Fantasy remains a Human Right: we make in our measure.
(J.R.R. Tolkien: On Fairy Stories)


 

Gedanken über den Stellenwert der Phantastik

Erweiterte Version des 2009-er Textes anlässlich des Tolkien Tages NIederrhein 2015
© Frank Weinreich

tl;dr
Fantasy ein Menschenrecht? Ja! Das Schreiben und Lesen von Fantasy ist ein grundlegendes wichtiges Recht, da die Fantasy hochpolitisch sein kann und in den meisten Fällen gesellschaftlich bedeutsame ethische Aussagen trifft oder durch ihre Plots vermittelt. Vor allem aber beinhaltet das Genre der unbegrenzten Möglichkeiten die freie Entfaltung des Geistes und der Fantasie. Die ist aber immer dann beeinträchtigt, wenn das Genre als belanglos oder irrelevant schlechtgeredet wird, oder man sich einreden lässt, dass dem so sei.

Fantasy soll ein Menschenrecht sein?

Wer sagt das?

Nun, es war J. R. R. Tolkien,
der diese Behauptung in dem berühmten Aufsatz On Fairy Stories in den Raum stellte.

Doch was bedeutet dieser Anspruch?

 

Kostenlose Fantasybücher für alle?

Freikarten fürs nächste Kino, die nötigenfalls in Karlsruhe oder Straßburg einklagbar sind?

Eher nicht. Aber eine besondere Bedeutung des Genres Fantasy muss sich dann wohl doch hinter dieser Aussage verbergen. Nun ist die Fantasy ein bestimmtes Gebiet aus dem Reich der phantastischen Literatur, und damit sogar nur ein kleiner Teilbereich der Literatur insgesamt. Fantasy sind Bücher Filme, Kunst und Spiele, die von Magiern, Drachen, Zwergen, Dämonen und Feenwesen berichten. Warum sollte dies Genre ein Menschenrecht begründen? Und auf welche Weise?

Es steckt mehr als ein Werbespruch oder die Übertreibung einer Banalität dahinter. Banal wäre es, wenn Tolkien damit nur hätte sagen wollen, dass ‘phantastische Phantasien’ etwas sind, das wir Menschen erschaffen können. Jedes Kind erfindet Monster, Helden und Drachen und spielt damit, und jeder weiß das. Wenn man aber Tolkien wörtlich nimmt und auf dem Rechtsgedanken beharrt und damit also über ganz grundlegende Rechte spricht, wie dem auf Unversehrtheit des Körpers oder dem auf Meinungsfreiheit beispielsweise, so erscheint ein ebenso hoch angesiedeltes Recht auf Fantasy grandios übertrieben. Vielleicht aber auch nicht?

Was wäre, wenn Fantasy – eine in Augen mancher Kritiker geistlose Zeitverschwendung par excellence –,

Was wäre, wenn Fantasy politisch und ethisch wirksam wäre und damit in der Tat eine besonders schützenswerte Sache?


 

I

Ich hüte mich, so hoffe ich doch zumindest, in diesem Zusammenhang vor Übertreibungen und möchte betonen, dass Fantasy sicherlich zuerst einmal eine Form von märchenhafter Unterhaltung durch Buch, Film und Spiel darstellt. Aber das ist es nicht allein, und ich denke, schon ein Blick auf populäre Fantasy – nehmen Sie das Beispiel Harry Potter – zeigt, dass das Genre mehr sein kann und wohl auch mehr sein will. Denn es ist einfach nicht denkbar, dass Joanne K. Rowling die vielen moralischen Entscheidungen, vor die sie ihren Harry und die anderen Protagonisten stellt, nicht auch einbaut, um eigene Moralvorstellungen zu propagieren und in den Lesern den Eindruck zu erwecken, dass das, was Harry tut, meist ethisch richtig ist, und das, was seine Gegner tun, meist ethisch falsch ist. In den Nebenhandlungen rund um das Zaubereiministerium ab dem fünften Band wird sie dabei sogar explizit politisch. Autorinnen wie Ursula Le Guin oder der bekannte deutsche Schriftsteller Bernhard Hennen äußern sich sogar öffentlich über den expliziten politischen Anspruch, den ihre Bücher haben.

Fantasy erzählt von Zauberei und anderen übernatürlichen Dingen und scheint damit erst einmal weit von unserer Realität entfernt zu liegen. Damit ist sie aber auch das Genre der unbegrenzten Möglichkeiten, denn sobald eine Autorin oder ein Regisseur das Übernatürliche einbauen, sind den Entwicklungen der Handlung keine Grenzen mehr gesetzt. Ist Magie im Spiel, so können ganze Universen gefährdet oder gerettet werden; werden Seelen und das Leben nach dem Tode zu einem Faktum, können Bedrohungen und Erlösungen ins Unendliche gesteigert werden. Genau das ist in der Fantasy der Fall und deshalb eignet sie sich auch zu entgrenzter Spekulation über alle Belange der Existenz. Dann kann Fantasy genauso gut Aussagen über Moral und Politik machen.

Doch was ist Fantasy überhaupt?

Die eine, unumstrittene Definition von Fantasy gibt es nicht. Stattdessen reichen die Definitionsversuche von Fantasy ist, wo Fantasy draufsteht, bis zu hochverklausulierten psychologischen und literaturwissenschaftlichen Näherungsversuchen, die bis zur Abstraktion von den Inhalten reichen. Als ich 2007 mein Buch „Fantasy. Einführung“ herausbrachte, wählte ich deshalb meine eigene Definition von Fantasy, auf die sich mittlerweile eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen stützen und die ich auch hier zugrunde lege. Doch zunächst ein paar Vorüberlegungen, warum ich gerade die in einigen Minuten genannte Definition wählte.

