Das ist die erste poetische Tat des Menschen und mit ihr beginnt die Menscheitsgeschichte.
(Michael Ende: Der wahre Name)


 

Fantasy, Märchen, Sagen, Mythen
Gemeinsamkeiten und Unterschiede

© Frank Weinreich

Fantasy, Märchen und Sagen erzählen Geschichten, in denen das Übernatürliche vorkommt, das ist ihre wichtigste Gemeinsamkeit.

Wenn man Geschichten klassifiziert, ist das der Punkt, der Fantasy, Märchen und Sagen in der gleichen Gruppe zusammenfasst. In diese Gruppe des Übernatürlichen gehören auch noch andere Arten von Geschichten, aber um die soll es hier nicht gehen. Ich möchte mich mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von vier der beliebtesten Erzählformen der Menschheit beschäftigen: Mythos, Sage, Märchen und das junge Kind Fantasy.

I

Geschichten sind das älteste Kulturgut des Menschen. Geschichten erzählte man sich wohl noch bevor die erste Melodie gepfiffen wurde und die erste Statuette geschnitzt worden war. Das Wort „Geschichte“ kommt etymologisch von geschehen, Geschichten berichten von Geschehnissen. Und zwar von wahren Begebenheiten über mehr oder weniger ausgeschmückte Berichte wahrer Begebenheiten bis hin zu komplett erfundenen Geschichten. Darauf weist schon der merkwürdige doppeldeutige Gebrauch von Geschichte und Geschichten hin, der so nur im Deutschen existiert: Die Geschichte berichtet – zumindest ist das ihr Anspruch – von den realen Ereignissen der Vergangenheit, wie Erdgeschichte, Geschichte des Lebens, Menschheitsgeschichte usw., während Geschichten meist fiktional sind oder zumindest deutlich um Erfundenes angereichert wurden.

Was Menschen einander berichten ist entweder Fiktion oder Tatsache beziehungsweise etwas, was wider besseres Wissen oder aus Unkenntnis fälschlicherweise als Non-Fiktion behauptet wird. Gerade die Geschichte ist natürlich in ihrer Überlieferung besonders anfällig für Fälschungen, wird aber bis zum Gegenbeweis immer als Tatsache gehandelt. Fiktionale Inhalte sind üblicherweise Geschichten und werden in realistische und phantastische geteilt. Die realistischen erzählen Geschichten, die so passiert sein könnten, die phantastischen erzählen von Dingen, die so nicht passiert sein können, zumindest zum Zeitpunkt ihrer Erzählung nicht. Denn Science Fiction-Geschichten erzählen von Sachen, die zumindest theoretisch möglich sind (Teleportation, Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit) und also einmal eintreten können. Als Jules Verne die Reise zum Mond erzählte war die reine Science fiction, hundert Jahre später war es Realität. Dies sind Geschichten nicht-metaphysischer Art, die auf Inhalte aus dem Bereich des Übernatürlichen verzichten. Wovon dieser Aufsatz handelt sind die Geschichten metaphysischer Natur, die von übernatürlichen Begebenheiten erzählen. Natürlich gibt es in dem unten stehenden Schema Überschneidungen. (Beim Beispiel Horror sieht man das schon und der Horror ist natürlich sogar auch in der realistischen Literatur anzutreffen, wie etwa die meisten der unzähligen SerienkillerKrimis beweisen.) aber im Großen und Ganzen hat sich die Literaturwissenschaft nicht ohne Grund auf dieses Grobschema geeinigt, denn es gibt einen guten Überblick.

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Der Stammvater der phantastischen Literatur ist der Mythos. Und selbst nicht-metaphysische Spielarten der Phantastik, wie Science Fiction und Horror, stammen von der mythologischen Tradition ab. In der Gruppe der metaphysischen Literatur nehmen Fabeln, Satiren und Märchen vielfache Anleihen beim Mythos. Die Sagen weisen einen sehr großen Bereich aus, den sie mit dem Mythos gemeinsam haben und sie entwickeln sich in der Regel direkt aus mythischen Motiven. Das Märchen ist mit dem Mythos verwandt, deckt sich mit ihm aber deutlich geringer als die Sage. Die Fantasy als vergleichsweise junges Genre des Geschichtenerzählens leitet sich ebenfalls direkt aus dem Mythos ab und weist bis auf einen entscheidenden Punkt sogar die größte Verwandtschaft mit dem Mythos auf.

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II

Am Anfang war der Mythos? Der Mythos ist eine Geschichte, denn nichts anderes bedeutet dieses altgriechische Wort: Geschichte. Allerdings ist der Mythos nicht irgendeine Art von Geschichte, sondern er war die Geschichte überhaupt; der Mythos erzählte die Geschichte, die die Welt erklärte, zumindest zu der Zeit, als man an ihn glaubte.

Eine einheitliche Definition des Mythos ist nicht zu finden. Die meisten Denker, die sich mit dem Mythos beschäftigten, kamen denn auch zu der Einsicht, dass exaktes Definieren wohl nicht möglich ist. Aber er lässt sich zumindest einigermaßen zuverlässig charakterisieren. Literaturwissenschaftlich gesprochen war und ist der Mythos immer schon eine Erzählung, die mittels symbolischer Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen vor allem aber auch ihrer spirituellen Verfasstheit, „als ganze und in ihrer Ganzheit“ (Frenschkowski 2006, 241) zu erklären versuchte. Obwohl Mythen aus unserer heutigen Sicht eindeutig phantastisch und übernatürlich sind, wurden sie zu ihrer Entstehungszeit als wahr betrachtet : Der Mythos „spricht nur von Realitäten, von dem, was sich real ereignet“ (Eliade 2003, 78).

