I bow not yet before the Iron Crown,
nor cast my own small golden sceptre down.
(J.R.R. Tolkien: Mythopoeia, Zeilen 129-130)
Fantasy im Aufbegehren gegen die Moderne
Tolkien und die Romantik
© Frank Weinreich
Einleitung
Mittelerde ist eine Welt voller Geheimnisse, natürlicher Schönheit und eine Welt voller Gefahren.
In der Dichtung, die von dieser Welt erzählt, stellen Mut, Ehre, Freundschaft und die Liebe die Kernelemenente dar. All das verbindet man im Allgemeinen auch mit der Romantik, ist sie doch die Kunstrichtung, die in der Traumvision des Heinrich von Ofterdingen die „Blaue Blume“ zum unsterblichen Symbol all dieser Topoi gemacht hat. War Tolkien also Romantiker? Ist die Mittelerdedichtung ein romantisches Werk, das nur mehr als einhundert Jahre nach deren Blütezeit in Europa entstanden ist? Steht der Professor also in einer Traditionslinie mit den Größen der Romantik: die Gebrüder Schlegel, Novalis, Chateaubriand, Baudelaire, Percy Shelley und Lord Byron? Dieser Frage möchte ich in dem folgenden Vortrag nachgehen.
Dabei geht es mir allerdings nicht darum, typische romantische Themen und Stile herauszuarbeiten, um sie dann an Tolkiens Werk anzulegen, auch wenn das vielleicht die zunächst naheliegende Vorgehensweise wäre. Die Romantik war jedoch nicht einfach eine bestimmte Ausdrucksform schwärmerischer Verzückung, die heutzutage im Deutschunterricht nervt, sondern bedeutete vielmehr zuerst eine rebellische Geisteshaltung, die gegen einen als ernüchternd empfundenen Zeitgeist aufbegehrte. Dieser Zeitgeist wiederum war bestimmt von einer (Über-)Rationalisierung der Weltanschauungen in Europa und Nordamerika im Zeichen von Aufklärung und Frühindustrialisierung.
Gegen diese ernüchterte Weltsicht begehrte die Romantik auf. Das bedeutet aber, dass Romantik auch und vielleicht sogar in erster Linie Wissens- und Wissenschaftskritik ist und dass ihr eine bestimmte Form der Erkenntnistheorie unterliegt. Romantik geht es wie der Wissenschaft darum, was man wissen kann.
Erkenntnistheorie, Wissenschaft und Kunst in der Weltsicht Tolkiens sind es deshalb, die ich untersuche, wenn ich die Frage stelle, ob Tolkien ein Romantiker war beziehungsweise ob sein Werk ein romantisches ist. Und diese Frage stellt sich nicht nur bei der Mittelerdedichtung, sondern auch angesichts der anderen fiktionalen Werke und angesichts der Fachpublikationen. Und es ist in meinen Augen eindeutig: Ja, Tolkien war Romantiker, gerade in Hinsicht auf erkenntnistheoretische und epistemologische Überzeugungen.
Doch was macht die Romantik eigentlich aus und was hat sie mit der Fantasy zu tun?
Romantik und Fantasy
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm; so heißt es oft, wenn die Merkmale von Eltern oder Großeltern mit denen ihrer Nachkommen verglichen werden. Und das gilt auch für geistige Nachkommenschaften, etwa für die Fantasyliteratur als ‘Kind’ der Romantik. Neben Themen und Inhalt beider literarischer und künstlerischer Strömungen sind es besonders die eigentlichen Anliegen von Romantik und Fantasy, die auf die Verwandtschaft hinweisen:
Beide versuchen – zwar auf unterschiedliche Art und Weise, aber mit den gleichen Absichten – mit der Nüchternheit der rationalen Moderne abzurechnen und eine alternative Weltsicht zu etablieren. Nur haben die Autorinnen und Autoren der Fantasy gelernt, dass es beim Träumen bleibt und dass die Alternative zur ernüchterten (ernüchternden?) Moderne spielerische Spekulation bleiben muss.
Doch auch das Spiel – oftmals gerade das Spiel –
vermag das Bewusstsein zu ändern und so durch die Hintertür effektiv zu werden.
Was ist damit gemeint? Die Romantik war eine Bewegung des Aufbruchs und des Ausbruchs aus einer zunehmend rational gewordenen, aufgeklärten Welt. Es war ein Aufbruch und Ausbruch zurück zum Spirituellen und zur Metaphysik, zurück zum Glauben daran, dass es mehr gibt als das, was wir mit unseren Sinnen und Messinstrumenten erfassen können. Der Dichter Novalis, Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg, brachte den Hauptgedanken der Romantik auf den Punkt: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es“ (Novalis II, 334). Das ist zwar keine Bestimmung von Wissenschaft im herkömmlichen Sinne, aber es ist die Formulierung einer Position, die die Rationalität der Wissenschaften angreift, indem Nichtwissen und dem geheimnisvollen Unbekannten ein besonderer Stellenwert verliehen wird. Charles Baudelaire verfeinert das dann 1846 zu: „Die Romantik lässt sich präzise weder in der Wahl ihrer Inhalte noch in exakter Wahrheit bestimmen, sondern nur in der Art und Weise des Fühlens“ (Baudelaire 1846, meine Übersetzung).2 Es geht also im weiteren Sinne um eine Rehabilitation des Irrationalen gegenüber einer als nur noch rational empfundenen Welt. Wer wollte den Romantikern das verdenken, der Mensch ist schließlich auch selbst kein rationales Wesen, sondern allenfalls der Teilrationalität fähig.