Fantasy kann man auf verschiedene Weisen zu fassen versuchen. Formal, inhaltlich, strukturell, und auf noch andere Arten. Während die Literaturwissenschaft eher mit formalen und strukturellen Punkten beginnen würde, beziehe ich mich bei meiner Definition allein auf inhaltliche Aspekte, und die dürften auch auf Seiten des Fantasypublikums wohl zunächst im Vordergrund stehen.

Fantasy – das sind doch Geschichten über Drachen, Zauberer, übermenschlich starke Heldinnen und märchenhafte Welten? Genau – zumindest in der klassischen Fantasy.

Drachen, Zauberer, phantastische Heldinnen, Magie – diese Punkte haben eines gemeinsam, und zwar den Aspekt des Übernatürlichen. Sie haben gemeinsam, dass das physikalisch nicht Erklärbare in den Geschichten eine mehr oder weniger selbstverständliche Tatsache ist. Heldinnen und Helden in der Fantasy beispielsweise – und das schließt tragische Heroen ebenso wie scheiternde oder negative Heroen mit ein – haben üblicherweise eine übernatürliche Begabung oder Einschränkung.

Sie sind Zauberer wie Harry Potter, besitzen magische Schwerter oder Rüstungen oder sie werden auf übernatürliche Weise behindert, wie der Hobbit Frodo in Der Herr der Ringe mit dem bösen Ring geschlagen ist. Die imaginären Welten, in denen Fantasy spielt, weisen in die gleiche Richtung. Ob es nun eigene Welten, wie die Rollenspielwelt Krynn aus der Drachenlanze oder das Land Osten Ard bei Tad Williams sind oder ob es sich um imaginäre Bestandteile unserer Welt handelt, wie die Zauberschule Hogwarts – in jedem Fall sind es phantastische Welten und Plätze, weil das Übernatürliche in ihnen zu Hause ist. Und die Magie, die in fast allen Fantasyerzählungen anzutreffen ist, erzeugt den gleichen Bruch mit der Realität wie es die übermenschliche Heldin und die phantastische Welt taten.

Es handelt sich bei allen drei die Fantasy inhaltlich umschreibenden Elementen um die Einführung beziehungsweise Nutzung des Phantastischen als eines die Realität des weltlichen Publikums überschreitenden Moments. Das unterscheidet sie insbesondere von der gerne in einem Atemzug mit erwähnten Science Fiction, ihrer literarischen Schwester aus dem Bereich der „spekulativen Fiktion“ (vgl. Heinlein 1953, 1188). Science Fiction muss aber, bei allen möglichen Ideen, im Rahmen einer zumindest theoretischen wissenschaftlichen Plausibilität bleiben. Dieser Beschränkung unterliegt die Fantasy nicht. Science Fiction trifft unter Umständen wildeste Annahmen über die Entwicklung der physischen Realität, Fantasy jedoch macht Aussagen über die metaphysische Realität. Das Übernatürliche ist immer Teil und Thema einer Fantasyerzählung.

Das klingt bis hierhin allerdings auch wie eine Beschreibung der alten Mythen und Sagen. Und in der Tat hat Fantasy viel mit den alten Sagen und Mythen zu tun, denn schon die erzählten vom Zauberhaften und waren in vielen Belangen nicht von dieser Welt, wenn sie beispielsweise vom griechischen Olymp oder von Asgard berichteten, beides Wohnstätten von Göttern, die nie auf irgendeiner irdischen Landkarte zu entdecken waren. Microsofts Encarta definiert Fantasy denn auch beispielsweise wenig aussagekräftig, aber illustrativ als „Sagen nachempfundene Unterhaltungsliteratur“.

Fantasy ist im Vergleich zu Mythos, Sage und Märchen aber eine vergleichsweise neue Kunstform, die im 19. Jahrhundert entstanden ist.

In seinen bekanntesten Formen, der High Fantasy und der Sword & Sorcery, existiert das Genre sogar erst seit den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als J. R. R. Tolkien und Robert E. Howard über Der Herr der Ringe beziehungsweise Conan den Barbaren schrieben. Doch das weite Feld der Fantasy überschreitet diese beiden Klassiker bei Weitem. Das Genre ist nicht auf Ritter-, Monster- und Drachengeschichten beschränkt, die auf anderen Welten spielen, wenn auch die Mehrheit der Geschichten diese klassische Melange wählt. Aber Fantasy kann in unserer Welt spielen, wie bei Harry Potter oder Artemis Fowl. Sie reichert unsere Welt dann eben nur um das Zauberhafte an. Sie kann im Weltraum spielen und wie Science Fiction aussehen, wenn man etwa an Star Wars denkt, das eben nicht weit in der Zukunft, sondern in einer weit, weit entfernten Galaxie spielt. Fantasy kann aber auch völlig surrealistisch daherkommen und so fremd wirken wie ein Bild von Salvador Dalí, beispielsweise im Falle von David Lindsays Voyage to Arcturus. Und sie lässt sich auch in ganz vielen Fällen kaum klassifizieren und tritt mit Horror-, Krimi- und Science Fiction-Elementen auf, etwa bei China Miéville. Fantasy kann eigentlich überall unvermittelt auftauchen, und ihre Erfinderinnen und Erfinder nutzen diese Freiheit denn auch weidlich aus. Ein Western bester John-Wayne-Tradition mit Drachen und Zauberern? Nichts ist unmöglich. Und damit haben Teile der Fantasy wenig bis gar nichts mit dem klassischen Mythen- und Sagenfundus zu tun.

