Das Falsche und Wahre liegt nicht in den Dingen,
so daß etwa das Gute wahr und das Böse sogleich
falsch wäre, sondern im Denken.
(Aristoteles, Metaphysik VI, 4, 1025b, 25f.)


 

 

Fantasy als angewandte Metaphysik betrachtet

©Frank Weinreich

(Dieser Aufsatz besteht zu großen Teilen aus der überarbeiteten und gekürzten Fassung des englischsprachigen Essays, den ich in erweiterter Form in Hiley/Weinreich Tolkien’s Shorter Works, Walking Tree Publishers 2008, veröffentlicht habe und der auf diesen Seiten unter diesem Link zu finden ist. Diese Kurzfassung ist außerdem bei tolkien-buecher.de veröffentlicht worden.)

Wie Sie sehen, habe ich Ihnen hier ein Buch mitgebracht. Es ist meine Erstausgabe von Der Herr der Ringe. Doch nein, dies ist natürlich keine wie auch immer geartete Erst- oder Sonderausgabe, sondern ein ganz normales Feld-, Wald- und Wiesenexemplar.

Herr der Ringe Erstausgabe

Aber es ist die erste Ausgabe, die ich mir – nach ein oder zwei Lektüredurchgängen in der Stadtbibliothek – selbst gekauft habe. Meine Frau und ich müssen diese drei Bücher jeweils um die zehn Mal gelesen haben und so sehen sie schließlich auch aus. Sie sind also etwas Besonderes für uns, denn sie sind über die Jahre unser Haupteintrittspunkt in die Welt Mittelerde gewesen. Und diese Metapher – das dass Buch unser Ticket nach Mittelerde sei – die hat schon was an sich, oder? Suggeriert sie doch, dass man die Phantasiewelten eines Buchautors richtig besuchen kann; ganz so, also ob sie dort hinter irgendeiner Teleportertür – vielleicht in einem Wandschrank? – wirklich liegen würden.

Wie real aber sind die Fantasywelten?

Kann man sie besuchen?

Und in welcher Form könnte dies stattfinden?

Die Welt Mittelerde ist beispielsweise sehr genau ausgearbeitet. Sie verfügt über eine Geographie und eine Geschichte, die dieser Zweitschöpfung in ihrer Detailliertheit eine Glaubwürdigkeit verleiht, die erstaunlich ist. Oder nehmen Sie eine andere Fantasywelt, etwa eine aus den verschiedenen Rollenspieluniversen wie Dungeons & Dragons oder Das Schwarze Auge. Hier haben Dutzende von Autoren, Zeichnern und anderen Künstlern zusammengearbeitet, um Welten zu erschaffen. Welten, die in Form der Rollenspiele ja sogar in Gedanken wirklich betreten werden können. Nein, betreten werden müssen, um das Erlebnis Rollenspiel wirken zu lassen.

Und Mittelerde existiert schließlich auch als die bombastische optische Interpretation, die uns alle hier auf der RingCon zusammenbringt – Peter Jacksons Verfilmung. Wie real ist die? Man kann die Drehorte besuchen, aber selbst zu Zeiten der Dreharbeiten, liefen dort weder Warge noch Bergtrolle herum; die kamen aus dem Computer. Die Addition der Bestandteile der Verfilmung – Schauspieler, Drehorte, Requisiten und Computeranimationen – scheint ein Ganzes zu schaffen, das mehr als die Summe seiner Teile ist. Und es geht noch weiter.

Computer- und netzwerkbasierte Onlinerollenspiele lassen ganz normale Menschen unserer physischen Welt tief in Fantasywelten eintauchen. Mit jeder technischen Neuerung gewinnen diese Tauchgänge an Tiefe und eine technische Umsetzung der meisten Bestandteile des Holodecks aus den Star Trek-Filmen ist nur noch wenige Jahrzehnte entfernt. Wieviel Realität aber hat eine Welt aus dem Holodeck? Die computergenerierte Figur des Vic Fontaine aus Deep Space Nine betätigt sich als Philosoph und psychologischer Berater, der tief in das reale Leben der ihn besuchenden ‚echten’ Menschen eingreift.

Wie weit geht es also mit den Fantasywelten?

Darauf gibt es eine einfache und eine kompliziertere Antwort.