Aber nicht nur die angefeindete Wissenschaft und theoretische Weltanschauungsfragen bewegten die Romantiker. Die Romantik war auch eine Bewegung des Neuanfangs, geboren aus der Erfahrung der französischen Revolution. Denn der Sturz der absoluten französischen Monarchie war in gewisser Weise herbeigeschrieben worden; Dichter und Denker gehörten zu ihren Protagonisten. Damit war der Beweis erbracht, dass Denken und Schreiben die Welt verändern können (vgl. Safranski 31). Zu Dichtern, die besonders von der Revolution beeinflusst wurden, gehörten unter anderen die Briten William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge. Mindestens von Coleridge ist bekannt, dass er Einfluss auf Tolkien gehabt hat – man denke nur an die Bedeutung, die er der willentlichen Aussetzung des Unglaubens beimaß; ein Terminus, der von Coleridge stammt („willing suspension of diesbelief“; Coleridge 1975, Vol. II, XIV, S. 169) – und natürlich kannte er auch die Werke Wordsworths.
Und genau das – Romantisieren im Sinne von Novalis, das Gefühl über die Ratio stellen wie Baudelaire und gedanklich zu neuen Ufern aufbrechen wie es nach der französischen Revolution in ganz Europa geschah – das ist in einem gewissen Sinne auch, was die Fantasy auszeichnet. Darin folgt Fantasy der Romantik, darin ist sie ein Kind der Romantik, der sie im Auftreten oftmals (zumindest in der High Fantasy) so stark ähnelt, dass man sie beinahe auch als romantische Literatur bezeichnen könnte. Rüdiger Safranski schreibt in seiner Analyse der Romantik: „Die Romantik ist eine Epoche. Das Romantische ist eine Geisteshaltung, die nicht auf eine Epoche beschränkt ist“ (Safranski 12). Und wenn das stimmt, so stimmt es auch dann, wenn man von dem bei Safranski fast allein auf deutsche Kunst und Literatur begrenzten Romantikbegriff auf einen weiteren Begriff ausweicht, der die „Romantik in ihrer [die] Nationalgrenzen überschreitenden Weitläufigkeit“ (Hardebusch 2008) einbezieht. Und Friedhelm Schneidewind spricht denn universell von der Phantastik auch als von „jenem Genre, das von manchen als legitimer Nachfolger [der Romantik] betrachtet wird: in der phantastischen Literatur, besonders in ihrer modernen Spielart der Fantasy. Schließlich wird die so genannte High Fantasy auch gerne als Romantic Fantasy apostrophiert, und nicht unerhebliche Teile der Dark Wave- oder Gothic-Szene sehen sich selbst als Nachfolger der Romantik, als Dark Romantics“ (Schneidewind 2006). Diese von Schneidewind gemeinte enge Verbindung von Fantasy und Romantik wird vielleicht gerade in der Mittelerdedichtung besonders deutlich sichtbar.
Aber Fantasy ist doch nur beinahe romantische Literatur, denn in einem ganz wesentlichen Punkt unterscheidet sie sich von der Romantik. Worin besteht dieser Unterschied? Die Romantik war die Erscheinung einer bestimmten historischen Zeit, die man im engeren Sinne als die Zeit von der französischen Revolution 1789 bis zum Tode E.T.A. Hoffmanns im Jahr 1822 ansieht. Bezogen auf die Künstler dieser Zeit und vielleicht noch der folgenden 40 oder 50 Jahre (der zitierte Baudelaire etwa wurde erst 1821 geboren) kann man eine Feststellung treffen, die so für das 20. Jahrhundert in dieser spezifisch romantischen Ausprägung sicher nicht mehr zu belegen ist. Die Dichter und Denker der Romantik glaubten, zumindest mehrheitlich und zu der Zeit als sie ihre Gedanken aufschrieben und publizierten, an die Überzeugungen, die sie ausdrückten. Und ihre Leser- und Zuhörerschaft folgte ihnen dabei: Auch das Publikum glaubte an die Ideen der Romantik oder wollte zumindest daran glauben. Dichter und Publikum waren davon überzeugt, dass das Sein einen tieferen Sinn habe. Sie glaubten, dass es eine erfahrbare Unendlichkeit hinter den engen Grenzen der physischen Welt gäbe. Sie teilten den Glauben an ein „wahres“ Wesen der Dinge, das über seine materielle Erscheinungsform hinausgeht. Und sie teilten die Überzeugung, dass es möglich ist, die Welt mit Hilfe ihrer spirituellen Erkenntnisse zu verändern und zu verbessern. Dichter und Publikum waren sich einig darin, dass es sinnvoll sei, Novalis´ blaue Blume zu suchen.