Der Unterschied zwischen Fantasy auf der einen und Mythos und Sage auf der anderen Seite ist aber noch profunder. Mythen wurden nicht zur Unterhaltung erzählt, sondern sollten die Welt erklären. Sie berichteten von Göttern, Dämonen und Geistern, um mit Hilfe dieser Wesen Sinn und Zweck der menschlichen Existenz darzustellen. Vulkanausbrüche und Waldbrände waren dann eben von Göttern verursacht worden, weil man die verärgert oder vernachlässigt hatte. Der Mythos war wahr, man glaubte an ihn.

Ähnlich die Sage, die von den Gebrüdern Grimm als „kunde von ereignissen der vergangenheit, welche einer historischen beglaubigung entbehrt“ und als „naive geschichtserzählung und überlieferung“ definiert wird (Grimmsches Wörterbuch, Band 14, Spalte 1647). Der Sagenerzähler lieferte also keinen wissenschaftlichen Beweis für den trojanischen Krieg und die darin involvierten Götter, aber er behauptete, dass es sich wirklich so zugetragen habe. Mythos und Sage als Verwandte und Vorläufer der Fantasy behaupteten also, von realen Geschehnissen zu berichten.

Das aber tut Fantasy nicht. Fantasy ist Fiktion und kann auch nur als Fiktion verstanden werden, anderes nimmt man ihr in der modernen, der aufgeklärten und wissenschaftsorientierten Welt, in der die Fantasy entstand, nicht ab. Zwar müssen die Geschichten, um zu überzeugen, inhaltlich konsistent sein und die Welten und Ereignisse, von denen sie erzählen ernstnehmen. Sie müssen folgerichtig sein und sich an die Gesetze halten, die Regisseurin und Autor für die erfundene Welt aufstellten. Das nenne ich die Ernsthaftigkeit der Fantasyerzählung, die selbst in humorvoller Fantasy wie dem Scheibenwelt-Zyklus vorhanden ist. Reine Parodien, wie Barry Trotter oder Der Herr der Augenringe, können auf die Ernsthaftigkeit verzichten, echte Fantasy aber nicht.

Im Gegensatz zu Sage und Mythos erhebt sie jedoch keinen nach außen gerichteten Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Innerhalb der Geschichte wird die Welt von einer Schildkröte getragen, aber der jüngst viel zu früh verstorbene Terry Pratchett geht nicht hin und sagt, dass es da draußen im Weltall tatsächlich eine Welt gäbe, die auf dem Panzer einer Schildkröte ruht. Fantasy, so könnte man auch sagen, ist mythische Erzählung, an die niemand glaubt und nie jemand geglaubt hat.

Was also die Fantasy ganz wesentlich immer ausmacht, sind zwei Dinge:

Übernatürliches als Faktum und das bewusste Auftreten als Fiktion. Deshalb lautet meine Definition: „Fantasy ist ein künstlerisch-schriftstellerisches Genre […], dessen zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens metaphysischer Kräfte oder Wesen ist, und das als Fiktion auftritt, die als Fiktion auch verstanden werden soll und muss“

(Frank Weinreich 2007, 37)


II

Beides zusammen – vom Übernatürlichen zu erzählen und Fiktion zu sein – führt dann zu dem eingangs erwähnten Vorwurf der Belanglosigkeit. Und zu der daran anschließenden Frage: Was soll der Unsinn mit einem Menschenrecht zu tun haben? Eine Erzählung wie Wem die Glocke schlägt von Hemingway, die behandelt Politik, Leben, Tod und Liebe und dringt tief zum Wesen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens vor – was ist im Vergleich dazu schon phantastische Literatur mit ihren Drachen und Zauberern? Die Phantastik ist schlicht irreal, in ihrer Erscheinungsform als Fantasy sogar prinzipiell unmöglich, denn Magie und Dämonen gibt es nicht und wird es nie geben. Welche Bedeutung kann Fantasy also schon haben? Dass ein Buch wie Wem die Glocke schlägt verboten wird, das kann man sich gut vorstellen. Dass ein Grundrecht formuliert werden kann, das ein solches Verbot verhindert, das ist ebenso denkbar wie wünschenswert. Doch braucht man das auch für die Fantasy?

Ja, das braucht man auch für die Fantasy und andere phantastische Literatur! Beispiel Science Fiction, Beispiel 1984 von George Orwell oder Schöne neue Welt von Aldous Huxley. Beide Bücher berichten plastisch vom schrecklichen Leben in zukünftigen totalitären Gesellschaften. Man kann sich sofort vorstellen, dass und warum 1984 von den Nazis verboten worden wäre. Die Qualität eines 1984 ist sicher nicht in jedem schlachtenstrotzenden, modernen Fantasyzyklus vertreten … In manchen aber schon. Tolkien etwa, dessen durchaus auch subversive Kraft beispielsweise von Regimegegnern der alten Sowjetunion erkannt und gegen die Diktatoren gerichtet wurde. Und in dieser Woche erst las ich bei der BBC, dass es in Weißrussland eine Oppositionsgruppe gibt, die unter dem Slogan „Gandalf for President“ schon 50.000 Unterstützer gegen den Diktator Alexander Lukaschenko habe. Ein Slogan übrigens, der von Vietnamgegnern schon vor fast 50 Jahren im US-Präsidentschaftswahlkampf benutzt wurde. Fantasy kann durchaus politisch sein, denn phantastische Literatur ist gar nicht phantastisch, zumindest nicht, wenn man den Geschichten unter die Haube schaut. Ein Slogan übrigens, der von Vietnamgegnern schon vor fast 50 Jahren im US-Präsidentschaftswahlkampf benutzt wurde. Fantasy kann durchaus politisch sein, denn phantastische Literatur ist gar nicht phantastisch, zumindest nicht, wenn man den Geschichten unter die Haube schaut.

