gefunden zu haben, so machte dieser sich wie ein Forscher daran, dem nachzugehen. Er betrieb dann Quellenstudium! Nur welche Quellen mochten dies in Wahrheit gewesen sein?

Mein Widerstand begann zu wanken. Doch tapfer wandte ich ein, dass die Archäologie doch längst Hinweise auf eine solche Vorzeit gefunden haben müsste. Ich wies darauf hin, dass unsere Erde nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mittelerde habe und dass die Geologie ihre Gestaltwerdung lückenlos zu erklären vermag. Ich erinnerte daran, dass unsterbliche Wesen, Monster und Magie reine Hirngespinste sind, mit denen Menschen versuchen, sich die Welt zu erklären bis die Naturwissenschaften beweisen, wie sie wirklich ist und dass es über die materielle Welt hinaus nichts gibt.

“Ist das so?” fragte Polyon. Er hatte plötzlich eine Fernbedienung in Händen, mit der er in Richtung der Landkarte deutete. Wie ich erst jetz sah, war es gar keine Landkarte, sondern ein großer Bildschirm auf dem sich nun langsam die Umrisse Europas zu verändern begannen. Während ich noch schaute sprach Polyon: “Was wissen wir denn wirklich sicher über die Beschaffenheit des Universums? Sicher haben die Physiker und Chemiker und Biologen ein gewaltiges Formelwerk erarbeitet, mit dem sie meinen beweisen zu können, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, wie die Materie aufgebaut ist und wie das Leben tickt und sich entwickelt. Doch an den Grenzen ihres Wissens sind sie unwissend, da gehen ihnen die Erklärungen aus. Sie suchen nach der großen vereinheitlichten Theorie, die die Welt erklären soll und finden sie nicht. Stattdessen treffen sie auf Quarks und Gluonen und Teilchen, die miteinander in einer unerklärlichen Verbindung stehen, selbst wenn ganze Galaxien zwischen ihnen liegen. Nur auf Grundlage dieser Unwissenheit entwickeln sie die Sicherheit, mit der sie uns erklären, dass es Magie, Geist und Unsterblichkeit nicht geben kann.”

Ich hatte kaum zugehört, denn die Veränderung Europas auf dem riesigen, hypermodernen Bildschirm in diesem alten, dunklen Arbeitszimmer nahm mich zusehends gefangen. Es war eine Computersimulation, die zeigte, wie sich die Gestalt des Kontinents veränderte, während links oben eine Uhr rückwärts lief und Jahrtausende in immer weiter zurückliegender Vergangenheit anzeigte. Die Vogesen veränderten ihre Gestalt, sie wuchsen und verlagerten sich von Nord-Süd- in Ost-West-Ausrichtung, während die Alpen gleichzeitig immer flacher wurden. Im Norden erhob sich der Boden der Nordsee und verdrängte das Meer während der norwegische Bergrücken immer weiter anwuchs. Dann waren die Alpen plötzlich so niedrig geworden, dass das Mittelmeer immer weiter heran rückte und der Rhein seine Flussrichtung umkehrte, um nun in den neuen, gewaltigen Gebirgen des alten Skandinavien zu entspringen und sich aus dem Norden in das ehemalige (eigentlich zukünftige) Mittelmeer zu ergießen. Zu einem gewaltigen Strom war der spätere Rhein dabei angeschwollen: Zum Anduin. Im Osten war während dessen den nordöstlich verlaufenden Erhebungen der Karpaten eine südwestliche Entsprechung erwachsen, aus dem was einmal die kargen Mittelgebirgslandschaften Serbiens, Mazedoniens und Bulgariens gewesen war. Große Teile des ehemaligen Rumäniens waren nun gänzlich von Gebirgen umschlossen. Teile der nördlichen Ägäis wurden ebenfalls von diesem Gebirgsring eingefasst: Ich sah auf Mordor und das Nûrnenmeer. Damit war es aber bei weitem nicht genug, denn die Karte selbst veränderte ihre Gestalt bis ganze Kontinente den Konturen glichen, die von Tolkien gezeichnet und überliefert wurden. Das sich Richtung Norden ausdehnende Mittelmeer wandelte sich in die Umrisse der Bucht von Belfalas während sich ganz Afrika Richtung Osten verlagerte. Oberhalb von Skandinavien machte das Nordmeer den eisigen Ebenen über dem Grauen Gebirge Platz. Skandinavien selbst schrumpfte in der Breite und wuchs in die Höhe zum Nebelgebirge. Wo einst Oslo sein würde öffnete sich die Pforte von Rohan. Ganz Osteuropa wandelte sich zu den öden Ebenen Wilderlands und vom Ural blieben nurmehr die Eisenberge übrig. Die sibirischen Ebenen und Rhûn waren eins geworden, während im Süden das schwarze Meer nach Osten wanderte und zum Meer von Rhûn wurde. In das Meer von Rhûn floss jetzt der Dnjepr unserer Welt im durch Tolkien überlieferten Bette des Celduin durch die ehemalig-zukünftige Ukraine, aus der die Karte Dorwinion hatte werden lassen. Da wo heute die britischen Inseln und die Nordsee liegen, erstreckten sich nun die Weiten von Eriador und das Auenland lag exakt da, wo in Tolkiens Jugendzeit die grünen Hügel Mittelenglands zu finden waren. Ich glaube, in dem Augenblick als ich das sah, war ich innerlich überzeugt, das Polyon Recht haben musste, auch wenn ich es mir natürlich noch nicht eingestehen wollte. Es war ja nur eine Computersimulation, oder? Jeder zweite Teenager wäre in der Lage gewesen, so etwas zu programmieren …