Dieser Glaube ist der Fantasy und ihrem Publikum nicht mehr gegeben. Sicher gibt es die Mystiker und Spiritualisten, die auch heute noch an das von Novalis Romantisierte, an den höheren Sinn, an das Geheimnisvolle und das zwangsläufig Unbekannte glauben. Und auch manche Autorin, mancher Autor mag dazu zählen. Die meisten Schreibenden jedoch dürften sich darauf beschränken, phantastische Geschichten erzählen zu wollen, ohne den transzendentalen Überbau als Fakt anzusehen. Die Romantik bediente sich des Mythos, des mythischen Denkens und der mythischen Überlieferungen und Ihre Künstler glaubten zumindest teilweise an ihre Wahrheit (viele Romantiker kehrten sich in späteren Lebensjahren von diesen Überzeugungen ab und spirituell dann meist einem konventionellen Christentum zu). Die Fantasy lehnt sich eher noch stärker an die Mythologie an als die Romantik (Weinreich Kap. 3), sie glaubt aber nicht mehr an Mythen (32 – 38); Fantasy, das sind nicht geglaubte Mythen. Und das Publikum? Die große Mehrheit wird wohl auch nicht wahrhaft glauben, sondern sich nur spielerisch verzaubern lassen wollen – mythisches Staunen, aber mit einem wissenden Augenzwinkern. In gewisser Weise war die Romantik kraftvoller als die Fantasy.
Denn die Romantik war weit mehr als eine Ansammlung kuscheliger Gedichte, die Natur und Liebe feiern! Mit Bezug auf den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, Mitbegründer des deutschen Idealismus und der wahrscheinlich bedeutendste Vertreter der an Philosophen sicher nicht armen Romantik, gilt, dass es „um nichts Geringeres als um ein Erweckungserlebnis – durch das Denken“ ging (Safranski 73). Und das lässt sich generell von der Romantik als Bewegung sagen: sie wollte aufrütteln und die Augen für das Wesentliche ihrer spirituellen und metaphysischen Anliegen öffnen; sie regte mindestens so sehr zum Denken wie zum Empfinden an. Das Gefühl war, wie Baudelaire sagte, den Romantikern äußerst wichtig, aber sie wollten die Ratio damit nicht gleich abschaffen. Mit ihren Denkinhalten stellte sie sich gegen den vorherrschenden Fundus der wissenschaftlichen Lehren und stellte im gleichen Denkansatz auch politische und religiöse Überzeugungen in Frage. Die Romantik war zuerst eine Bewegung des Aufbegehrens, eine Bewegung der unbequemen Fragen und Forderungen. Mehr noch als Inspiration war die Romantik Subversion. Das Fragen und Fordern ist in der Fantasy nur stellenweise und meist eher verhalten zu konstatieren; bei Ursula K. Le Guin oder Robert E. Howard beispielsweise und bei manchen anderen ist es implizit enthalten, etwa in den düsteren Visionen Clark Ashton Smiths – in der Mainstream-Fantasy sucht man es aber eher vergebens.
Markolf Hoffmann weist darauf hin, dass die Romantik nicht allein ein Aufbegehren darstellte, dass sie nicht nur dagegen war, sondern die Realität bewusst mit phantastischen Mitteln „spiegelte“, und zwar zu Explikationszwecken, nicht um sich gegen sie zu stellen. In diesem Sinne lässt sich die Romantik „nicht nur als Gegenbewegung zur rationalen Welterschließung verstehen; sie ergänzte sie vielmehr“ (Hoffmann 2008). Für diese Differenzierung bin ich dankbar, denn sie ist richtig. Aber worin besteht die Ergänzungsfunktion? In der Regel bietet auch dieser Zweig der Romantik dann ideale Lösungsvorschläge für skizzierte Probleme an, im weiteren Sinne kann man sagen, dass sich auch hier Weltentwürfe finden, wenn auch nicht mehr unbedingt im Transzendenten. Insofern sind die folgenden Ausführungen über das Aufbegehren in Richtung auf metaphysische Gehalte und fort von der schnöden realen Welt einzuschränken. Teilen der Romantik fehlt da doch offensichtlich ein Bezug, den die Fantasy immer herstellt. Insofern ist die Motivation, Lösungen für Missstände in Form idealer Entwürfe aufzuzeigen, der Fantasy und der Romantik allgemein gleich, die Antworten der Romantik zielen jedoch nicht immer in die gleiche übernatürliche Richtung.
Trotzdem ist für große Teile der Romantik zu konstatieren, dass ihr Aufbegehren sich darin ausdrückt, dass sie gegen eine nüchterner werdende Welt mit irrationalen Mitteln zu Felde zieht. Die Romantik war auch eine Antwort auf Kopernikus, Kepler und Galilei, die die Sterne ihres Zaubers beraubt und sie auf mathematisch berechenbare Bahnen geschickt hatten. Sie war eine Antwort auf Newton, der mit dem Prisma das Licht in seine Farben aufgespalten und den Regenbogen damit entwoben hatte, wie der englische Dichter John Keats ihm vorwirft (vgl. Lamia Zeilen 231 – 238). Sie war eine Antwort auf Francis Bacon, der das Goldene Zeitalter der Herrschaft der Wissenschaften heraufbeschworen hatte und damit jegliches „geheimnisvolle Ansehen“ auszumerzen trachtete. Auch die Fantasy begehrt noch auf, aber sie weiß, dass sie nur mehr kleine Strohfeuer der Phantastik zu entzünden vermag und allenfalls Fluchten auf Zeit zu erlauben imstande ist. Dies aber wenigstens wirksam!