Die Frage ist doch, wie phantastisch die ganzen phantastischen Dinge überhaupt sind, die in der Fantasy erzählt werden. Oder auch in der Science Fiction, im Märchen, im sogenannten Horrorgenre.

Selbst vordergründig sind die phantastischen Dinge und Wesen doch recht realistisch: Ein Pegasus? Das ist ein Pferd, dem die Phantasie Vogelflügel angedichtet hat – irreal zwar, aber doch nur eine Zusammensetzung aus stinknormalen Lebewesen. Was ist ein magisches Geschoss? Das gleiche wie ein Pfeil oder eine Pistolenkugel, nur nennt der Autor die Materie, aus der das Geschoss besteht, magisch. Der böse Herrscher Sauron, der die Welt auf immer ins Dunkel stürzen will – nicht viel mehr als ein hypertrophierter Tyrann, wie es sie leider unter Menschen immer wieder gibt.

Und das war nur der Blick auf die Oberfläche. Denkt man etwas weiter, so wird klar: All die Drachen, Götter und Dämonen, alle bösen Wölfe, Zombies, Raumschiffe und Todessterne, alle Heiligen und alle Teufel sind doch eigentlich nichts anderes als Facetten des Menschlichen. All diese Dinge und Wesen übersteigen den Menschen in seinen Möglichkeiten Richtung Gut oder Böse um ein Vielfaches, aber der Bezugspunkt ist immer der Mensch. Und wie sollte es auch anders sein, denn die Phantastik wird von Menschen ersonnen. Fantasy ist phantasievoll bis weit ins Irreale hinein, aber nur, um uns damit etwas über uns selbst mitzuteilen.

Nirgendwo ist das besser ausgedrückt als in einem grundlegenden Aufsatz der Fantasy- und Science Fiction-Autorin Ursula Le Guin, die einmal gesagt hat:

„Realismus ist vielleicht die am wenigsten angemessene Form, um die unglaublichen Umstände unserer realen Existenz zu porträtieren. Ein Wissenschaftler, der in seinem Labor ein Monster erschafft, ein Bibliothekar in der Bibliothek von Babel, ein Zauberer, der beim Sprechen eines Zauberspruches versagt, ein Raumschiff, das auf seinem Weg nach Alpha Centauri verschollen geht – all diese Dinge sind präzise und fundamentale Metaphern für die menschliche Existenzweise. Der phantastische Erzähler, ob er nun Archetypen aus den Mythen oder die jüngeren Archetypen aus Wissenschaft und Technik zitiert, spricht nicht weniger ernsthaft als jeder Soziologe – und manchmal sehr viel deutlicher. Phantastische Literatur dreht sich um das menschliche Leben; darum wie es gelebt wird, wie es gelebt werden könnte, wie es gelebt werden sollte.“ (Le Guin 1979, 58, meine Übersetzung).

Die Phantastik und die Fantasy – sie sprechen also über das Leben, „wie es gelebt werden sollte“ und das in klareren Worten „und nicht weniger ernsthaft als jeder Soziologe“. Oder Politologe … oder Philosoph. Ist das so? Wenn das so ist, dann mischt sich Fantasy eben doch in soziale und politische Belange ein.

Ich erwähnte Harry Potter und das Zaubereiministerium. Dolores Umbridge, die in Band 7 als Unterstaatssekretärin im Ministerium arbeitet, deportiert menschengeborene Zauberer ins Zauberergefängnis nach Askaban, das dann nicht umsonst Ähnlichkeit mit einem Konzentrationslager hat. Sie ist böse, durch und durch böse – und das ist ein vielleicht plumper, aber klarer Kommentar Rowlings zum Thema Faschismus. Doch die Wirkung von Fantasy kann über bloße Appelle an die Leserschaft weit hinausgehen. Tolkiens Der Herr der Ringe wurde wie erwähnt in der früheren Sowjetunion als Befreiungsliteratur verstanden. Der Kampf der Hobbits gegen das übermächtige Böse wurde als hoffnungsfrohe Botschaft zum Durchhalten gegen die übermächtige Partei gelesen. Und dabei hat sich Tolkien selbst immer gegen eine politisch motivierte Allegorisierung seiner Bücher ausgesprochen.