Es war spät geworden als Polyon mich aus der Betrachtung der sich wandelnden Karte aufschreckte, um mir nun auch noch zu erklären, warum seiner Meinung nach nie eine Spur der ursprünglichen Reiche gefunden worden war. Er ermahnte mich, an die Fülle der vergangenen Zeit zu denken. Natürlich wisse ich, so meinte der Franzose, dass die Erde die Gestalt ihrer Kontinente, die auf dem flüssigen Kern der Erde schwimmen, aufgrund der Plattentektonik ständig verändere. Gerade in Gebieten großer Gebirgsauffaltungen und -senkungen sei es leicht möglich, dass hunderte von Kulturen spurlos versänken. Und dass die Sage des Untergangs von Atlantis als verschwommene Kollektiverinnerung an Númenor genauestens in das Bild passe, brauche er wohl kaum besonders zu betonen. Ich war zu aufgeregt und gleichzeitig zu müde, um den Fehler zu bemerken, der sich in des Archäologen Argumentation verbarg.

In den nächsten Tagen unterzog Polyon mich auslaugenden Verhören, in denen er mich jede Winzigkeit referieren ließ, die ich je über die Mythen unserer und aller anderen Welten erfahren hatte. Dann ließ er mich jedes Stück an Information, das ich ihm geben konnte, in alle möglichen und unmöglichen Richtungen interpretieren. Ich kam kaum zu Atem in der folgenden Zeit. Sonst hätte ich wohl auch früher bemerkt, dass die ganze Argumentation Polyons nur auf Fotos beruhte, deren Deutung ich nicht wirklich überprüfen konnte, weil mir die Ausbildung dazu fehlt, und dass ich ihm das einzige handfeste Beweisstück – das angebliche Alter der blattförmigen Spange aus Lothlórien – einfach glauben musste. Sicher gab es verblüffende Indizien, doch wie weit trugen die? Rumänien, da wo Mordor nach Polyons Logik einst gelegen haben musste, war immer schon als unheimlich verschrien gewesen. Konnten dort nicht Reste alten Übels überlebt haben, die sich dann etwa in der Sage vom blutdürstigen Grafen Dracula niederschlugen? Und kamen die ersten Gerüchte über angebliche Wehr- und Riesenwölfe nicht auch aus diesem Gebiet? Konnten nicht ein paar der Warge überlebt und sich auf unheilige Weise fortgepflanzt haben? Biologen berichten sogar, wie ich mich eines abends in der GEO gelesen zu haben erinnerte, über außergewöhnlich große und hässliche Spinnen in der Küstenregion um Podgorica in Montenegro, einer Gegend in der sich einst der Weg befand, auf dem Frodo und Sam in Mordor eindrangen. Und was war mit den Heldensagen aus den Gebieten, in denen einstmals Gondor und Arnor gelegen haben mussten – den Sagen um Artus, Dietrich von Bern, Siegfried und Hagen von Tronje? Oder den geschichtlich verbürgten Menschen wie dem Ostgotenkönig Theoderich und seinen Mannen. Waren dies alles nicht Beschreibungen von Menschen wie sie Tolkien uns ähnlich – wenn auch mächtiger und herrlicher – von Elendil und Isildur überliefert hat?

