Absichtsvolle Zeiträume

Teleologien in der Phantastik, Beispiel Mittelerde.

© Frank Weinreich

Die Schöpfungsgeschichte Mittelerdes, von der unter anderem im Silmarillion erzählt wird, berichtet, wie der Schöpfergott Ilúvatar die Welt und ihren Kosmos erschuf, und dass er sie dabei so einrichtete, dass ihr Ende als Selbstauflösung, hin zu einem paradiesischen ewigen Leben an Gottes Seite, von Beginn an garantiert war.

Tolkiens Mittelerde ist damit eine Welt, die in einem sehr nahe an der christlichen Schöpfungsgeschichte orientierten Prozess entstanden ist, die dann ihre Zeitalter durchläuft und so ähnlich endet, wie es auch von der Bibel für unsere reale Welt postuliert wird. Das ist kein Wunder, war doch erstens Tolkien tiefgläubiger Katholik, und ist Mittelerde zweitens doch in Wirklichkeit unsere Welt, wie Tolkien selbst betonte: „Mittelerde ist kein imaginäre Welt. [Es ist die] objektiv wirkliche Welt […] Schauplatz meiner Erzählungen ist diese Erde, dieselbe, auf der nun wir leben, aber die historische Periode ist imaginär“ (Briefe, Br. 183; S. 315).

Interessant ist dabei besonders, dass Mittelerde – und damit ja auch die reale Welt – eine Welt des Zweckes ist. Mittelerde als Welt hat ein Ziel, die Existenz Mittelerdes hat einen in ihrer Schöpfung verankerten Sinn. Dieser Zweck und die Sinnhaftigkeit der Weltenexistenz entspricht der christlichen Vorstellung von Sinn und Zweck der realen Welt: Es sind absichtliche Schöpfungen einer göttlichen Kraft, die der Verwirklichung eines wie auch immer gearteten Paradieses dienen. Eines Paradieses, das in der Regel auf der Basis harter gottesfürchtiger oder ethisch einwandfreier Arbeit über tausende von Jahren der Entbehrung hinweg erreicht wird. „Gott der Herr wird über ihnen leuchten und sie werden herrschen in alle Ewigkeit“, heißt es in der Offenbarung des Johannes (22,5). Bei Tolkien ist die Rede davon, dass die Valar und alle anderen Kinder Ilúvatars an jenem Tag des Endes der Geschichte ihr volles Potenzial erreichen werden: „Jeder wird wissen, was jeder weiß, und Ilúvatar wird ihren Gedanken das geheime Feuer geben, und er wird sein Wohlgefallen haben“ (S, 22).

Betrachtungen über ein solches zielgerichtetes und dadurch Sinn stiftendes Weltbild nennt man Teleologie. Die Teleologie ist die Lehre von den Zielen; von Zielen, wie sie Johannes und Tolkien in ihren Schriften skizzieren. Teleologien müssen nun aber bei Weitem nicht immer ganze Schöpfungslehren oder die Geschichte der Welt oder des Universums sein, sondern können sich auch in der Betrachtung kleinerer Gebiete ausdrücken. Etwa die Untersuchung jeglicher Ursache-Wirkungs-Beziehungen oder deren Herunterbrechen auf Kausalitätsgeschehen in der belebten Natur oder auch nur in dem Verhalten von Menschen. Immer geht es aber darum, danach zu fragen, ob ein Ursache-Wirkungs-Geschehen der Erreichung eines Zieles dient, oder ob Ursachen ohne ein das Geschehen antreibendes Ziel ihre Wirkungen zeitigen.

Das aber ist letztlich das Überstülpen einer sehr auf den Menschen zentrierten Haltung, und man muss genau nachschauen, ob sie sich bei der Ansehung von belebter und unbelebter Natur wirklich durchhalten lässt.

Wir Menschen verfolgen in den meisten Fällen mit der großen Mehrheit unserer Handlungen Ziele. Erst einmal ist es doch anmaßend oder bizarr, das auf die gesamte Umwelt übertragen zu wollen.

Kaum jemand wird dem Schnee auf dem Berggipfel willentliches Handeln unterstellen wollen, wenn eine Lawine abgeht. Und doch kommt genau das implizit in vielen Weltanschauungen zum Ausdruck. Der Abgang der Lawine ist dann vielleicht Teil einer bewusst vom Schöpfer implantierten Gefährlichkeit der Welt, die den Menschen prüft oder ihn herausfordert, ihn bestraft oder auch belohnt (falls die Lawine gerade den ungeliebten Nachbarn trifft).

Aber vielleicht ist dies Denken doch nicht so bizarr, wenn man an Zeiten denkt, in denen die Betrachtungen über Umwelt, Raum und Zeit noch nicht vom Paradigma der Wissenschaftlichkeit ergriffen waren. Ich meine damit Zeiten, in denen es einerseits an Erklärungen mangelte, weil man Zusammenhänge aus Vererbungslehre, Physik und Chemie nicht kannte und sich deshalb übernatürliche Wirkmächte zur Erklärung herholen musste. Das waren andererseits auch Zeiten, in denen nicht empirisch belegte Erklärungen noch als Fakten anerkannt wurden; Zeiten, in denen Glauben und wissen noch nicht so streng geschieden waren, wie es für uns heute selbstverständlich sein sollte. Gerade weil nun bewusst handelnde Individuen in der Regel eine Vorstellung vom Zweck ihrer Handlungen haben, verwundert es dann vor dem Hintergrund einer Mischung aus Fakten und mystisch-mythischem Weltbild nicht, wenn auf allen Ebenen nach leitenden Zielen und zweckhaften Entwicklungen gesucht wird.