Bernhard Hennen hat mit seinem High-Fantasy-Zyklus über Die Elfen eine unter der Oberfläche politisch und ethisch wirksame Reihe geschaffen, der man das auf den ersten Blick vielleicht gar nicht ansieht. Aber hinter dem vordergründig eindeutigen Kampf von Gut gegen Böse scheint eine Vielschichtigkeit auf, die der Fantasy üblicherweise abgesprochen wird. So thematisiert Hennen beispielsweise den Wunsch der Elfen nach einer harmonischen und perfekt organisierten Welt durchaus zwiespältig. Im Interview sagte er mir dazu:

„Auch Personen mit den besten Absichten tun Böses. Wenn man beispielsweise das Elfenideal der Welt zu Ende denkt, so ist das äußerst problematisch. Wenn man einen vollkommenen Ort erschaffen will, an dem Frieden und Harmonie herrschen, so hört sich das zunächst nach einem wunderbaren Ideal an, bis man darüber reflektiert, wie der Weg dahin wohl aussehen mag? In einer solchen Welt müsste das Unvollkommene ja verschwinden. Wer aber entscheidet, was vollkommen und was unvollkommen ist? Und was geschieht dann mit den Unvollkommenen?“ (Quelle: Persönliches Gespräch im Dezember 2013)

Auf die Frage, ob er denn überhaupt jemals etwas rein zur Unterhaltung geschrieben habe, antwortete Hennen, dass er immer politische und moralische Ideen und Überzeugungen einbette.

„Ich versuche, sie so zu verpacken, dass sie nicht zu aufdringlich sind, und wenn man sich nicht darum schert, dann kann man das auch wunderbar überlesen. Obwohl, das mit dem Überlesen ist vielleicht etwas zu leicht daher gesagt, denn unterschwellig haben diese Dinge immer eine Wirkung.“ (Quelle: Persönliches Gespräch im Dezember 2013)

Soweit Hennen. Fantasy kann aber sogar noch mehr als nur politisch-moralische Einmischung leisten. Dennis McKiernan etwa verpackt in jedem seiner, zugegebenermaßen äußerst blutigen, Midgard-Romane ein grundlegendes philosophisches Problem, das dann im Verlauf der Handlung unaufdringlich und unterhaltsam aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird. Was ist Wahrheit? Was ist Realität? Wie funktioniert Kausalität und hat sie Grenzen? sind einige solcher Fragen.

Der Fantasyzyklus Erdsee der gerade zitierten Ursula Le Guin nimmt philosophische, soziale und psychologische Fragestellungen auf. Da geht es um Liebe, den Sinn des Lebens, das Verhältnis von Rationalität und Emotion; die Themen werden im fiktionalen Kleid nicht weniger ernsthaft behandelt als ein entsprechender Dozent an der Universität das tun würde. Und – das nur nebenbei – ihre Science Fiction ist immer hochpolitisch.

Fantasy kann sich also durchaus einmischen und die genannten Beispiele, die sich nahezu beliebig verlängern ließen, zeigen, dass sie das auch tut. Große Teile der Mainstream-Fantasy, die oft durch Anlehnung an Tolkiens Mittelerde, durch die Konzentration auf Entwicklungsgeschichten und durch die Erweiterung umsatzträchtiger Rollenspielsettings gekennzeichnet sind, werden sich nicht unbedingt einmischen. Aber selbst die eher flach geratene Fantasy ist Kind ihrer Zeit und spiegelt gesellschaftliche Überzeugungen wider, die eben heutzutage meistenteils Freiheit, Freundschaft, Toleranz und verwandte Werte als die Eigenschaften der „guten Heldinnen“ darstellen. Es könnte schlimmer sein, als dass ausgerechnet diese Werte salonfähig gehalten werden. Dass aber unschönere Propaganda nicht ausgeschlossen ist, impliziert auch Hennen zurecht, wenn er sagt, dass diese unterschwelligen Ideen „immer eine Wirkung“ haben.

Wo Fantasy tief schürft, da ist sie in der Lage, wirklich wichtige Einsichten hervorzurufen. Und da sie diese Eigenschaft hat, besitzt sie auch gesellschaftliche und politische Relevanz, was ohne Umweg zu dem Gedanken an ein Grundrecht zurückführt. Es ist also nicht sinnlos, ein solches für die Fantasy und die Phantastik insgesamt vorzuschlagen.

Und dieses Thema ist nicht gerade neu …

III

Im antiken Griechenland von vor zweieinhalbtausend Jahren waren tragische und komische Geschichten und Theaterstücke ein ganz wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens. Diese Geschichten dienten Unterhaltungs- ebenso wie Bildungszwecken und sie übten auch politischen Einfluss aus. Die Stücke und Mythen handelten meist von Göttern und Helden und deren Abenteuern und entsprachen, wie schon angedeutet, weitestgehend dem, was wir heute in der Fantasy sehen und lesen. Die antiken Stoffe – nicht nur der Griechen, auch der Römer, Chinesen, Wikinger und Indianer liefern nicht umsonst heute tausendfach die Vorlagen von Fantasyromanen, -filmen und Computerspielen.
In Griechenland lässt sich diese Erzähltradition über mindestens 400 Jahre nachweisen, bevor der Philosoph Platon auftrat und in seinen ethischen Lehren auf einmal behauptete, dass die phantastischen Dichter und Maler in einem gut eingerichteten Staat keinen Platz hätten (Politeia, 605b). Platon plädiert dafür, die Dichter aus dem Lande hinauszuwerfen, und berührt damit doch plötzlich einen Punkt, wo darüber diskutiert werden muss, ob Fantasy ein Menschenrecht ist.

Platon wollte mit diesen Lehren nämlich die seinerzeitige Variante der Fantasy verbieten.

Warum wollte er sie verbieten?