Inwieweit begehrt aber die Fantasy auf? Wo vertritt Tolkien das Revolutionäre? Nun, in so gut wie jeder Faser ihrer Geschichten, auch wenn der Fantasy das fordernde Fragen der Romantik eher fremd ist. In den Erzählinhalten aber folgt sie romantischem Gedankengut zimlich genau. Von der Romantik hoffte Novalis, dass sie es schaffen würde, die „Herrschaft der Zahlen und Figuren“ (also des rationalen Denkens und der Wissenschaft) zu brechen, so dass „vor einem geheimen Wort, das ganze verkehrte Wesen“ fortfliegen werde (Novalis: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren Zeilen 11 u. 12). Von nichts anderem singen Uriah Heep – eine der großen Rockformationen der Siebziger Jahre, die immer wieder Fantasymotive verwendeten. In The Wizard heißt es, sie empfänden „a deep desire to free the world of its fear and pain and help the people to feel free again“ (The Wizard, Zeilen 12 – 16). Ob Romantik oder Fantasy, es ist das gleiche spirituelle Befreiungsmotiv (im Unterschied zu dem nachromantisch dann akut werdenden politischen Befreiungsmotiv bei Heine, Marx und anderen). Gleiches gilt für die in der Fantasy immer wieder auftauchenden Motive der Suche nach einem wahren Wesen oder wahren Wort oder Gegenständen, Sprüchen, Liedern und Personen, die helfen sollen, an ‘eigentliche’ Wahrheiten heranzukommen.
Und Fantasy begehrt auch ganz handfest auf, indem sie die Waffen in spirituellen und anderen Kämpfen ergreift. Wenn Tolkien in Der Herr der Ringe die Festung Saurons, Barad-dûr, am Schluss zusammenbrechen lässt, dann ist das auch ein Ausdruck des Wunsches, die trostlosen modernen Industriegebiete in unserer Welt in einem Abgrund verschwinden zu lassen, über dem dann wieder unberührte Natur blühen soll. Nicht umsonst sagte er einmal über die Moderne, sie sei „Mordor in our midst“ (Tolkien: Letters 165). Das gleiche Motiv findet sich bei Stephen Donaldson, wenn er in der ersten Trilogie über Thomas Covenant dessen Gegenspieler als ein Böses zeichnet, das die Natur durch seine bloße Existenz zerstört und verödet.
Auch die wissenschaftliche Erkenntnis, deren Primat eines der wichtigsten Kennzeichen der Moderne ist, ist Ziel der Auflehnung von Fantasy. Dass beispielsweise der Zauberer Saruman in Der Herr der Ringe sich im Moment seines Verrates als der „Vielfarbige“ erweist, ist kein Zufall, sondern knüpft an den schon erwähnten Keats und dessen Kritik an Isaac Newton an: Saruman steht hier für Newtons Entdeckung der Lichtbrechung und damit für die wissenschaftliche Erkenntnis, die für einen großen Teil des Unglücks in der Welt verantwortlich gemacht wurde. Das gleiche Motiv nimmt Tolkien auch in Mythopoeia auf (My, Zeile 61). Tolkien steht damit ganz in der Tradition Novalis´ und dessen Diktum von der Unzulänglichkeit derer, die die Welt nur in „Zahlen und Figuren“ zu erkennen vermögen.
Ein ähnliches Aufbegehren findet sich bei Joanne K. Rowlings Welterfolg Harry Potter. Dies nicht unbedingt in der Person des bösen Hauptgegenspielers Voldemort, aber in Figuren wie Lucius Malfoy und Dolores Umbridge, die stellvertretend für die Unterdrückung an sich stehen. Rowling skizziert damit etablierte Machtstrukturen und eine entmenschlichende Bürokratie als falsch und bricht eine Lanze für die persönliche Freiheit und eine umfassende Selbstbestimmung. Den Romantikern waren Probleme wie Umweltzerstörung und der Überwachungsstaat unbekannt, aber die Einschränkung von Freiheiten, die kannten sie zu Genüge. Die Mittel, die sie dagegen literarisch ins Feld führten, sind die gleichen wie die, welche die Fantasy gegen heutige Übel bereitstellt: Mut, Opferbereitschaft, Glauben an ein (höheres) Gut und die eigene Kraft, etwas bewirken zu können. Gerade in Letzterem zeigt sich eine mit der Realität unvereinbare Hoffnung, ist der Wirkungsgrad der meisten Personen doch arg beschränkt. Genau diese Hoffnung aber ist ‘romantisch’.