Die Offenbarungsreligionen gehen davon aus, dass Gott den Menschen nach seinem Vorbild geschaffen habe, aber abseits religiösen Glaubens und der mit ihm verbundenen Spekulationen, scheint es doch so, dass eher der Mensch sich Gott nach seinem Vorbild vorstellt. Dann ist es auch kein Wunder, dass dieser menschlich geprägte Gott eine Welt erschafft, deren Endzweck im beständig glücklichen Leben im Paradies besteht. Was anders nämlich würde sich der Mensch wohl angesichts der Mangelerfahrung seiner Existenz vorstellen? Sein Leben ist schließlich eine Existenzweise, die beständig von vielfältigem Unglück bedroht ist und an deren Ende immer das Nicht-Leben steht.

Doch Teleologievorstellungen blieben nicht bei christlich oder sonst wie metaphysisch geprägten Ideen stehen. Auch in Zeiten der Aufklärung und danach gab (und gibt es) teleologische Weltbilder, die sogar wissenschaftlichen Ansprüchen genügen sollten. Das waren Teleologien, die meinten, auf jeglichen Glauben verzichten zu können, da sie ja Fakten zu beschreiben gedachten. In diesen etwas moderneren Überlegungen geht es dann bei den Endzielen nicht mehr um Schlaraffenländer und eine unmittelbare Gotteserfahrung, sondern um einen den Dingen inhärenten Fortschritt. Es geht um Perfektion und um anhaltende positive Endzustände schon in dieser Welt und nicht erst im Jenseits. Gemeint ist dabei aber immer noch das gute alte ewigwährende Glück, von dem all unsere Ahnen träumten.

Diese letzteren Vorstellungen fanden unter dem weiten Mantel des wissenschaftlichen Denkens ihren Ausdruck, zumindest solange der noch nicht ganz so streng gewoben war, wie er das seit Karl Popper und Kollegen, also Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, ist. In der Philosophie und der Soziologie finden sich diese Ideen etwa bei der dialektischen Weltentwicklung Hegels oder im wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels. Aber auch die Naturwissenschaften kannten zeitweise teleologische Prinzipien. Da wäre beispielsweise der Vitalismus zu nennen, dessen Ursprünge bei Aristoteles vor zweitausend Jahren liegen. Aristoteles ging davon aus, dass alle Dinge einen Daseinszweck und somit ein Ziel in sich selbst haben und nannte das Entelechie (en-telos-echeia; Metaphysik IX, 8).

Diesen Gedanken übernahm die Biologie im neunzehnten und reichte ihn bis ins zwanzigste Jahrhundert durch. In der Biologie liegt die Vorstellung nahe, dass das Leben ein in sich verankertes Ziel haben müsse; zumindest solange wie die genauen Mechanismen der Vererbung nicht bekannt waren. Etwas wird geboren und wächst vom hilflosen Welpen zum ausgewachsenen bösen Wolf oder guten Schaf heran – was liegt näher, als zu vermuten, dass es eine treibende Kraft gibt, die das Aufwachsen zu einem vollständigen Wesen als Ziel hat und die Jungen einer jeden Art irgendwie auf dieses Ziel zutreibt. Das war eben die Lebenskraft, die man als grundsätzlich verschieden von der Existenz aller unbelebten Natur begriff. Als man dann mit Charles Darwin und Gregor Mendel lernte, dass sowohl der Zufall als auch algorithmisch, aber ziellos ablaufende Regeln die Vererbung bestimmen, brach der Telosgedanke langsam zusammen. Den Todesstoß versetzten ihm dann Watson, Crick, Wilkins und Franklin mit der Entdeckung der Erbinformation. Die Existenz der DNA bewies unzweifelhaft, dass Wolf und Schaf nicht aufwachsen, weil eine dies- oder jenseitige Lebenskraft sie zu einem Ziel zieht, sondern weil es einen detaillierten Bau- und Zeitplan gibt, an dem sich des Lebens aller Lebewesen ausrichtet. Wenn es ein unabänderliches Ziel gäbe, wäre beispielsweise die Evolution unmöglich, denn die hängt von Abweichungen im Bauplan ab. Das ist der heutige Stand der Wissenschaft, bei dem es auch wohl bleiben wird, nach allem was so absehbar ist.1

Die Telosidee begreift einen Gegenstand von seinem Ende her. Irgendetwas zieht eine Welt, eine Gesellschaft, ein Lebewesen oder ein beliebiges Ding Richtung Endziel. Ursache und Wirkung sind dabei durchaus noch zu beobachten, indem etwa ein Mutter- und ein Vatertier eine Kindergeneration zeugen. Oder indem Hegel die Menschheitsgeschichte betrachtet und eine stetige Zunahme der Zivilisationsstufen von der Vorgeschichte über Antike und Mittelalter bis zur Neuzeit, in der er selbst lebte, konstatiert. Oder indem die Bibel sagt, die ‚Ursache’ Gott schuf die ‚Wirkung’ Erde in sechs Tagen. Doch all diese Dinge – Tier, Gesellschaftsgeschichte, die Welt – werden durch göttlichen Willen oder eine inhärente Kraft auf ihr Ziel geschossen, nachgerade so, als ziehe ein Magnet oder Gummiband sie an. Das lässt sich nicht einmal widerlegen, denn es gibt kein wissenschaftliches Mittel, mit dem der göttliche Wille oder die postulierte inhärente Kraft sich falsifizieren ließen.