Den Grund fasste Christoph Riedweg vor einigen Jahren sehr schön zusammen, als er in der „Neuen Zürcher Zeitung“ Platons Dichterschelte auf die moderne Medienkritik bezog:

„Um Platons Motive zu verstehen, muss man sich in Erinnerung rufen, dass in der klassischen griechischen Polis die Dichtung in der Öffentlichkeit eine ungleich wichtigere Rolle spielte. Im Grunde ist ihre Bedeutung am ehesten mit derjenigen der Medien in der heutigen Gesellschaft zu vergleichen. Belehrung, Unterhaltung, gehobene (und auch weniger gehobene) Abspannung lieferte in der antiken Gesellschaft in erster Linie die Dichtung in ihren verschiedenen Formen und pragmatischen Kontexten […] Bereits im ersten Unterricht stand Dichtung im Zentrum: An Homer lernte man Lesen und Schreiben“ (Riedweg 1999).

Platons Buch Der Staat (Politeia), in dem die Forderung nach der Vertreibung der Dichter und Maler formuliert wird, ist kein Buch primär über die Kunst, sondern eine der einflussreichsten Schriften der Ethik und der politischen Theorie überhaupt. Darin ähnelt sie Tolkiens OFS, der mit seiner Schrift auch weit über die Kunst hinaus ging. Platon zeichnet im Staat das Bild des idealen Menschen und der idealen Gesellschaft. Und diese soll mit Kunst und Schriftstellerei nur insoweit in Kontakt kommen, als dass Kunst und Schriftstellerei programmatisch den Zielen des Staates dienen: Unterhaltung, Ablenkung, Querdenken, Innovationen – all das ist verboten, denn der ideale Staat kann ja nicht mehr verbessert werden, nur gestört. Und insofern ist die Forderung Platons schon eine immens politische Forderung mit gewaltiger ethischer Schubkraft – negativer Schubkraft wohlgemerkt. Vor diesem Hintergrund ist die Idee eines Menschenrechtes auf Fantasy eben doch auch eine Forderung nach einem schützenswerten Grundrecht, und zwar eine mit durchaus politischen Anklängen. Außerdem zeigt sich vor diesem Hintergrund, dass die Forderung nach Fantasy als Menschenrecht auch eine aktuelle Forderung ist, denn das von Platon eingeforderte Gegenteil – die Zensur der Dichter und Künstler – ist eines, das in den seither vergangenen 2.400 Jahren nicht mehr aus der Diskussion verschwunden ist. Immer wieder gab und gibt es Menschen oder Gruppen, die glauben sie wüssten, wie das ideale Leben aussieht, und die deshalb allzu oft geneigt sind, andere Ideen gar nicht erst aussprechen zu lassen.

Dazu noch einmal Christoph Riedweg:

„Sobald man sich der außerordentlichen gesellschaftlichen Relevanz von Dichtung bewusst wird, überrascht auch die Intensität und Schärfe der Auseinandersetzung bei Platon kaum mehr. Entsprechendes findet sich in der modernen Debatte um die omnipräsenten Medien und ihren Einfluss besonders auf Kinder und Jugendliche, aber auch auf die Gesellschaft insgesamt. Wie viel Gewalt- und pornographische Darstellungen etwa sind, zumal in öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen, zulässig? Zu welchen Zeiten, wenn überhaupt, sollen sie ausgestrahlt werden, um die Jugendlichen so weit wie möglich vor einer falschen «Prägung» zu bewahren? Käme den Medien nicht überhaupt die Aufgabe einer «moralischen Sekundärsozialisation» nach der Primärsozialisation in Familie und Schule zu (B. Debatin) – mit den entsprechenden Konsequenzen für die Gestaltung der Programme? Solche und ähnliche Fragen werden, in unterschiedlicher Lautstärke, immer wieder gestellt“ (Riedweg 1999).

Und diesen Punkt kann man getrost aus der Schulpädagogik herausheben, auf die Riedweg sich bezieht, und auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge erweitern. Auch da stellt sich die Frage danach, welche Medieninhalte opportun sind. Zwar wird überheblich davon ausgegangen, dass ‚echte’ Erwachsene weniger des Schutzes vor Gewalt und Pornografie bedürften, aber Feuilleton und Politik machen sich doch reichlich Gedanken darüber, dass der Mensch seine Zeit sinnlos verbringt, anstatt nach dem Guten und Schönen zu streben. Popkulturphänomene wie die Fantasy zählen dann meist zur Gruppe derjenigen Tätigkeiten, die als Zeitverschwendung angesehen werden. Natürlich will niemand heute mehr die Phantasten verbieten, aber in gewisser Weise geächtet werden sie schon, wenn man ihre Erzeugnisse und Ideen als belanglos oder als Spielerei abtut.

Und eine derartige Geringschätzung nimmt dann doch schnell (gesellschafts-)politische Dimensionen an. Fantasy stürzt sich begierig auf Mythen-, Sagen- und Märchenstoffe und transformiert sie, sowohl um zu unterhalten als auch zur Spekulation. Unterhaltsam sind diese Stoffe schon aus dem Grund, dass sie sich in Tausenden von Jahren als Themen bewährt haben. So viele Themen, die das Publikum bewegen, gibt es ja gar nicht: Liebe, Hass, Freundschaft, Verrat, Mut, Feigheit, Spannung, Abenteuer, Neugier – alles endlos oft thematisiert, aber die überlieferten Stoffe haben bewiesen, dass sie interessant sind. Also rein damit in die Fantasy. Und zum Spekulieren, zur Frage „Was wäre wenn?“, lädt die Fantasy wie sonst nur die Science Fiction ein, denn sie bietet unendliche Möglichkeiten, Fragen und Situationen durchzuspielen.