Nichts anderes als ein Aufbegehren sind auch die Fluchten, die Fantasy erlaubt. Fantasy kreiert Welten und Szenarien von spannender Andersweltlichkeit. Sie erzählt von übermenschlichen Herausforderungen und verzaubernder Schönheit und lädt ihr Publikum ein, sich dorthin zu flüchten, um dem Alltag, der Nüchternheit und vielleicht auch manchen Sorgen für eine kurze Zeit zu entgehen. Diese Fluchten stellen keinen herkömmlichen Eskapismus dar, wie ihn Alkohol oder Drogen bewirken. Tolkien selbst wusste schon 1937, dass dies rechtmäßige Fluchten eines unrechtmäßig im Gefängnis eingekerkerten Menschen sind, wie in On Fairy Stories nachzulesen ist (55f.). Es sind rechtmäßige Fluchten – oder wenigstens Auszeiten, um es nicht ganz so dramatisch daherkommen zu lassen –, die der in den drögen Anforderungen der Moderne gefangene Mensch sich erlaubt. Auch dies ist eine Antwort an die ernüchterte Welt, wie sie die Romantik schon gab. Nur wissen heute die Erzählerinnen ebenso wie ihr Publikum, dass das Aufbegehren temporär ist, dass es den echten Ausbruch aus der Welt und ihren Anforderungen, den die Romantiker noch tatsächlich erhofften, nicht geben kann.
Dass das so ist, dass die Fantasy nur mehr spielerisch, mit einem Augenzwinkern und ohne echten Glauben an Veränderung, ihre Welten entstehen lässt, hat aber keinesfalls etwas mit einem innerhalb ihrer selbst liegenden Unterschied gegenüber der Romantik zu tun. Nein – Fantasy und Romantik sind Früchte des gleichen Baumes. Der Unterschied liegt an der realen Welt, der Primärwelt, wie Tolkien sagen würde, und ihrer Geschichte, der echten Historie. Die Geschichte unserer Welt hat sich seit dem frühen Neunzehnten Jahrhundert so stark entwickelt (ob zum Besseren oder Schlechteren sei dahingestellt), wie es die Denkerinnen und Denker der Romantik niemals ahnen konnten.
Wir wissen heute soviel mehr als vor zweihundert Jahren – schließlich liegen Darwin, Freud, Einstein und Dawkins dazwischen – und haben so viel mehr erlebt – es passierten Industrialisierung, Weltkriege, totalitäre Herrschaftssysteme, Globalisierung und Säkularisierung –, dass der Glaube an die Verheißungen des Feenreiches nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Aber die Wut über das, was schiefgegangen ist, brennt noch genauso wie die Wut, die die Pogues angesichts des Dirty Old Town– die Heimat, eine weitere Verliererin der Moderne – empfinden. Diese Wut ist immer noch da. Und symbolisch kann Fantasy die Wut befriedigen. Die Pogues empfehlen, eine Axt zu nehmen und mit „shining steel tempered in fire“ die alte Stadt abzureißen. Das ist gegen die Auswüchse der Moderne vielleicht auch kein schlechtes Mittel – zumindest zum Träumen.
Christoph Hardebusch (2008) macht darauf aufmerksam, dass diese Betrachtung von Fantasy unterschlägt, dass das Genre sehr viel weiter gespannt ist, als die Publikumserfolge von Mittelerde und Harry Potter den Laien vermuten lassen. Und das ist völlig richtig! Dann, so Hardebusch, die Reduktion der Fantasy auf romantische Motive sei eine unzulässige Verkürzung. Auch das stimmt.3 Allerdings nehme ich an, dass die allermeisten Werke der Fantasy, auch da wo sie überhaupt nichts mit der High Fantasy von Tolkien und George R. R. Martin oder den Sword & Sorceries von Howard und Leiber zu tun haben, trotzdem von der gleichen Motivstruktur durchdrungen sind. Künstler und Publikum auch der Werke, die nichts mit Rittern und Maiden zu tun haben, suchen nach transzendenten Motiven und sie suchen diese, um sich gegen die Drögheit der modernen Welt und die zurzeit wieder besonders stark geforderte Rationalität und das Funktionierenmüssen aufzulehnen
Der romantische Tolkien
Wo finden sich nun die Hinweise auf den romantischen Tolkien?
Einige Punkte habe ich genannt, aber es findet sich sehr viel mehr.
Und auch die nun folgenden Hinweise sind bei weitem nicht vollständig.
Beispielsweise Biographisches aus Kindheit und Jugend. Dass Tolkien ein großes Problem mit den Auswüchsen der Moderne hatte, ist allseits bekannt. Diese dürften zu großen Teilen in seinen frühen Lebensjahren wurzeln.
– Sarehole und Warwickshire, wo er als Kind lebte, werden sicherlich in Form der Landschaft des Auenlandes abgebildet, die Tolkien ganz bewusst den bäuerlich bewirtschafteten Gegenden Mittelenglands und der Dalelands nachgebildet hat. Tolkien selbst sagte in einem Briefentwurf: „Es gibt keine ausdrücklichen Bezüge zu England im Auenland – außer natürlich der Tatsache, dass ich als Engländer in einem nahezu ländlichen Dorf in Warwickshire aufwuchs […] und meine Ideen, wie jeder Autor, aus dem Leben entlehne, das ich kenne“ (Carpenter 2000, 235). Man achte hier auf die bezeichnende Falschaussage, dass er in Warwickshire „aufwuchs“ („brought up“) aufwuchs. Man kann die vier Jahre vom Sommer 1896 bis zum Sommer 1900 schwerlich als aufwachsen bezeichnen, weil er damit acht ebenso wichtige Kindheitsjahre in der Stadt verschweigt oder – und das halte ich für wahrscheinlicher – dass er diese Jahre verdrängt und vom Glanz der Erinnerung an Warwickshire komplett überstrahlen lässt.