Sie lassen sich aber auch nicht beweisen, sondern sind Glaubenssache oder Spekulationsobjekt. Was sich aber beweisen lässt, ist eine Alternative zur Telosidee. Ursache und Wirkung lassen das Tier gezeugt werden und sorgen dafür, dass es geboren wird, aufwächst und neue Generationen zeugt. Ursache und Wirkung lassen sich im historischen Prozess der Menschheitsgeschichte abbilden, der zeigt, wie Innovation, Regression und erneute Innovation den Menschen von Stamm und Lagerfeuer zu moderner Demokratie und Fusionstechnologie beförderten. Ursache und Wirkung lassen die Welt als Folge des Urknalls und der Galaxienbildung bis zur Formierung unseres Sternensystems entstehen. Alles ziellos, alles Zufall und der algorithmische Ablauf von physikalischen, chemischen und später biochemischen Prozessen. Das ist unromantisch und trostlos, aber es ist die einzige Sichtweise, die nicht von menschlichem Wunschdenken bestimmt ist.

Die ganzen bis hierher nachvollzogenen Teleologievorstellungen sind übrigens erstens stark westlich-rational (Christentum plus hellenischer Idealismus) geprägt und widersprechen zweitens der alltäglichen Lebenserfahrung aller nichttechnologisch geprägten Gesellschaften und damit einem Großteil der nichtwestlichen Philosophie. Und diese nichtwestlichen Philosophien stehen oftmals in einem deutlich geringeren Widerspruch zu modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen als unser ganzes westliches Wunschdenken.

Eine naturnahe Lebenserfahrung legt nämlich den Kreislauf viel näher als den Zeitpfeil. In Gesellschaften, die nicht so sehr davon geprägt sind, ihre Kinder auf bessere Schulen zu schicken, damit die mehr Geld für die Enkel verdienen, so dass diese noch zwei Stufen höher auf der gesellschaftlichen und monetären Leiter anlangen als die Großeltern, in solchen Gesellschaften findet Leben emotional wie intellektuell eher im Zyklus von Geburt – Leben – Tod statt und damit stärker auf Beständigkeit ausgerichtet als auf Fortschritt. Und wer seine Nahrung selbst anbaut, statt sie tiefgefroren aus dem Supermarkt zu holen, erfasst den Kreislaufgedanken der eigenen Existenz vor dem jahraus, jahrein erlebten Zyklus Saat – Pflege – Ernte auf eine intuitive Art, die ebenfalls nicht zwingend auf als Fortschritt gedeutete Endziele verweist, sondern vielmehr auf die Suche nach Zufriedenheit und Glück in einem als kontinuierlich erfahrenen Status quo.

Festhalten lässt sich für den Moment und als Einstieg in die Teleologie bei Tolkien, dass die kulturell wirkmächtigen Teleologien nicht nur von einem den Dingen oder Entwicklungen inhärenten Ziel ausgehen, sondern dass diese durchweg positiven Endziele nach dem nun einmal fehlenden Nachweis jeglicher Fakten als Wunschdenken ausgewiesen werden können. Zwar gibt es auch Niedergangsszenarien wie eine Reihe römischer und poströmischer Rückblicke auf eine Goldenes Zeitalter, dessen Glanz in der Wirklichkeit allenfalls schwach wiederhallt, aber denen liegt eher eine wehmütige Beobachtung des Ist-Zustandes zugrunde als ein der dekadenten Entwicklung inhärenter Impetus, der Welt oder Gesellschaft zwingend in den Abgrund führt. Zyklische negative Vorstellungen über die Weltgeschichte wie die nordeuropäische Idee, dass die Welt immer wieder in die Endschlacht Ragnarök gezwungen wird, dass diese Schlacht schlecht ausgeht und dann ein neuer Zyklus beginnt, der wieder zu Ragnarök führt, sind keine Teleologie, denn hier gibt es ja kein Ziel, sondern nur einen zyklischen unveränderlichen Ist-Zustand. Etwas Ähnliches gilt für buddhistische oder daoistische Vorstellungen, die von der Vorstellung sich wiederholender Lebenszyklen ausgehen. Diese Weltanschauungen haben nun durchaus ein Ziel, das in strikte Ursache-Wirkungs-Ideen eingebunden ist; nämlich die Seele durch die Erkenntnis der Wahrheit aus dem Zyklus des leidvollen Lebens ausbrechen zu lassen. Aber dieses Ziel ist mitnichten inhärent; es zu erreichen erfordert harte Arbeit, die für fast alle Menschen in jedem Zyklus damit endet, dass sie das Ziel eben nicht erreichen. Da ist es viel leichter, an Gott zu glauben, nicht allzu viele Sünden zu begehen und am Ende kräftig zu bereuen.