Da die Fantasy in erster Linie eine Erscheinung der Moderne ist, einer Zeit, in der die weißen Flecken des Nichtwissens ziemlich zusammengeschrumpft sind und zumindest keinen Platz mehr für den Glauben an Zauberer und Drachen lassen, ist sie nur mehr Spiel mit dem Übernatürlichen. Doch auch das Spiel, oftmals gerade das Spiel, vermag es, das Bewusstsein gewaltig zu erweitern und den Blick auf die Dinge, wie sie sind, zu schärfen. Lies nach bei Tolkien, der genau das meint, wenn er in OFS von einem Reinigen der Fenster spricht, das einem erst wieder die rechte Sicht auf die Dinge ermögliche (vgl. OFS 67f.).

Wird nun die phantasievolle Spielerei als Zeitverschwendung abgekanzelt, so amputiert man wichtige Teile der menschlichen Gedankenwelt. Fantasy, so war ihr wichtigster Autor, J. R. R. Tolkien, überzeugt, hat bedeutende psychohygienische Funktionen. Das gedankliche Eintauchen in phantastische Welten, sei es als Autor oder als Publikum, trainiert nicht nur die Phantasie, sondern stellt, wie gesagt, auch den Blick auf die Wirklichkeit wieder scharf (recovery), es schenkt Freiheiten (escape) und es tröstet und versöhnt einen mit der Realität (consolation; OFS, 53-62).

Fantasy hilft durch ihre phantastischen Welten, wieder Staunen zu lernen, die Welt aus anderer Perspektive zu betrachten und sie so besser erkennen und einschätzen zu können; besonders in Bezug auf das, was wirklich wichtig ist im Leben. Freiheiten, zumindest des Denkens erlangt man durch die Fluchten, die Fantasy gestattet. Das sind Fluchten aus der Realität, aber gerade nicht, um der Realität in Traumwelten zu entkommen, sondern um Alternativen zu dem, was ist, aufzuzeigen. Diese Alternativen gestatten dann wieder den Perspektivenwechsel und können als Idee für eine andere, vielleicht ja bessere Lebensführung dienen. Die Fantasy tröstet, indem sie Hoffnung entfacht, die in den neuen Perspektiven enthalten ist, auf die man hingewiesen wurde, und das wiederum lässt einen die Realität nicht nur besser ertragen, sondern gibt auch Hinweise darauf, wie sie anders zu gestalten wäre. Fantasy führt zur Phantasie und damit zu einem potenziell unendlich großen Denkreichtum.

 

Es ist derzeit niemand zu erkennen, der die Fantasy mit Verboten bedroht oder sie explizit abschaffen will. Aber es gibt da diese seit Jahrzehnten bestehende Geringschätzung des Genres. Es wird vom Feuilleton nicht beachtet oder verlacht und in Schulen und Universitäten müssen sich die Lehrenden immer noch rechtfertigen, wenn sie Fantasy behandeln wollen. Und das gilt für Buch und Film gleichermaßen, während das Computerspiel ja sowieso die reine Zeitverschwendung ist. Das hat nichts mit Verboten zu tun, aber es drückt auf subtilere Weise aus, dass es sich wohl nicht lohnt, seine Lebenszeit mit Fantasy zu verschwenden.

Wer dem folgt und sich das Genre schlechtreden lässt, der ist auch in Gefahr, sich die Phantasie und das freie Spiel seines Geistes ausreden zu lassen. Fantasy ist Weltenbauen – und auch die Lektüre von Fantasy ist Weltenbauen, weil es sich dabei um aktiv aneignende Phantasie handelt. Nun gibt es immer dringendere Dinge, die Vorrang vor dem Traum vom Weltenbauen haben. Doch dieser Gedanke verkennt, dass Traum und Weltenbau vor allem der Selbstvergewisserung des eigenen Wünschens und Wollens dient und damit produktiv für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Es ist ein bisschen so, wie das, was man über die Meditation sagt: Jeder Mensch sollte zwanzig Minuten am Tag meditieren. Außer die, die keine Zeit haben. Die sollten eine Stunde meditieren. Jeder Mensch sollte ab und zu Fantasy lesen. Außer die, die sie für belanglos halten. Die sollten sie regelmäßig lesen.

Ich glaube wie Tolkien, dass Fantasy in der Tat neue Denkhorizonte zu öffnen vermag. Dass dies durchaus auch zu pessimistischen Schlüssen verleiten könnte, steht dabei auf einem anderen Blatt. Aber erst einmal ermöglicht dies Genre der unbegrenzten Möglichkeiten, alle denkbaren Aspekte in völliger Freiheit durchzuspielen. Die Phantastik lädt ein zur Spekulation des noch nicht Möglichen und sogar zum spekulieren über das Unmögliche. Was wäre wenn? und Wie würdest Du dich dann verhalten? sind die Fragen, die bei der Lektüre phantastischer Literatur immer mitschwingen und zum Nachdenken anregen. Und das hat, bei aller konkreten Irrealität des phantastischen Erlebnisses auch Auswirkungen auf das Denken und dann auch das Handeln in der realen Welt. Die Schlüsse aber, die man in den Elfenwelten zieht, die mochte Platon nicht dulden, weil er sie nicht kontrollieren konnte.