Die einfache Antwort ist, dass ich mit den genannten Beispielen eine Problematik eröffnet habe, die gar nicht existiert. Denn natürlich sind Bücher von Menschen erdacht und existieren als Gedanken und gedruckte Worte, die man sich aneignen kann oder nicht. Nichts Mystisches soweit. Der Film ist nicht im mindestens mehr als die Summe seiner Einzelteile, weil man alles wieder genau auseinanderdividieren kann und ebenfalls nur klar identifizierbare Bestandteile erhält. Wieder keine Mystik. Und das Holodeck ist nichts weiter als eine um raffinierte sensorische Effekte angereicherte Künstliche Intelligenz, die sich innerhalb der Parameter bewegt, die in sie einprogrammiert wurde. Dass Vic Fontaine so lebensklug ist, hat er der Lebensklugheit seiner Programmierer zu verdanken. Kurz gesagt: Es gibt, soweit wir das mit empirischen Mitteln feststellen können, nur eine Welt und die Fantasywelten sind Bestandteil davon.

Die kompliziertere Antwort lautet: Wir wissen nicht, ob es mehr als unsere empirische Welt gibt, aber es ist möglich und das bedeutet, dass Fantasywelten innerhalb eines Kontinuums verschiedener Welten zumindest möglich sind. Einige Überlegungen aus der Philosophie legen sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dieser hinter der physischen Welt liegenden Existenzebenen nahe und dann ist es plausibel, dass auch Fantasywelten darunter zu finden sind. J.R.R. Tolkien, der Schöpfer Mittelerdes, war der Auffassung, dass genau dies der Fall ist und hat dieser Auffassung in dem Aufsatz On Fairy Stories und besonders dem Gedicht Mythopoeia Ausdruck verliehen. Philosophische Probleme bereitete ihm das in keinster Weise, war Tolkien doch ein tiefgläubiger Mensch und als solcher sowieso davon überzeugt, dass es eine Existenzweise gibt, die über die physische Welt hinausgeht – das Leben der unsterblichen Seele der Menschen und die Existenz in und mit Gott.

Bevor ich jedoch darauf eingehe, welchen Seinsstatus Tolkien den Fantasywelten im Besonderen sowie der Kunst im Allgemeinen zumaß, muss ich kurz in Erinnerung rufen, wie Wissenschaft und Metaphysik das Sein verstehen.

Es folgen ein paar Worte zur Ontologie.

Lässt man radikalkonstruktivistische Ansätze und den Solipsismus, der davon ausgeht, dass man sich die Existenz der Welt sowieso nur einbildet, einmal beiseite, so kann man durch Anschauung und Experiment nur eine physische Realität beweisen. Die umfasst die Welt, in der wir leben, sowie unser Sonnensystem. Die physische Realität umfasst die Milchstraße und sie umfasst ein einziges Universum, das in kompliziertem Zusammenspiel aller Bestandteile unsere Existenz ermöglicht. Jetzt hat sich auf dem Staubkorn Erde, vielleicht auch auf anderen Welten, nun aber eine Besonderheit entwickelt, nämlich bewusstes Leben, also Lebewesen, die dazu fähig sind, sich Gedanken zu machen. Und da dieses Sich-Gedanken-Machen in unendlicher Freiheit stattfindet, haben die bewussten Lebewesen ein paar komische Ideen entwickelt, deren Inhalte unabhängig von der physischen Realität des Universums sind.

Es wurden andere Universen erdacht; es wurden Wesen erdacht, die die Grenzen der physischen Welt überschreiten können; es wurden Götter erdacht, die das Universum vielleicht sogar überhaupt erst erschaffen haben. Und es wurden Phantasiewelten erdacht! Diese Universen, Wesen und Welten entziehen sich dem empirischen Nachweis, aber man kann eben auch nicht beweisen, dass sie nur Gedankenkonstrukte sind. Deshalb spricht man auch von einer Zweiten Welt der Gedanken oder des Geistes.

Beides zusammen nennt man die Zwei-Welten-Theorie.

Dass spätestens seit Karl Popper auch von Drei Welten oder noch mehr die Rede ist, spare ich aus, da es nichts an der grundlegenden Ontologie ändert.

Wieso können diese merkwürdigen Ideen philosophische Plausibilität beanspruchen?