Wenn aber die Teleologien Ausdruck von Wunschdenken sind, so sind sie doch nicht nur das, sondern auch Ausdruck bestimmter psychologischer, sozialer, politischer und ethischer Überzeugungen. Dann sind sie nie nur neutraler Ausdruck von Glaubensinhalten, sondern immer auch programmatisch aufgeladen. Das christliche Paradies dient auch dazu zu missionieren. Hegels Weltgeistvorlesungen dienten auch als politische Streitschriften. Das gilt nicht für alle Teleologien, denn nicht alle Teleologien drücken Wunschdenken aus. Der Vitalismus etwa trug in seiner reinen Form keine ideologische Befrachtung. Aber bezogen auf ethisch wirksame Teleologien, ist die Spekulation immer auch Programm gewesen.

Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die Teleologie Mittelerdes analysieren, die in ihrer Schöpfungsgeschichte, der Ainulindale, zum Ausdruck kommt.

2 Eingangs erwähnte ich das Zitat aus der Ainulindale, das den paradiesischen Endzustand beschreibt, der herrschen wird, wenn das Ende der Zeit für Mittelerde gekommen ist: „Jeder wird wissen, was jeder weiß, und Ilúvatar wird ihren Gedanken das geheime Feuer geben, und er wird sein Wohlgefallen haben“ (S, 22). Auf die Ainulindale – sie ist vergleichbar mit dem ersten Buch Mose 1-4, wo Gott in sechst Tagen die Welt erschafft – wird in Der Herr der Ringe und Der Hobbit nicht eingegangen. In der Tat ist es so, dass weder der HdR noch der Hobbit irgendwelche Hinweise auf den teleologischen Charakter Mittelerdes geben. Erst das von Tolkien weder zusammengestellte noch zur Veröffentlichung vorgesehene Silmarillion zeigt uns, dass Mittelerde eine Welt, ein Kosmos ist, der auf ein bewusst geplantes und unausweichliches Endziel zugetrieben wird. Dieser Punkt wird wichtig, wenn man sich Gedanken darüber macht, inwieweit Tolkiens Schöpfung etwas mit möglichen Programmatiken oder gar Missionsversuchen zu tun haben könnte.

Doch zunächst möchte ich die entscheidenden Stellen der Ainulindale kurz beleuchten. Die Geschichte beginnt mit den Worten „Eru war da“. Eru ist der Schöpfergott Mittelerdes, auch bekannt unter dem Namen Ilúvatar. Im gleichen Satz heißt es dann, dass Ilúvatar die Ainur erschuf „bevor irgendetwas anderes erschaffen war“. Er schuf sie, damit sie für ihn musizierten, und darüber war Ilúvatar „froh“ (alles S 21).

Der Grund, das zu tun scheint erst einmal ein rein ästhetischer zu sein. Denn in den nächsten Sätzen heißt es, dass Ilúvatar die Ainur eine „gewaltige Melodie lehrte“, durch die Welt und Kosmos Mittelerde zur Existenz kommen, und dass Ilúvatar dieses Spektakel genießen möchte: „Ich aber will sitzen und lauschen und froh sein, daß durch euch solche Schönheit zum Liede erwacht“ (beides S 21). Die Musik der Ainur erfüllte daraufhin die Leere und so war nun Schönheit da, wo vorher nichts war – eigentlich ein sehr überzeugendes Motiv, die Schöpfung ins Werk zu setzen.

Dann kommt ein entscheidender Satz: „Nie wieder haben seither die Ainur eine Musik gleich dieser gespielt, doch heißt es, eine noch schönere solle vor Ilúvatar nach dem Ende aller Tage erklingen, von den Chören der Ainur und der Kinder Ilúvatars“ (S 21, meine Hvhbg.). Es gibt also durchaus eine Steigerung zur Schönheit Mittelerdes, denn die Folgemelodie, nachdem Mittelerde wieder verschwunden ist („nach [!] dem Ende aller Tage“), ist eine schönere als die Schöpfungsmelodie. Die Schöpfung ist also nicht so perfekt wie sei sein könnte. Perfektion gibt es erst, wenn alle Wesen („von den Chören der Ainur und der Kinder Ilúvatars“) vor Gottes/Ilúvatars Thron stehen und dort für ihn singen. Dann erst, so heißt es einen Satz in der Ainulindale weiter, „werden die Themen Ilúvatars rechtens gespielt werden“. Dann erst also sind sie perfekt, was schlicht heißt, dass Mittelerde noch nicht perfekt war.