Die Hinweise verdichteten sich in meinen Augen. Aus Zweifel wurde Möglichkeit, auf dem Boden der Möglichkeit wuchs die Überzeugung. Nach ungefähr drei Wochen begann ich, Polyon zu bedrängen, dass wir die Sensation publik machen müssten. Doch er weigerte sich beharrlich. Spätestens hier hätte ich Verdacht schöpfen müssen. Doch ich war blind. Mein einziger Gedanke galt der Sensation. Sicher, es war François Polyon, der die Entdeckungen gemacht hatte und auf den der Ruhm fallen würde. Doch wer lieferte denn die ganzen hermeneutischen Beiträge zum Verständnis der Funde? Das war ich! Und an mich würde man sich wenden müssen, wenn man verstehen wollte, was unser Fund bedeutete. ‘Närrischer Weinreich’ hätte mich Gandalf wohl genannt, wenn er zugegen gewesen wäre. Polyon weigerte sich beharrlich, an den Schritt in die Öffentlichkeit auch nur zu denken. Ich sann, ob ich es alleine wagen sollte. Doch was hätte ich ohne den Archäologen in der Hand gehabt? Ich überlegte sogar, die Spange zu stehlen, doch die war sicher in einem für mich unzugänglichen Tresor verwahrt.

Polyon wollte jedoch nicht nur nichts von der Öffentlichkeit hören, er zog sich auch von mir zurück, so als ob ich ihm nun alles gegeben hätte, was für ihn von Nutzen war. Um so mehr Zeit blieb mir, mich weiter mit den Beweisen zu beschäftigen. Polyon besaß eine Reihe von geologischen Werken, die sich mit der Erdentstehung befassten. Um die Verschiebung der Kontinente nachzuvollziehen, begann ich in einem einführenden Buch zu lesen. Und sofort fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Plattentektonik geschieht viel zu gemächlich, um all die Umwälzungen zu bewirken, die des Archäologen Computersimulation zeigte. Ganz davon abgesehen, dass die Driftrichtung der Kontinentalplatten es unmöglich macht, dass sich Europa wirklich in der projizierten Weise aus der alten Welt Tolkiens hätte entwickeln können. Eigentlich hätte ich mich dessen noch aus meiner Schulbildung erinnern müssen. Aber ich war zu begierig gewesen, die Sensation zu glauben.

Ich hatte nun viel Zeit, da Polyon sich nicht mehr für mich interessierte. Also ging ich noch einmal die Sammlung von Boden- und Tiefenradaraufnahmen durch, die der Forscher angefertigt hatte. Alles Unsinn! Doch so langsam hatte ich mich in die Interpretation der Bilder eingelesen und mir fiel ein Detail auf, das mir vorher entgangen war. Unterhalb von Rumänien waren merkwürdige Fließaktivitäten des Tiefenmagmas zu sehen. Sie bildeten Strudel und Ströme, die mir mächtig genug erschienen, um sich gegen die übliche Drift der Kontinentalplatten durchzusetzen. Verfolgte man die Wirbel zurück, so war es, wie mir schien, möglich, dass sich die Entwicklung Europas doch so abgespielt haben konnte, wie der Computer in Polyons Arbeitszimmer es simuliert hatte. Alles lief auf einen Fokus an Aktivität hinaus, der recht genau unterhalb der Stadt Sibiu am Fuße des Berges Cándrelu am Nordrand der Südkarpaten zu lokalisieren war. Es sah fast so aus als wölbe sich ein großer Lavadom dort auf, es sah aus als versuche etwas, dort an die Oberfläche zu gelangen. Ich wollte den Computer mit den Verwirbelungsdaten füttern als ich einen Luftzug am Hinterkopf zu spüren meinte. Im nächsten Augenblick wurde es schwarz um mich herum.

Ich erwachte mit dröhnendem Schädel im höchsten Turmzimmer von Polyons Schloss. Jeglicher Ausgang war verschlossen und auf mein Rufen kam keine Reaktion. Ich sitze immer noch hier. Seit zwei Tagen ohne Wasser und Nahrung. Ich glaube der Bastard will mich verdursten lassen. Doch Polyon hat übersehen, dass ein alter, kaputter Rechner hier oben steht. Nur ist der nicht mehr kaputt, denn ich habe ihn zum Laufen bekommen. Das Gerät besitzt ein Modem und über den Powerlinezugang, der das ganze Schloss mit dem Netz verbindet, habe ich Zugriff auf das Internet und meine Website. Ich habe die letzten Stunden damit verbracht, diesen Bericht aufzuschreiben und werde ihn gleich an Facebook, an meine Homepage, an die Bibliotheka Phantastika und andere Stellen übermitteln. Von dort aus müsst ihr ihn weiter verbreiten, denn alle Welt muss von Polyons Plan erfahren! Mein Schicksal ist bedeutungslos – geht nach Sibiu und haltet ihn auf! Es ist unsere letzte Chance!

Soeben verlässt eine Kolonne von LKWs “La Garde sur les Arbres”. Sie haben eine gewaltige Bohrausrüstung geladen, so wie das Equipment, das man braucht, um in grosser Tiefe nach Öl zu bohren. Man muss ihn aufhalten! Er darf ihn nicht bekommen! Den Schatsssss …

(© Frank Weinreich 02/02)