Weil sie Antworten geben, die anders nicht erlangt werden können. Nichts davon ist beweisbar. Aber woher kommt das Universum? Aus dem ‚Gar-Überhaupt-Nichts’? Oder vielleicht ist es doch von einem Gott erschaffen? Oder aus einem Samen hervorgegangen, der aus einem anderen Universum stammt? Oder ist es Frucht eines Mutteruniversums der perfekten Formen und Wesen, die in allen anderen Universen imperfekt nachgebaut werden? Philosophie versucht, diese Möglichkeiten denkend zu erfassen. Besonders einflussreich war dabei das Bild einer Welt der Ideen, das schon vor 2.400 Jahren der griechische Philosoph Platon entwickelte. Platon ging davon aus, dass es für die Ausprägungen aller Dinge der realen Welt jeweils eine Art Vorlage geben müsse, die auf einer eigenen Seinsebene tatsächlich vorhanden sei. Dort müsse es irgendwo den idealen Tisch, das ideale Rad, den idealen Kreis geben. Was zunächst äußerst merkwürdig klingt, erlangt am Beispiel des Kreises, beziehungsweise der Geometrie überhaupt, Plausibilität. Es gelingt einfach nicht, den idealen Kreis oder die ideale Linie zu zeichnen. Irgendwo sind da immer Unebenheiten drin. Aber idealer Kreis und Linie lassen sich mathematisch beschreiben.

Platon schloss nun, dass es sie dann auch geben müsse, nur in einer eigenen Welt, der Welt der Ideen.

Das Bild von einer Welt der Ideen, die Ideenlehre also, ist natürlich hoch spekulativ, aber eben auch unwiderlegbar. Und man kann es auf andere Dinge beziehen. Zum Beispiel auf die Schönheit. Das ist ein Gedanke, der sogar recht nahe liegt, denn wenn man über eine Welt der idealen Formen und Vorlagen spekuliert, dann ist es kein weiter Weg zur Schönheit, ist doch, was perfekt ausgeformt ist normalerweise auch das schönste Beispiel seiner Gattung. Der ideale Kreis ist für die meisten Menschen schöner als ein von krakeliger Hand gezeichneter. Und an dieser Stelle, der Überlegung, dass es eine Welt der perfekten Formen und damit eine Welt der reinen Schönheit geben könne, an dieser Stelle setzen Tolkiens Überlegungen zum Seinsgehalt von Fantasywelten an, der eine eigene Ideenlehre entwickelt.

Ein berühmtes Beispiel zum Einstieg ist die autobiographische Kurzgeschichte Leaf by Niggle, auf Deutsch Blatt von Tüftler. Dort kommt die Idee der perfekten Form vor. Denn Niggle sieht es als sein Lebenswerk an, den perfekten Baum zu malen. Niggle versucht, den Baum der platonischen Ideenwelt auf irdische Leinwand zu bannen. Das klappt nicht, aber er schafft es zumindest, ein fast perfektes, einzelnes Blatt zu malen und damit eine Ahnung der Perfektion der Welt der Ideen in die physische Realität unserer Welt zu transportieren.

Es gibt einige Orte bei Tolkien, an denen sich des Autors Überzeugungen von menschlicher Kreativität und Schöpferkraft sowie deren Stellung im Gefüge des Seins analysieren lassen. Das erwähnte Leaf by Niggle etwa. Oder der berühmte Aufsatz On Fairy Stories, in dem sich Tolkien mit der Rolle von Kunst und Phantasie beschäftigt. Mythopoeia, jenes Gedicht, das er C.S. Lewis widmete, um ihm zu zeigen, dass Mythen keine Lügen sind, sondern wertvolle Wahrheiten enthalten, ist jedoch der wichtigste dieser Orte. Denn das ist das eigentliche Thema des Gedichtes: Die Verfasstheit des Seins; Mythopoeia stellt die poetische Quintessenz der Tolkienschen Ontologie dar. Hier bringt er seine Überzeugung vom Sein der Kunst ungeschminkt zum Ausdruck. Die Wahrheiten, die in den Mythen enthalten sind – und Tolkien hat Mittelerde mit dem Anspruch erfunden, einen Mythos zu kreieren – diese Wahrheiten sind Spiegelungen der Dinge, die auf der Ebene des perfekten Seins Faktizität besitzen. Dies wird in Mythopoeia ausgeführt.