Und es geht noch eine Stufe höher. Der Satz geht nämlich noch weiter: Erst nach dem Ende aller Zeiten also „werden die Themen Ilúvatars rechtens gespielt werden und das Sein erlangen in dem Augenblick, da sie gespielt werden“ (S 21). Die erste Musik der Ainur lässt Welt und Kosmos Mittelerde noch langsam entstehen, indem die Klänge hinausströmen in die Leere und die Leere nach und nach verdrängen. Die zweite Melodie bringt die Perfektion der „rechtens“ gespielten „Themen Ilúvatars“ in dem Augenblick zu vollendetem Sein, da die Töne die Kehlen der Ainur und der Kinder Ilúvatars verlassen. Hier deutet sich der Unterschied von der in Veränderung begriffenen materiellen Existenz Mittelerdes aus der Ersten Musik zur vollkommenen und daher unveränderlichen Existenz der perfekten Interpretation der Musik Ilúvatars an. Die zweite ist eine spirituelle Existenz, die wie andere spirituelle Existenzweisen ewig währt. Das trifft auf das spirituelle Einssein der Christen mit Gott nach dem Jüngsten Gericht zu, aber auch auf den unveränderlichen Geist im Buddhismus und andere spirituelle Existenzweisen. Dies ist das Ziel, das Telos auf das Mittelerde ausgerichtet ist. Mittelerde selbst wird dann gar nicht mehr benötigt, denn die Melodie ertönt ja erst „nach dem Ende aller Tage“. Mittelerde zu erschaffen, war nur vorübergehend nötig, um den Kindern Ilúvatars ein Heim zu geben und einen Ort, an dem sie ihr Leben leben und vor allem sichdarin bewähren konnten – durch eine gute Lebensführung und durch Widerstand gegen das Böse.

Doch bevor ich auf das Böse und die nächsten Schritte in der Ainulindale eingehe, muss noch etwas zur spirituellen Existenzweise gesagt werden. Es gibt in der Antike eine starke und in verschiedenen Kulturen voneinander unabhängig entstandene Vorstellung davon, dass es neben unserer realen Welt eine bessere Welt geben muss. Die reale Welt ist nicht nur eine Welt des Mangels, in der man Hunger, Krankheit, Tod erlebt. Selbst einfachste Dinge sind offensichtlich nicht so gut wie sie sein könnten. Es ist ja nicht einmal möglich, einen perfekten Kreis zu malen. Wenn man ganz genau hinsieht, wird man selbst bei dem sorgfältigsten, mit Hilfe eines Zirkels gezeichneten Kreis erkennen, dass er Dellen und Ausbuchtungen aufweist – wieder mal ein Mangel der materiellen Welt. Aber schon in der Antike wussten Perser, Inder, Griechen und andere Völker, dass man den perfekten Kreis durchaus abstrakt modellieren kann. In einer der ältesten überlieferten Beschreibungen heißt es dazu: „Rund ist dasjenige, dessen Enden von der Mitte überall gleich weit abstehen“ (Parmenides 137e) – leicht gesagt, leicht vorgestellt, aber unmöglich in den Sand zu zeichnen. Wenig später kamen mathematische Formeln dazu, die den Kreis und andere Körper noch abstrakter, aber perfekt beschrieben, und es war ein kurzer Weg zu der Vorstellung, dass es eine Welt oder eine andere Existenzebene geben könne oder sogar müsse, auf der all diese perfekten Dinge existieren. Von diesem Universum der idealen Dinge war es dann nur ein kleiner Schritt zum Paradies, in dem eine perfekte Existenz vorgestellt wurde; ohne Krankheiten, umgeben von vollendeter Schönheit und dies in alle Ewigkeit.

Wenn man dann davon ausging, dass ein Gott die imperfekte Welt bewusst geschaffen hat, dann kann eine solche Welt – vorausgesetzt es ist ein guter Gott – doch nur einen Zweck, nur ein Endziel haben: Uns irgendwie auf die perfekte Existenzebene zu führen. In der Tat findet sich der Idealismus, der im Bild der perfekten zweiten Musik der Ainur ausgedrückt wird, bei Tolkien noch an einer zweiten wichtigen Stelle: im Gedicht Mythopoeia. Mythopoeia hat er gedichtet, weil er C. S. Lewis verdeutlichen wollte, dass Mythen und Sagen nicht bloße hübsch erzählte Lügengeschichten sind, sondern auf eine tiefere Wahrheit verweisen. Die Argumente, die er in Mythopoeia dazu aufführt, lesen sich wie eine Gebrauchsanweisung des platonischen Idealismus.3 Ainulindale und Mythopoeia zusammengenommen kann man sagen, dass Mythopoeia der Kunst den Auftrag zuweist, der idealen Welt nachzuspüren und sie so gut es geht in Werke unserer realen Welt umzusetzen, während die Ainulindale und die aus ihr folgende reiche Geschichte Mittelerdes ein Beispiel für die Umsetzung dieses Auftrags sind. Das trifft sich im Übrigen auch nahtlos mit der christlichen Grundüberzeugung Tolkiens, die zwar keine ideale Welt kennt, sondern den Idealzustand als eine Existenz in Gott nach dem jüngsten Gericht (mithin „nach dem Ende aller Tage“) beschreibt, und genau so setzt Tolkien das ja auch um. Was wir in Form von Mittelerde also bis hierher haben – wir befinden uns immer noch auf der ersten Seite der Ainulindale –, ist eine Welt mit einem Endziel, die der Welt sehr ähnelt, an die der Autor mit seinem christlichen Hintergrund glaubte; unsere reale Welt vor dem Eintritt des Jüngsten Gerichts, das dem idealen Endzustand der Existenz in Gott vorgeschaltet ist, so wie Mittelerde der zweiten Musik der Ainur vorgeschaltet ist.

Der Rest der Ainulindale beschreibt eigentlich nur noch, wie unabänderlich der Lauf der Weltgeschichte sein wird. Damit bilden die Ereignisse rund um die Rebellion Melkors den zweiten konstitutiven Teil der Teleologie, der darin besteht, dass das Ziel erreicht werden wird, egal was für Umstände auch eintreten mögen. So etwas glaubte Augustin mit seinem Gottesstaat ebenso wie Hegel mit seiner dialektischen Weltgeschichte (Werke, Band 12).