Den Gegenentwurf zu Sarehole erlebte er dann im städtischen Birmingham, seinerzeit eine Hochburg der Industrie. Industrielle Produktion mit ihren Begleiterscheinungen Umweltzerstörung und Entmenschlichung lassen sich dann in Mordor und dem von Saruman verschandelten Isengart beobachten. Den Gegensatz von Auenland und Mordor kann man durchaus als einen romantischen Ausdruck lesen.
– Neben ihrer Schönheit erlebte Tolkien in Sarehole aber auch das Geheimnisvolle der Natur etwa in Form einer wundersam wirkenden Mühle und geheimnisvoller, verwunschener kleiner Weiher, Bäche und eines Miniwasserfalls, an denen zu spielen sogar ein erregendes Gefahrenmoment enthielt, wie sich Tolkiens Bruder Hilary noch achtzig Jahre später erinnerte (Carpenter 1979, 32). Das ist nichts Besonderes? Vielleicht – aber er spielte als 6-Jähriger dort und wurde dieser Gegend durch einen Umzug entrissen, der wie ein gewaltsamer Eingriff auf ihn gewirkt hat, ihn direkt in einen modernen Stadtmoloch bracht. Wiederum: „Mordor in unserer Mitte“ (Carpenter 2000, 165). Aber die Erlebnisse in Sarehole, die Weiher und Bäche, die setzt er dann in überhöhter Weise in Lothlórien, in den Alten Wald und den Fangorn um – allesamt romantische Bilder der unberührten wie der geheimnisvollen Natur, romantische Bilder.
– Die Kindheitserlebnisse in Warwickshire und der Kontrast mit Birmingham dürften überhaupt den Grundstein für Tolkiens oft beschriebene Modernitäts- und Technikfeindlichkeit gelegt haben. Technik war für Tolkien immer auch Industrie und Mechanisierung und das war etwas was er als inhuman ablehnte. Diese Überzeugung fand direkten Eingang in Mittelerde, wo eine naturverbundene Lebensweise in Form der Ästhetik der Elben und der Erdverbundenheit der Hobbits gleich doppelt verklärt wird. Das Böse wiederum dreht sich zwar immer um das Motiv der Unterdrückung, die Verabscheuungswürdigkeit des Bösen wird aber auch immer durch Technikeinsatz illustriert. Die drei wichtigsten Vertreter des Bösen in Mittelerde – Morgoth, Sauron und Saruman – verfügen alle über Laboratorien und Werkstätten. Alle drei verschmutzen die Umwelt und korrumpieren die Schöpfung durch die Züchtung von Ungeheuern. Baumbart sagt an einer Stelle bezeichnend über Saruman, er habe einen Verstand aus Metall und Rädern und kümmere sich nicht um lebende Dinge (TT, 90). Einen kleinen aber charakteristischen Zusammenprall zeigt dann das Kapitel von der Säuberung des Auenlandes, nachdem die großen Ereignisse des Ringkrieges längst Geschichte sind. Hier wird die Idylle des Landes nicht mehr von übermenschlichem Bösen bedroht, sondern von dumpfer Kleingeistigkeit, die droht, die Wurzeln der Schönheit des Auenlandes, also Landschaft und Sozialleben zu zerstören. Überwunden wird das industrielle Böse von denen, die – in gewisser Weise – reinen Herzens geblieben sind, die sich nicht korrumpieren lassen, eben auch nicht von Technik und deren Macht.
Diese Beobachtungen aus der Jugend des Professors haben natürlich erst einmal nichts mit Romantik zu tun, allenfalls mit einem Vulgärverständnis derselben. Aber die Erfahrungen haben ihn geprägt. Sie dürften ausreichend gewesen sein, das Aufbegehren zu wecken, das die Romantik in den meisten Fällen begleitet. Und sie haben das Feindbild Moderne entstehen lassen, gegen das sich ein romantischer Entwurf von Freiheit und Schönheit richten konnte. Ein Entwurf, wie er in Mittelerde, aber auch in anderen fiktionalen Schriften, am besten vielleicht in Smith of Wootton Major zu finden ist.
Smith erzählt eine Geschichte der Begegnung von Realwelt und Elfenwelt („Faërie“, vgl. die entsprechenden Beiträge in Hiley/ Weinreich 2008). Obwohl auf Dauer eine Unvereinbarkeit von Realwelt und Feenwelt festgestellt werden muss, so ist doch die Feenwelt eine romantische, ganz in Novalis’ Sinn: erhöht, ja überhöht, geheimnisvoll, unendlich (vgl. die Strandszene in Smith). Dies Alterswerk Tolkiens stellt besonders hinsichtlich der Einschränkung, dass Zugänge zur Feenwelt für Menschen immer nur zeitlich beschränkt möglich sind, eine interessante Ergänzung zu den Überzeugungen dar, die sich mehr als 30 Jahre vorher in Mythopoeia zeigen. Doch zu Mythopoeia gleich mehr.