Mythopoeia ist ein ebenso kraftvolles wie rätselhaftes Gedicht. Es erinnert in Metrum und Wortwahl an die englische Romantik, besonders an John Keats´ Lamia, und reicht mit seinem Anspruch doch schon von der ersten Strophe bis hinunter in die Antike, erinnert es doch an Lehrgedichte, in denen früher wissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt wurden. Vorgestellt wird es dann noch unter der Überschrift, eine Antwort an einen Mythenskeptiker sein zu wollen. Was soll diese Mischung aus romantischer Spekulation und wissenschaftlichen Aussagen und was verbirgt sich mit Blick auf Tolkien und sein fiktionales Werk dahinter?

Mythopoeia ist eine Wortschöpfung aus dem 19. Jahrhundert, bestehend aus den griechischen Vokabeln mythos und poeisis. Mythos muss nicht übersetzt werden und poeisis steht für „handeln, schaffen“, in diesem Fall aber im künstlerischen Sinne, wie Tolkien es in On Fairy Stories später etwas vorsichtiger beschreiben wird (FS 25). Mythopoeia bedeutet also Mythen erschaffen und der Titel im Zusammenhang mit der an Lewis gerichteten Widmung „To one who said that myths were lies …“ gibt das Programm des Gedichtes vor, den Wahrheitsstatus von Mythen aufzuzeigen.

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, aber auch gar nicht nötig, das Gedicht Vers für Vers durchzugehen. Ich beschränke mich auf die entscheidenden Passagen.

Die erste Strophe bildet die materialistische Weltsicht der Zeit, besonders aber die Weltsicht der empirischen Wissenschaften ab. Man bemerkt Phänomene in der wahrnehmbaren Welt und gibt ihnen zunächst rein klassifikatorische Bezeichnungen wie Baum, Erde, Weltkugel. Selbst ein Stern, eine Himmelserscheinung also, die immerhin Gegenstand unzähliger mythischer wie romantisierender Interpretationen war und ist, ist für die empiristische Weltsicht letztlich nichts weiter als etwas Materie in der Form eines Balles („some matter in a ball“, Zeile 5). Das Materielle verläuft in geregelten Bahnen, damit aber auch kalt und geistlos im Sinne von entspiritualisiert. Es ist ein Universum, indem die Sterne auf berechenbaren Kursen ihre Bahn ziehen, dies aber unausweichlich und ohne Sinn.

Strophe zwei berichtet von der Entwicklung von Zeit, Kosmos, Welt und schließlich dem Leben. Erwähnt wird unter anderem die Evolution. In den Zeilen 15 und 16 steht „an endless multitude of forms appear, some grim some frail some beautiful, some queer“ und diese Formen stammen nach Zeilen 17/18 aus einer Quelle, aus „one remote Origo“. Das ist nichts anderes als die poetische Kurzform des Evolutionsprinzips. Doch schon eine Zeile weiter besteht das Gedicht andererseits darauf, dass Gott die Welt und das Leben auf ihr schuf – „God made the petreous rocks, the arboreal trees“. Das ist aus heutiger Sicht kein Problem, denn Evolution und Gottesglaube schließen einander nicht aus. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man den Hinweis auf Gottes Schöpferschaft eigentlich nur als Einwand gegen die Evolutionstheorie lesen. Damit wäre also eine kritische Anmerkung gegen die modernen Naturwissenschaften zu konstatieren.

In Strophe drei erfolgt der erste Hinweis auf die starke Rolle der Sprache, der Namensgebung und des Menschen als Zeuge für ihr Dasein. Diese Stelle müssen wir gründlich durchgehen: Bäume werden erst zu Bäumen, wenn sie so benannt („named“) und von jemandem wahrgenommen („and seen“) wurden, so heißt es in Zeile 29. Und bemerkt ebenso wie benannt werden konnten sie erst, nachdem ein Benennender auf den Plan getreten ist – der Mensch. Der Mensch, der erst zum Menschen wird, indem er über Sprache verfügt, das sagt Zeile 31 („who speech’s involuted breath unfurled“). Der Mensch entfaltet sich erst zum Menschen durch den „schwer verständlichen Atem der Sprache“, die ein schwaches Echo und dunkles Bild der Welt ist, aber nicht im Sinne einer Aufzeichnung oder einer Photographie. Es ist nicht ganz einfach auseinanderzunehmen, was hier in dieser so wichtigen dritten Strophe zu finden ist, man sollte es Stück für Stück durchgehen.