Die Parallelen zur Bibel gehen in der Ainulindale damit weiter, dass es eine luziferische Figur gibt, die sich machtvoll gegen Ilúvatars Willen auflehnt. Doch wie gegen den allmächtigen christlichen Gott dient auch der Aufstand gegen Ilúvatar tatsächlich dem göttlichen Plan und das Endziel der Welt gerät nie wirklich in Gefahr.

Der Schöpfungsprozess vollzieht sich folgendermaßen: der Gott Ilúvatar ist der Ursprung aller Dinge. Zuerst entstehen die Ainur, deren Ursprung Tolkien nur als „Sprößlinge seiner Gedanken“ bezeichnet (S 21). Die Ainur dienen in der Geschichte Mittelerdes dann als eine Art von Göttern. Ihnen gibt Ilúvatar vor, eine Musik zu spielen, durch die eine Vision der Welt Mittelerde und ihrer Bewohner, „der Kinder Ilúvatars“ entsteht (24). Dies Kinder sind Elben und Menschen. Dieser Vision gibt Ilúvatar durch Aussprechen des Schöpfungswortes „Eá! Es Sei!“ dann materielle Gestalt (26). Doch schon während des Konzeptionsprozesses kommt es zu einer Störung. Der mächtigste der Ainur namens Melkor, später „Morgoth, der Dunkle Feind der Welt genannt“ (39), versucht, die vorgegebene Melodie, und damit die Gestalt und das Wesen Mittelerdes, nach eigenen Wünschen zu verändern, denn „heiß war sein Verlangen, Dinge in die Welt zu setzen, die sein eigen wären“ (22). Doch dieses Verhalten hatte Ilúvatar vorhergesehen. Er lässt zwar zu, dass die Disharmonien Melkors (seine Anteile am Lied waren „schrill und leer […] eine lärmende Einstimmigkeit“; 23) Eingang in die Vision Mittelerdes finden, doch er hält sie auf ganz grundsätzliche Weise in Zaum und erklärt dies Melkor auf eine das Wesen der Teleologie treffend charakterisierende Weise:

„[D]u, Melkor, sollst sehen, kein Thema kann gespielt werden, das nicht in mir seinen tiefsten Grund hätte, noch kann einer das Lied verändern mir zum Trotz. Denn wer dies unternimmt, nur als mein Werkzeug wird er sich erweisen, um Herrlicheres zu schaffen, von dem er selbst nichts geahnt“ (23).4

Niemand kann das Lied, also die Welt, gegen Gottes Willen verändern. Und wer das dennoch tut, tut damit doch Gottes Willen und seine Freiheit zur Auflehnung erweist sich als Illusion: sehr christlich, sehr teleologisch. Und zwar auf eine Weise teleologisch, die auch ohne einen Gott auskommen könnte. Hegels Dialektik etwa funktioniert ganz ähnlich, denn selbst Rückschläge im Fortschritt dienen demnach nur dazu, den Fortschritt im nächsten Abschnitt der dialektischen Entwicklung voranzutreiben. Wenn man Hegel einmal in Tolkiens Worte fasst, erweist sich der Rückschritt als ein Werkzeug, das nur noch Herrlicheres schafft;5 ganz wie Melkor, der erkennen muss, dass seine rebellischen Gedanken „nur ein Teil des Ganzen […] und [Ilúvatar] untertan“ sind (S 23).

Dass teleologische Überzeugungen in Rückschlägen verkappte Fortschritte sehen, ist natürlich zuerst einmal von strategischer Bedeutung. Hegel, die Bibel und andere Teleologien müssen angesichts der nun einmal gar nicht zielgerichteten Erfahrungen der Realität Argumente finden, welche die tatsächlichen Irrungen und Wirrungen der Geschichte mit dem Endziel wieder in Übereinstimmung bringen. Also gilt es, aus der Not eine Tugend zu machen. So auch bei Tolkien. In Mittelerdes Geschichte bringt Melkors Auflehnung erst die richtige Würze ins Spiel, wie sogar die Ainur einsehen. So sagt Ilúvatar zu dem Ainu Ulmo: „Bittre, unermessliche Kälte hat [Melkor] ersonnen und doch nicht die Schönheit deiner Quellen und klaren Teiche vernichtet.“ Und Ulmo antwortet: „Wahr ist´s, schöner sind nun die Wasser, als mein Herz es gedacht …“ (beides S 25).
Während aber die Erklärung von Rückschlägen in der Realität von taktischem Charakter ist, und mehr als einmal den Eindruck von Hilflosigkeit macht, ist sie in der Literatur verzeihlich. Und sie ist auch in einem anderen Sinne notwendig als in der realistischen Teleologie. In der realistischen Teleologie – wie ich alle Teleologie nennen möchte, die als real existierend postuliert wird, ungeachtet der Tatsache, dass es bisher keine Teleologie gibt, die nachweisbare Endziele aufweisen konnte – besteht die Notwendigkeit, Widersprüche zu den postulierten Endzielen aufzuheben, um Überzeugungskraft zu behalten. In den fiktiven Teleologien der Literatur kann es wie im Fall Mittelerdes notwendig sein, Widersprüche nur aus dem Grund zuzulassen, dass sie eine interessante Handlung ermöglichen. Hätte Tolkien von einer Mittelerde erzählt, auf der Menschen und Elben in Ermangelung eines bösen Feindes jahrtausendelang nur Blümchen pflücken und Harfe spielen, wäre den Büchern ihr Erfolg wohl versagt geblieben.