Romantizismen in Mittelerde lassen sich eine Reihe feststellen und, wie gesagt, meine ich damit nicht die Schönheiten Lothlóriens oder der Elben, sondern vielmehr die weltanschaulichen Überzeugungen, die zum Ausdruck kommen. Zuerst ist hier wohl der Konflikt von industrialisiert erscheinendem Bösen und freiheitlich-ästhetisch orientiertem Guten zu nennen, der in Gegensätzen wie >Auenland – Mordor< oder >Gandalf – Saruman< zum Ausdruck kommt. Technik und die Überzeugung, durch Technik die Geschicke der Welt in die Hand zu bekommen, sind das zentrale Anliegen des Bösen. Selbst der Eine Ring ist letztlich ein Werkzeug. Das trifft sich deutlich mit der einst, wenigstens bis zur Erschließung atomarer Kräfte, vorherrschenden Überzeugung der westlichen Welt, alle Probleme durch gute Planung und den richtigen Einsatz von technischen Mitteln lösen zu können. Wobei anzumerken ist, dass darunter auch Sozialtechnologien wie der soziologische Positivismus oder die Bürokratisierung zu verstehen sind. Und es ist anzumerken, dass sich in der Dämonisierung der Militärindustrien Saurons und Sarumans auch eine konkrete Wissenschaftskritik zeigt, denn auch die Grundlagenforschung vor und zu Tolkiens Zeiten unterstand im Wesentlichen einem Machbarkeitsparadigma. Wenn dann Saruman seinen weißen Mantel in einen vielfarbigen verwandelt, ganz so wie Newton das reine weiße Licht im Prisma brach und die Farben des Regenbogens künstlich erzeugte, so steht Mittelerde für einen Moment völlig in der Tradition von John Keats und der Romantik.
Und der Gegenentwurf in Mittelerde? Der wird zum einen durch die positiven Helden und deren Eigenschaften, Überzeugungen und nicht zuletzt ihrem Schicksal verkörpert. Ihr Schicksal? Ja, die in ethischer Hinsicht besten Figuren, die werden erlöst, ob in Silmarillion oder Herr der Ringe. Sie gelangen nach Valinor, der zweitbesten Stufe des Seins nach der eigentlichen Erlösung, wenn alle Existenz wieder zurück in Iluvatar vereint sein wird. Hier zeigt sich Tolkien als Romantiker, aber mehr noch natürlich als der Christ, der er war. Und die Handlung selbst skizziert mit dem Questmotiv, den vielen kleinen und großen Geheimnissen sowie der überhöhten Tragik im Silmarillion klassisches romantisches Gedankengut. UNd auch im Kleinen erweist sich der Romantiker, etwa in der Figur Tom Bombadils, egal, ob man Tom, so wie ich überzeugt bin, als Inkarnation Tolkiens liest oder als bloßen Naturgeist. Mehr noch aber als die Figuren, mehr noch auch als die Handlung, ist der Entwurf der Welt ein romantischer. Denn Mittelerde ist eine ästhetische Welt, geboren aus göttlicher Musik. Einer Musik zudem, die durch nichts beeinträchtigt werden kann, denn im Silmarillion sagt ihr Komponist Iluvatar: „Kein Thema kann gespielt werden, das nicht in mir seinen tiefsten Grund hätte, noch kann einer das Lied ändern, mir zum Trotz“ (S 23). Das ist zwar auch zutiefst christlich, aber es ist auch romantisch. Denn hier ist der Gipfel aller verborgenen Wahrheit enthüllt und in all seiner Unverletzlichkeit offenbart worden. Wenn es eine blaue Blume in Mittelerde gibt, so ist sie in diesem metaphysischen Weltentwurf zu finden.
Der Romantiker Tolkien findet seinen Ausdruck aber auch in den nichtfiktionalen Schriften, natürlich zuerst in On Fairy Stories und in A Secret Vice (beide in Tolkien 1990). Hier deutet Tolkien – allerdings mit großer Vorsicht, denn er war Universitätsprofessor und musste darauf achten, vermeintliche Esoterika nicht zu weit zu treiben – ebenfalls über die reale Welt hinaus und in die Metaphysik hinein. Und er deutet an, dass Faktizität in der metaphysischen Spekulation enthalten ist, er deutet an, dass es die Feenwelt(en) wirklich gibt. Der Abschnitt über „Fantasy“ und den Vorgang der Sub-Creation (138 – 144) in On Fairy Stories liest sich zwischen den Zeilen als Bekenntnis zur faktischen Existenz der Feenwelten, die der Mensch zu erdenken in der Lage ist. Unklar bleibt dabei, inwiefern er wirklich selbst daran glaubte, dass menschliche Kreativität in metaphysische Welten zu reichen vermag.