 

IV

Ich bemühe mich, wie gesagt, das Thema „Fantasy – ein Menschenrecht“ nicht zu hoch zu hängen. Es gibt sicherlich drängendere politische und soziale Probleme regional, national und international. Aber Kultur ist ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft. Kultur definiert zu einem nicht geringen Teil, wie eine Gesellschaft sich verhält, ob sie offen oder verschlossen ist, ob sie tolerant oder engstirnig ist und wie es um ihre Entwicklungschancen bestellt ist. Und deshalb sollte man die Rolle des Fantasygenres auch nicht zu klein reden.

Fantasy, das habe ich versucht zu zeigen, macht den Kopf frei und eröffnet neue Perspektiven; das kann man nicht nur bei Tolkien nachlesen, auch ein Krimiautor wie G. K. Chesterton wusste das schon. Ein freier Kopf und frische Gedanken sind aber eine Vorbedingung für die persönliche wie die gesellschaftliche Entwicklung und Fantasy mit ihren unbegrenzten Spekulationen kann genau diesen Raum öffnen, den Entwicklungen brauchen, um eintreten zu können.

Allen Interessensgruppen aber, die Menschen lieber unter Kontrolle und auf vorgegebenen Wegen halten wollen, ist diese Art der unkontrollierbaren Spekulation ein Dorn im Auge. Wir hatten gerade in Deutschland schon einmal eine Regierung, die die Freiheit der Kunst beschnitt, und Bücher und Bilder verbrannte, gerade weil sie zu freiem Nachdenken animierten. Und es waren meist die phantasievollsten Künstler und Werke, die zum Abschuss freigegeben wurden, die angeblich entartet waren. Auch Platon hatte sehr festgefügte Vorstellungen von dem, was er als gesellschaftlich wünschenswert ansah und was nicht. Damit in seinem idealen Staat ja niemand diese festgefügten Bahnen verließ, wollte er die phantastischen Dichter und Künstler verbannen, denn sie sind es, die auf die Abzweigungen von den normierten Wegen hinweisen.

So strikt wie Platon wird das heute natürlich kaum jemand vertreten, aber mehr oder weniger wohlwollende Einschränkungen der Denkfreiheit gab und gibt es immer und sogar potentielle Bücherverbrennungen sind oft naheliegender als man im vermeintlich aufgeklärten Europa glaubt. Und wenn es erst einmal so weit ist, dass verboten wird, dann wird wahrscheinlich in aller Konsequenz auch noch die flachste Fantasy verboten, weil sie von freiheitlichen Gedanken und alternativen Sichtweisen ja zumindest inspiriert ist. Also ist auch sie gefährlich, weil jeder Mensch diese Inspirationen in den eigenen Träumen weiterspinnt und ausweitet und dadurch selbst unkontrollierbarer wird. Wir sollten uns ein bisschen Unkontrollierbarkeit aber erhalten, und schon deshalb ist die Fantasy ein Menschenrecht. Obwohl es sich bei Fantasy ‚nur’ um Ersponnenes, Irreales, um Lügen, wenn auch durch Silber gehaucht, handeln mag.

Platon sagt im Staat: „Den Regenten der Stadt also, wenn überhaupt irgend jemandem, kommt es zu, zum Nutzen der Stadt, die Unwahrheit zu sagen, kein anderer aber darf sich damit befassen“ (Politeia 389b). Das ist zutiefst despotisches Denken. Mit einer guten Portion Fantasy selbst die ‘Unwahrheit’ zu sagen, kann ganz hilfreich sein dagegen …

Und wenn es in unserer vergleichsweise liberalen Gesellschaft schon nicht so dringend erscheint, sich gegen Unterdrückung wehren zu müssen … Obwohl, es gibt ja auch die andere Unterdrückung … die durch Mainstreamdenken … durch das Anheizen von Konsumwünschen … durch eine sublim gesteuerte Konzentration auf materialistische Werte und die daraus resultierende Bedeutung des Funktionierenmüssens …

Aber egal. Selbst wenn es also gar nicht als so dringend erscheint, ein Menschenrecht Fantasy gegen explizite Bedrohungen verteidigen zu müssen, so bleibt doch die Gefahr, dass man sich die Phantasie ausreden lässt, weil sie ja nicht so wichtig ist wie die Realität. Sollten Sie das spüren, empfehle ich, mal wieder einen guten Fantasyroman in die Hand zu nehmen.

Es muss ja nicht unbedingt Tolkien sein.

Obwoooohl … 😉

Literatur:

Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm auf CD-ROM und im Internet. http://dwb.uni-trier.de/de/
Heinlein, Robert A.: Ray Guns and Rocket Ships. In: Library Journal, Vol 78, (Juli) 1953. 1188 – 1189.
Le Guin, Ursula K.: The Language of the Night. Essays on Fantasy and Science Fiction. Edited and with Introductions by Susan Wood. New York: G.P. Putnam´s Sons 1979.
Platon: Sämtliche Dialoge. Hrsg. v. O. Apelt. Hamburg: Meiner 1993.
Riedweg, Christoph: Medienkritik in der Antike. Platons Ausgrenzung der Dichter aus dem Staat. In: Neue Zürcher Zeitung, LITERATUR UND KUNST, v. 27.03.1999, Nr. 72, S. 77.
Tolkien, J. R. R.: On Fairy Stories. Expanded Edition, with commentary and notes. Ed. by V. Flieger & A. A. Anderson. London: HarperCollins 2008.
Weinreich, Frank: Fantasy. Einführung. Essen: Oldib. 2007.