  • Bäume werden erst zu Bäumen, wenn sie erkannt und vor allem auch benannt wurden. Baum steht hier für jegliches Phänomen der physischen Welt, belebt wie unbelebt. Das hieße dann, die Welt wird im eigentlichen Sinne erst zu dem Zeitpunkt zur Welt, wenn sie benannt wurde. Das ist aber auch ein erster starker Hinweis auf eine zweite Existenzebene, die darin zu suchen ist, dass es sich bei dieser ‚Welt im eigentlichen Sinne’ um eine spezifische ‚Menschenwelt’ handelt: Bäume werden erst zu wahren Bäumen, wenn ein vernünftiges Wesen sie erkannt und benannt hat. Es gibt also einmal einen Baum, der evolutionär aus einer Materiesuppe entstand; das ist eine der Formen aus Zeile 15 „an endless multitude of forms appear“. Und es existiert ein anderer Baum, der eigentliche Baum, denn der trägt einen Namen. Da der benannte vom unbenannten Baum aber weder durch Berührung noch durch mikroskopische Sektion oder biochemische Analyse zu unterscheiden ist, muss das Wesen des benannten Baumes irgendwo anders existieren.
  • Zeile 31 erzählt dann ziemlich verklausuliert von dem, der die Namen gibt, vom Menschen. Eine schwer verständliche Sprache bringt den Menschen „zur Entfaltung“. Die Entfaltung heißt nun nichts anderes, als dass der oder die Benennende erst durch Sprache zu dem wird, was er oder sie ist – ein Mensch, eine mit Bewusstsein ausgestattete Person. Und das ist ein Thema, das ein Philologe in jedem Fall bewusst einsetzt, denn das ist das aristotelische zoon logon echon, das „Tier das über Sprache verfügt“. Seit der Antike gilt die Sprachfähigkeit als die diejenige Eigenschaft, die den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet.
  • Dann geht es in den nächsten Zeilen um eine erste Charakterisierung von Sprache. In Zeile 32 heißt es, sie sei ein schwaches Echo und dunkles Abbild der Welt („faint echo and dim picture of the world“). Warum ist die Sprache des Menschen schwach und dunkel in der Abbildungsleistung der Welt? Das Gedicht betont, die Sprache sei keine getreue Abbildung in Form einer Aufzeichnung oder eines Bildes („but neither record nor a photograph“, Zeile 33). Eine Erklärung drängt sich auf: Wäre die Sprache und Namenszuweisung eine Photographie, so würde sie nur eine der „multitude forms“ aus Zeile 15 abbilden können. Das tut sie aber nicht, so die klare Aussage von Zeile 33. Was sie stattdessen erreicht, steht in Zeile 32, wo es heißt, sie bilde unsere reale Welt unvollkommen ab. Dafür kann es nur den Grund geben, dass sie eigentlich eine andere Welt abbildet, jene auf die Zeile 29 hinweist, die Welt, in der der benannte Baum, der echte Baum, das Wesen des Baumes zuhause ist.

Was aus der Betrachtung also zu ziehen ist, ist Folgendes: Es gibt eine Existenzebene neben der materiellen Ebene, auf der sich unsere Körper befinden und diese zweite Ebene muss etwas mit Sprache zu tun haben. Das legt den Verdacht nahe, dass der Mensch, das aristotelische zoon logon echon, einen Schlüssel besitzt, mit dem er diese Ebene aufschließen kann.