Sicher darf man ihm da keinen Aberglauben unterstellen, aber die Kreativität ist seiner Überzeugung nach eine von Gott verliehene Kraft und wenn die denn bessere Welten – besser besonders im ästhetischen Sinn – erschafft, so ist nicht auszuschließen, dass er in Anlehnung an die Ideenlehre ernsthaft mit dem Konzept spielte, dass Kreativität als ein Hinübergreifen in reale übernatürliche Welten zu verstehen sein könnte. In die christliche Grundüberzeugung lässt sich das jedenfalls bruchlos einfügen. Er weist ja selbst darauf hin (FS 155f.), dass der Mensch mit dem glücklichen Ende phantastischer Geschichten das glückliche Ende der Menschheit, das durch Geburt und Opfer Christi garantiert wurde, nachempfindet.
Und mit der Ideenlehre platonischer Herkunft spielte er nachweisbar. Er kannte sie, sie war Bestandteil des Kanons seines Bildungsweges – und er wandte sie in Mythopoeia an. Das Gedicht Mythopoeia, das Tolkien schrieb, um C.S. Lewis’ Behauptung zu widerlegen, Mythen seien Lügen, entwickelt eine radikale Wissenschaftskritik und einen tiefgehenden romantischen Gestus. Dies kann ich an dieser Stelle nicht im Einzelnen darlegen, habe darüber jedoch einen ausführlichen Artikel veröffentlicht (Weinreich 2008).
Mythopoeia berichtet in Form eines Lehrgedichtes auf ganz eigene Weise vom Fall der Menschheit. Wie in der Geschichte von Adam und Eva wird gezeigt, dass der Mensch sich durch das unreflektierte Streben nach Wissen ins Unglück stürzt. Die Kunst, bezeichnet übrigens als Handwerk der Elben, stellt Tolkien der Wissenschaft dann als diejenige menschliche Ausdrucksform gegenüber, die zur wahren Erkenntnis einer Existenz jenseits des physisch-materiellen Universums führt. Alle von Tolkien bekannten kritischen Themen sind in diesem einen Gedicht von 1931, also vor On Fairy Stories, vor dem Hobbit vor der Mittelerdedichtung verfasst, schon vereint. Es finden sich eine Kritik an der Evolutionstheorie, an den Erklärungsversuchen der modernen Physik, am Ingenieurswesen und an der Erkenntnistheorie im Allgemeinen. Mythopoeia entwickelt zudem eine auf ästhetischen Prinzipien beruhende, darin an Schiller erinnernde, neue Erkenntnistheorie, die sich in analoger Form auch bei Platon, dem großen Theoretiker der Ideenlehre, findet. Das an sich ist eine äußerst bemerkenswerte Sache, die eigens angelegte Forschungen rechtfertigen würde. Im Zusammenhang des Themas Tolkien und die Romantik reicht aber nun der Hinweis darauf, dass Tolkien glaubt, in Mythopoeia das wahre Wesen des Seins entwickelt und erklärt zu haben.
Unklar ist, wie weit diese Überzeugungen in seinem späteren Leben anhalten. Schon On Fairy Stories, sechs Jahre später verfasst, lässt weite Teile dieses großen spekulativen Wurfs wieder vermissen. Aber einmal zumindest, und zwar eingangs der kreativsten Schaffensphase seines Lebens, war sich Tolkien sicher, dass er die blaue Blume gefunden hatte.
Ich persönlich denke, dass er später nur in seinen Äußerungen vorsichtiger geworden ist, dass er aber im Wesentlichen der ganze Romantiker blieb, der in jungen Jahren an Mythopoeia und die Geschichte von Beren und Luthien glaubte.
1 Der Abschnitt basiert auf dem Artikel „Zwei Äxte am Stamm der Moderne“, den ich im Dezember 2007 für die Phantastik-Couch geschrieben habe. Die beiden bekannten Fantasyautoren Markolf Hoffmann (Zeitalter der Wandlungen) und Christoph Hardebusch (Die Trolle) antworteten im März des folgenden Jahres mit einer Replik, die Teile meiner Argumentation, insbesondere meiner Charakterisierung der Romantik, zurückwiesen. Einige dieser wertvollen Hinweise und Einwände sind in die jetzt hier vorliegende Überarbeitung eingeflossen, die also jetzt eine verbesserte Version des älteren Romantik-Artikels darstellt.
2 „Le romantisme n’est précisément ni dans le choix des sujets ni dans la vérité exacte, mais dans la manière de sentir.“ (Charles Baudelaire: Salon de 1846).
3 Ein weiterer Kritikpunkt Hardebuschs bezieht sich darauf, dass die Fantasy es nicht nötig habe, in apologetischer Absicht in die Tradition der Romantik gestellt zu werden. Er vermutet, ich habe die Traditionslinie aufgemacht – und auch ein bisschen herbeigeredet -, um der Fantasy zu höheren literarischen Weihen zu verhelfen. Das war nicht meine Absicht. Denn Hardebusch hat völlig Recht: Das hat Fantasy nicht nötig! Leider kann ich mir nicht ganz erklären, was diesen Eindruck hervorrief, damit ich ihn in Zukunft vermeiden kann. Die Verbindung zwischen Fantasy und Romantik interessiert mich allein aus kulturhistorischen, anthropologischen, psychologischen und philosophischen Gründen, denn ich sehe in diesem Aufbegehren Richtung Metaphysik eine menschliche Konstante, die mein eigenes Denken zutiefst bewegt.
(Bochum, Juli 2008)