Nimmt man die Kosmogonie Mittelerdes, so ist der Befund eindeutig, dass diese Welt eine teleologisch ausgerichtete Welt ist. Ihr Anfang und vor allem ihr Ende sind in Stein gemeißelt, Freiheit gibt es nur in der Mitte, und auch das nur in – wenn auch weiten – Grenzen. Diese Mitte aber umfasst ungezählte Jahrtausende, so dass genug Platz für die Protagonisten bleibt, sich zu bewähren. Und eine für ebenfalls alle Protagonisten bestehende Unkenntnis der zukünftigen Weltgeschichte, sorgt für Handlungen, die von einem freien Willen bestimmt sind:6 „Ilúvatar hat nicht enthüllt, was die Bestimmung von Elben und Valar nach dem Ende der Welt ist; und selbst Melkor hat sie nie entdecken können“ („Ilúvatar has not revealed what he purposes for Elves and Valar after the World´s end; and Melkor has not discovered it“; Morgoth´s Ring 21f.).

So wissen die berühmtesten Personen Mittelerdes, etwa Frodo, Sam, Aragorn und auch die Weisen wie Galadriel und selbst Gandalf nicht, in welchem Kontext ihre Leiden und Handlungen stehen. Und der Leser von Der Herr der Ringe und Der Hobbit ahnt erst recht nichts davon. Die Ringerzählung und ihr Prequel funktionieren völlig ohne Teleologie. Wenn denn überhaupt ein Ziel zu erkennen ist, dann ist es eher das Gegenteil des Paradieses, denn mit dem Fall Saurons verschwinden die Elben aus Mittelerde und ein Großteil ihrer Schönheit und Magie gehen mit ihnen. Nach allem, was der Leser weiß, wird die Welt prosaisch statt paradiesisch. Erst Christopher Tolkien hat die riesengroße Geschichte Mittelerdes dem Publikum enthüllt, im HdR gibt es nur spärliche Hinweise und Sagenfetzen. Ist das alles also nur eine private Spielerei des Autors gewesen?

Wohl kaum, denn er hat sich über viele Jahre bemüht, das von seinem Sohn Christopher dann herausgegebene Silmarillion selbst zu veröffentlichen. Das ist aus verschiedenen Gründen gescheitert, aber schon der Versuch zeigt, dass er dem Publikum die besondere, teleologisch entwickelte Weltgeschichte eigentlich zugänglich machen wollte.

Über die Gründe dafür lässt sich nichts Endgültiges feststellen. Man kann zwar ziemlich sicher sein, dass er sein Universum als Würdigung und Ausdruck der Liebe zu Gottes Schöpfung verstand. Sein dementsprechender Glaube steht außer Frage und in On Fairy Stories beschreibt er die menschliche Kreativität als Abbild der göttlichen Kreativität und Kunst als eine Art Gottesdienst.7

Kann oder muss man Mittelerde also als programmatische Welt sehen? Hat Tolkien die Welt vielleicht gerade so erschaffen, weil er missionieren wollte? Eher nicht. Denn auch wenn er wirklich drängend versuchte, das Silmarillion verlegen zu lassen, so ist eine eventuelle christliche Programmatik auch darin doch nicht sehr prominent. Richtig zum Ausdruck kommt sie nur in einem eher theoretischen Kapitel ganz am Anfang und dann entfaltet sich die Weltgeschichte hunderte Seiten lang rein episch und tragisch sowie mit viel Schlachtenlärm. Eine echte christliche Streitschrift im Fantasygewand kommt da ganz anders daher, wie jeder weiß, der sich durch die Narnia-Bücher von C. S. Lewis gekämpft hat. HdR und Hobbit schließlich enthalten überhaupt keine Hinweis mehr auf die christlich orientierte Schöpfung und das in gleicher Weise christliche Telos der Welt. In beiden Büchern gibt es nicht einmal eine richtige Form von Religion. Und das obwohl Tolkien nach dem Erfolg des Hobbit fest damit rechnen konnte, dass der Ring ein Publikumsknüller werden würde. Also hätte er doch hier programmatisch werden müssen, wenn er das denn in einer Weise gewollt hätte, die sein Freund Lewis zeitgleich mit der Perelandra-Trilogie vorlegte.