In den Zeilen 39 – 44 heißt es dann, dass der Mensch das Vorhergewusste aus der Erfahrung ausgräbt und das Spirituelle hervorbringt. Im Falle Tolkiens und seiner Leserinnen und Leser sind das insbesondere die Elben und ihre künstlerischen Fähigkeiten. Zwei Dinge sind hier wichtig. Erstens das Wort „foreknown“ (Zeile 39). Vorhergewusstes wird da ausgegraben. Es handelt sich um Wissen, das der Mensch nicht erlernt hat, sondern das er vorher, vor der subjektiven Erfahrung, ja vor dem Beginn seines Lebens, denn der Beginn des Lebens ist ja auch der Beginn seiner Erfahrungen, besessen hat. Das ist das von Platon (Sokrates in den Mund gelegt und nach diesem Sokratische Methode genannt) postulierte Sicherinnern an vorher gewusste Wahrheiten, von dem Tolkien hier spricht. Erinnerungen werden wiedergeboren und so das Wissen erneut gewusst, ein Konzept, das erstmals ausführlich in Platons Schrift Phaidon entwickelt wurde. Aber woher kommt das besondere Wissen, dessen man sich erinnert? Das kann wieder nur von einer anderen Existenzebene kommen, denn es ist erwiesen, dass Sacherinnerungen nicht auf normalem biologischem Wege vererbt werden können. Damit findet sich hier also ein erneuter Verweis auf das Übernatürliche. Zudem findet sich hier der erste Hinweis auf die besondere Stellung der Kunst und der Kreativität. Denn woran erinnert sich der Mensch da nach Überzeugung Tolkiens wieder? An die Elben und ihre Schmieden und Webstühle. Die Elben und ihre Schmieden und Webstühle, die hier ihre Arbeit in den Köpfen der Menschen verrichten, dienen als Metapher für die Kunst und den Stellenwert von Kunst und schöpferischer Tätigkeit, an die sich der Mensch erinnert.

Strophe 4 beschreibt in sehr schönen Bildern den Zauber, den man in der Welt wahrnehmen kann, wenn man sie mit Elbenaugen, mit den Augen des Künstlers also, sieht. Strophe 5 beobachtet dann den Menschen hinsichtlich seines Platzes in der Ordnung der Dinge. Die Strophen 6 – 9 erzählen von den Gefahren der Welt und davon, dass es das Böse wirklich gibt: „of evil this alone is dreadly certain, evil is“ (Zeilen 79f.). Aufgabe der Mythen – und deren Wahrheit gegenüber C.S. Lewis darzulegen ist ja der Sinn des Gedichtes – ist es, vor diesem Bösen zu warnen. Wer sich dessen bewusst ist und trotzdem ein wenig Mut zusammenhalten kann, der ist gesegnet (Strophe 8). Gesegnet sind aber besonders jene, die dann auch noch ihre Stimme erheben und von diesen Erkenntnissen in mythischer Erzählung berichten: „the legend-makers with their rhyme“ (Zeile 91). In Zeile 92 steckt dann wieder ein Hinweis auf die andere Existenzebene, denn die „legend-makers“ berichten Wahres, aber sie berichten von Dingen, die in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung nicht zu finden sind, denn das sind „things not found within recorded time“ (Zeile 92).

Strophe 11 ist dann besonders interessant wegen des Bildes, das von den Naturwissenschaften gezeichnet wird. Die fortschreitenden Affen aus Zeile 119 stellen eine Spitze gegen die Evolutionstheorie dar, die Tolkien wahrscheinlich in erster Linie als Beleidigung des Glaubens an die Gottesebendbildlichkeit des Menschen empfand. Wichtiger aber ist der Abgrund, der sich vor dem Fortschritt auftut (Zeile 120f.). Dass Tolkien den Fortschritt in Form des technischen Fortschrittes ablehnte, ist bekannt und bedarf keiner kritischen Analyse mehr. Technischer Fortschritt aber hängt vom Fortschreiten der Erkenntnisse in den Naturwissenschaften ab. Die Zeilen 125 bis 130 sind dann der unmissverständliche Ausdruck der Verweigerung gegenüber der unspirituellen Moderne und dem als vorherrschend empfundenen Materialismus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Diesen Weg geht der Dichter nicht; er verneigt sich nicht vor der eisernen Krone des Materialismus und er wird sein goldenes Szepter der schöpferischen Kreativität nicht ablegen.

Bemerkenswert ist noch die Zeile 126, denn „denoting this and that by this and that“, also Bedeutungen von einem Sachverhalt aus einem anderen zu entwickeln und wieder zurück zu verweisen, ist eine verklausulierte Kritik an den Erkenntnisprinzipien von Induktion, dem Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, und Deduktion, dem Schluss aus dem Allgemeinen auf das Besondere. Induktion und Deduktion sind aber die wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnismittel neben der Empirie.

Doch wie weit reicht die Erkenntnis denn nun?

Tolkien hat klar gemacht, was er ablehnt, er hat gezeigt was ein Mythos ist und dass der Mythos Wahrheiten berichten kann. Aber das sind nur schwach vernehmliche Wahrheiten. Auch die menschliche Schöpferkraft ist, selbst wenn sie elbisch zu werden imstande ist, doch nur in der Lage, Abbilder der Wahrheit zu zeigen. Spätestens hier erinnert man sich an antike Schriften – abgeschwächt zu sehende Bilder, schwer zu hörende Töne? Das klingt doch ganz wie Platons Höhle?

Die Zeilen 131 – 136 sind dann entscheidend für Tolkiens Verständnis der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis; „renew“ und „mirrored truth“ sind die Schlüsselbegriffe. „Renew“ nimmt nämlich wieder das Thema des Sicherinnerns an vorgeburtliches Wissen auf. „Mirrored truth“ ist eine Anspielung auf das Höhlengleichnis Platons. In der realen Welt, in der einzigen Welt an die der Materialist glaubt, gibt es allenfalls Spiegelungen des wahren Seins zu sehen, ganz wie es in Platons Höhlengleichnis nur die Schatten der Dinge zu sehen gibt (514a – 515c). Die Möglichkeit „[to] see that all is as it is“, die besteht nur auf der zweiten Existenzebene. Und auch das, was man sieht – „all […] as it is, and yet made free“, ist eine Anspielung auf Platons Höhle, denn die Schau der Wahrheit ist nach Platon auch ein Akt der Befreiung.

Was ist in ontologischer Hinsicht nun festzuhalten, nach diesem Durchgang durch Mythopoeia? Mit der materiellen Weltsicht stimmt offensichtlich etwas nicht. Betrachtet man die Welt wie sie ist, so rührt einen aber etwas an („nerves that tingle touched by sound and light“ heißt es schon in Zeile 22). Damit wird ein Erkenntnisprozess in Bewegung gesetzt, der den Menschen auf eine zweite Existenzebene hinweist. Der Wert dieser zweiten Existenzebene besteht darin, so muss man zumindest aus der Kritik an der physischen Realität schließen, dass dort die Dinge erscheinen wie sie wirklich sind. Insbesondere natürlich in allen Belangen von Gottes Existenz! Doch diese Ebene kann man nicht betreten, zumindest als lebender Mensch nicht auf direkte, auf unvermittelte Weise. Aber Worte können diese Vermittlung übernehmen. Worte können eine Ahnung der Wahrheiten vermitteln. Und diese Ahnung wahrer Worte und Sachverhalte, die ist in den Mythen zu finden.

Was aber bedeutet das Gesagte in philosophischen Termini?

Das ist recht einfach auf den Punkt zu bringen: Die in Mythopoeia steckenden Ansichten und ihre Verbildlichung sind purer Platonismus! Das ganze Gedicht ist eine Art poetische Kürzestfassung der Erkenntnistheorie von Phaidon und Politeia. Mythopoeia ist sozusagen das Höhlengleichnis des romantischen Dichters. Denn nichts anderes findet sich in der platonischen Ideenlehre: der Dualismus; die Überzeugung, dass die Erkenntnis im Licht zu finden ist; die Ansicht, dass wer nur in der materiellen Welt nach Erkenntnis sucht, auf eine Höhlenwand blickt, auf der er nichts anderes als die Schatten jener echten Dinge und Wesen zu erkennen vermag, die gleichzeitig hinter seinem Rücken das wahre Sein leben. Erst wenn der Mensch aufsteht und sich umdreht und die Höhle verlässt, ist er in der Lage, den Blick von den Schatten an der Wand zu wenden und „from mirrored truth the likeness of the True“ (Zeile 134) zu sehen.

Ist Tolkien also Platoniker? Nur eingeschränkt, denn erstens ist der reine Platonismus nicht mit dem christlichen Glauben kompatibel, hält er doch die Ideenwelt für ewig, auch in Bezug auf die Vergangenheit, was dann keinen Platz für einen Schöpfergott lässt. Aber Tolkien ist zweitens auch aus dem Grund kein reiner Platoniker, dass er sich auf ästhetische Aspekte beschränkt. Tolkien redet nicht von einem idealen Tisch oder Rad, und vermutlich glaubte er auch nicht daran. Tolkien orientiert sich allein an der Schönheit der Kunst. Auch wenn Kunst für ihn soweit gefasst ist, dass er beispielsweise Schmiede- und Weberhandwerk darunter fasst, solange sie sich nur an elbischen Idealen orientieren.