Nein, ich denke nicht, dass Tolkien mit seinen Büchern religiöse Überzeugungsarbeit leisten wollte. Was ich gut finde, denn Versuche, durch die Hintertür zu missionieren sind unlauter; ein Vorwurf, den ich Lewis zu machen bereit bin. Und diese Unlauterkeit kann durchaus Wirkungen in der Realität zeitigen, und zwar auch schlechte. Nun ist das naive Christentum bei Lewis meiner Ansicht nach nicht verwerflich, schon weil es sehr offen daherkommt. Aber schon bei L. Ron Hubbard sieht das ganz anders aus; hier verstecken sich problematische Überzeugungen. In L. Ron Hubbards Science Fiction findet sich ein funktioneller Kern, der dem von Tolkiens Mittelerde ähnlich ist. Auf diesem Kern wurde eine in der Realität recht wirkmächtige Ideologie aufgebaut, die das Leben tausender Menschen nachhaltig negativ beeinflusst – die Pseudoreligion der Scientologen. Wenn man Menschen schon davon überzeugen kann, dass ein falsch interpretierter Maya-Kalender das Ende der Welt vorhersagt, so kann eine gutgeschriebene Teleologie erst recht wirkmächtig werden. Dabei konnte Hubbard gar nicht gut schreiben. Wie viel schlimmer wäre es also, wenn jemand von des Professors Kaliber so arbeitete?

Aber das hat er nicht getan, sondern nur sehr in Maßen und unaufdringlich seine Weltanschauung durchschimmern lassen. Und das ist mehr als alles andere ein weiteres Beispiel dafür, dass die Phantastik in Metaphern und fremdartigen Bildern Realität abbildet. Die Phantastik ist nicht phantastisch, aber sie kann mit phantastischen Methoden Weltordnungen darstellen und so für sie werben. Die Teleologie ist in der Realität gescheitert; es gibt keine Endziele, die das Ursache-Wirkungs-Geschehen in diesem Universum auf sich zu ziehen imstande wären. Ursachen zeitigen Wirkungen immer vom hinteren Ende des Zeitpfeiles ausgehend, und auch wenn sie meist algorithmisch ablaufen, sind sie doch ständig gut dafür, unter unvorhersehbaren Einflüssen ihre Richtung zu ändern.

Ein Autor hat seine fiktive Realität da viel besser unter Kontrolle, und wenn es ihm passt, das, was er erzählen will, durch eine gewisse Unabänderlichkeit zu betonen, dann soll er seinen Welten ruhig eine Teleologie verpassen. Das Publikum kennt dies Bild und sollte es verstehen.


 

1 Eine nicht mehr übersehbare Vielzahl von Schriften beschäftigt sich mit der Widerlegung des Telosgedankens in der Biologie. Einen immer noch erschöpfenden Überblick über das Thema bietet Stephen Jay Gould in Illusion Fortschritt.

2 Grundlage der folgenden Ausführungen ist die Ainulindale, wie sie im Silmarillion abgedruckt ist. In der HoMe, Band 10, stellt Christopher Tolkien vier Versionen der Ainulindale vor, die er aus dem Nachlass des Vaters edierte (Morgoth´s Ring 3-44). Die vier Versionen unterscheiden sich bezüglich der Ausgestaltung der Welt und der Ereignisse unmittelbar nach ihrer Erschaffung; außerdem sind sie deutlich länger als die Version aus dem S. Sie unterscheiden sich jedoch nicht bezüglich der für das Thema Teleologie entscheidenden Aspekte der Kosmogonie Mittelerdes und auch nicht in Bezug auf die Rolle Melkors und die Reichweite seines freien Willens, so dass es für die hier angeführten Überlegungen ausreichend ist, sich auf die eine Version aus dem S zu beschränken.
3 Eine Darstellung des Entstehungskontextes sowie eine zeilenweise Analyse des Gedichtes findet sich in Weinreich 2008.
4 Die Unmöglichkeit, Ilúvatars Plan zu ändern, wird in den in der History of Middle-earth abgedruckten erweiterten Versionen der Ainulindale auch explizit auf die Menschen und ihre Wirkungsmacht bezogen: „Ilúvatar knew that Men […] would stray often, and would not use their gifts in harmony; and he said: ‚These too in their time shall find that all that they do redounds at the end only to the glory of my work.’“ (Morgoth´s Ring, 36)
5 In der Tat findet sich bei Hegel sogar eine Stelle, wo er das Wirken des Weltgeistes in Worten erklärt, die ganz nahe bei der Ainulindale liegen. In den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte beschreibt Hegel die Entfaltung der Weltgeschichte als Spiel der Völker, das unbewusst dem Endziel des Erwachens des Weltgeistes und der uneingeschränkten Herrschaft der Vernunft dient und beschreibt die Rolle der Individuen und Völker folgendermaßen: „Diese unermessliche Masse von Wollen, Interessen und Tätigkeiten sind die Werkzeuge und Mittel des Weltgeistes, seinen Zweck zu vollbringen, ihn zum Bewusstsein zu erheben und zu verwirklichen; und dieser ist nur, sich zu finden, zu sich selbst zu kommen und sich als Wirklichkeit anzuschauen. Daß aber jene Lebendigkeiten der Individuen und der Völker, indem sie das ihrige suchen und befriedigen, zugleich die Mittel und Werkzeuge eines Höheren und Weiteren sind, von dem sie nichts wissen, das sie bewußtlos vollbringen …“ (Hegel 40)
6 Ob es sich um echten oder nur um eine Illusion freien Willens handelt, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es reicht, von einem für die Protagonisten anzunehmenden freien Willen auszugehen, der die Moralität ihrer Handlungen bestimmt.
7 Das erschließt sich vollständig erst im Fortgang des gesamten Essays, der Epilog drückt diesen Glauben jedoch komprimiert und aus sich heraus verständlich aus (vgl. OFS, 77-79).