Der Terminus „schönere Realität“ aus dem Vortragstitel ist nicht ohne Grund gewählt. Mit Absicht steht dort nicht „besser“, sondern „schöner“ obwohl die klassische Ideenlehre platonischer Prägung von einer besseren, weil idealen Realität reden würde. Aber die klassische Ideenlehre ist es eben auch nicht, auf die Tolkien mit seinem Ausspruch, dass Mythen Wahrheit seien, abzielte. Die Wahrheit, die Tolkien meinte, ist eine durch und durch ästhetische, wie dem Gedicht Mythopoeia klar zu entnehmen ist. Wer sich in den Gefilden der mythischen Erzählung beziehungsweise denen ihrer geistigen Tochter Fantasy bewegt, der trägt ein Goldenes Szepter mit sich (My, Zeile 130: „my own small golden sceptre“) und er sieht am Firmament der Fantasywelten Sterne aus lebendigem Silber glänzen, die in Flammen ausbrechen, die Blumen gleichen (Zeilen 46f.). Die Wesen, von denen die mythische Erzählung berichtet, sind in der Lage, auf Webstühlen und in Schmieden Kunstwerke aus Licht und Dunkelheit zu erschaffen (Zeilen 41 – 44). All das sind Begriffe, die sich auf schöne Dinge beziehen. Und in der Schönheit, nicht im Gedanken einer qualitativ besseren Seinsweise, findet sich eine Möglichkeit, Metaphysik zu realisieren, denn für Tolkien ist Schönheit objektivierbar.

Schönheit ist nun nicht in dem Sinne objektivierbar, dass alle Menschen das gleiche schön fänden – das wäre ja offensichtlicher Unsinn. Aber Schönheit ist objektivierbar in dem Sinne, dass das Verlangen nach Schönheit allen Menschen gegeben ist. Und dies Verlangen kann bewirken, dass der Mensch, ganz so wie auch Schiller es glaubte (Über Anmut und Würde, Schiller 1999, 98ff.), zudem zu einem moralisch besseren Menschen wird, denn, so glaubten Tolkien und Schiller, Schönheit verbessert auch die ethische Haltung. Damit trifft dann Tolkiens Glaube an die Ästhetik mit seinem christlichen Glauben zusammen, dem es ja auch um die Förderung der Moralität geht, sonst stünden die Zehn Gebote nicht an derart zentraler Stelle. In der Weiterung bedeutet das dann: Fantasy kann zu einem Werkzeug der „ästhetischen Erziehung des Menschen“ werden (Schiller 2000) und somit weit mehr Bedeutung erlangen, als bloße Unterhaltung zu sein.

Ist das so?

Beschreiben Fantasywelten eine schönere Realität?

Und existiert diese schönere Realität damit auch?

Das muss unklar bleiben. Selbst wenn man auf den Hinweis verzichtet, dass es Fantasy gibt, die ganz und gar üble und böse Welten beschreibt, so muss auch für die schönen Welten der High Fantasy gesagt werden: Möglich ist alles, nachweisbar ist nichts! Aber es liegt in der Ästhetik wie auch der Ethik der Fantasy immer auch der Hinweis auf etwas Erstrebenswertes. Und auch der Dark Fantasy und Erzählungen schlimmen Inhaltes liegt der Hinweis auf das Meidenswerte inne. Somit kann, wer dies möchte, der Fantasy jederzeit eine schönere Realität entnehmen und in Herz und Verstand festhalten.

Letztlich geht es bei Fantasy nicht um Wissen, sondern um Glauben und Hoffen: „Jene, die wissen, was Poesie ist und woher sie kommt, und dass der Mensch der Lieder bedarf, oder die einige der fünfzig Zweige der Magie kennen, jene haben wenig Zeit, auf Dinge wie die Wissenschaften zu verschwenden.“ (Lord Dunsany: The King of Elfland´s Daughter). In diesem Sinne ist Tolkiens Satz aus On Fairy Stories hervorzuheben: Fantasy ist ein Menschenrecht! Und vielleicht auch Menschenpflicht?

 

(Bochum 10/08)