Was heißt das? Die Welt ist riesig und komplex, und das war sie auch schon zu der Zeit, als der Mensch noch vor dem Lagerfeuer saß und nicht mehr von ihr kannte als sich in einem Umkreis von zehn Tagesreisen zu Fuß besuchen ließ. Aber auch diese kleine Welt hielt Wunder über Wunder bereit. Woher kamen und wohin gingen die jagdbaren Tiere? Würden Korn und Beeren auch im kommenden Frühjahr wieder wachsen? Woher kamen die Kinder des Stammes und wohin gingen die Alten, wenn sie starben? Es waren die gleichen Fragen, die wir uns heute noch stellen und der Mythos beantwortete sie dadurch, dass er sie mit Symbolen versah. Die Symbole standen für alles, was man sich nicht unmittelbar erklären konnte und machten die Welt so verstehbar: Götter, Geister und beseelte Kräfte hielten die Welt zusammen und ließen das Leben leben.

In Prähistorie und Antike war der Mythos ein Mittel zur symbolisch vermittelten Welterklärung, der von fabelhaften und magischen Dingen in vergangenen Zeiten oder außerhalb der realen Welt berichtete. Er hatte den Anspruch, den metaphysischen Überbau der Realität zu erklären und die Menschen einerseits durch die Erzählung in das größere Ganze des materiellen wie des spirituellen Kosmos einzubetten und sie andererseits durch den metaphysischen Verweis mit ihrer beschränkten Lebenssituation zu versöhnen. Der Mensch stand ohnmächtig vor Leid, Krankheit, Tod und vielen unerklärlichen, Angst erzeugenden Veränderungen, aber die Gedankenbilder und Symbole des Mythos erklärten zumindest, warum das so war. In dieser Hinsicht war der Mythos immer auch Therapie. Wichtig ist dabei, dass das mythische Denken, also das Denken in Begrifflichkeiten, die dem Mythos und der Mythologie entspringen, „nicht einfach Erzählung ist, sondern mit dem ausgesprochenen Wort einen Wahrheitsanspruch verbindet; die Erzählung bezieht sich auf die Wirklichkeit und vermittelt einen Sinn“ (Knatz 1999, 893). Was der Mythos erzählt ist wahr und er wirkt nur, wenn man daran glaubt, dass er wahr ist. Alle andere Form der Mythenlektüre ist nicht mehr als ethnografisches Interesse. Aus diesem Grund wird der Mythos auch als „vorwissenschaftliches Gegenstück zur Wissenschaft“ bezeichnet (Segal 2007, 23). Anders als Wissenschaft sagte der Mythos aber nicht nur was ist, sondern auch warum etwas ist, wie es ist (vgl. Armstrong 2005, 33). Dies ist der Grund, warum Mythen Sinn zu stiften vermögen, Wissenschaft aber nicht, zumindest nicht aus eigener Kraft (vgl. insgesamt zum Mythos Weinreich 2007, Kap. 3).

Der Mensch ist aber nicht nur Beobachter der Welt, sondern er ist Teil von ihr. Wie aber kann er teilhaben an den wunderbaren und mächtigen Dingen, die der Mythos erzählt? Offensichtlich steht er nicht in unmittelbarer Verbindung mit den Göttern. Aber zwingend ist es ja nicht, dass der direkte Kotakt ausgeschlossen ist. Wenn schon die normalen Männer und Frauen am Lagerfeuer, auf dem sumerischen Weizenfeld oder dem griechischen Marktplatz nicht selbst mit den Göttern und anderen Mächten kommunizieren konnten, so hatten dies doch vielleicht die Vorfahren getan. Jedes Dorf und jede Stadt hat einen geschichtlichen Hintergrund, der über die Generationenfolge hinweg weitererzählt wurde, und nichts lag näher als die langweiligen, die unerklärlichen und die vergessenen Punkte in der Vergangenheit mit Ereignissen aus dem Mythos zu verbinden und so spannender zu machen und zu erhöhen. Das war die Geburtsstunde der Sage.

Die Sage ist laut Grimmschem Wörterbuch die „kunde von ereignissen der vergangenheit, welche einer historischen beglaubigung entbehrt“ und wird von den Gebrüdern Grimm als „naive geschichtserzählung und überlieferung“ definiert (Grimmsches Wörterbuch, Band 14, Spalte 1647). Auch die Sage erhebt also den Anspruch, von wahren Ereignissen zu berichten – ganz wie der Mythos. Sagen sind dem Mythos relativ eng verwandt, aber sie sind in allen Belangen weniger kraftvoll als Mythen. Sie erzählen von angeblich wahren Ereignissen, aber sie versuchen nicht, durch die Erzählung die Welt zu erklären. Sie vergewisserten die Zuhörerschaft aber weningstens darüber, dass sie auf eine großartige Vergangenheit zurückblicken können, denn zu ihrem Entstehungszeitpunkt waren sie eine regionale Angelegenheit. Griechen erzählten sich griechische Sagen, Wikinger erzählten einander nordische Sagen und Bücher mit Sagensammlungen aus aller Welt, wie wir sie unseren Kindern vorlesen, gab es nicht. So stellten Sagen zwar einen direkten Bezug zur Zuhörerschaft her, aber sie setzten den welterklärenden Mythos voraus und legten mehr Wert als der Mythos darauf, auch zu unterhalten. Niemand brauchte einer Gruppe griechischer Knaben zu erklären, dass Zeus das Wetter und Poseidon die See beherrschte und das mit beiden oft nicht gut Kirschen essen war. Die Sage konnte also bedenkenlos Geschichten berichten, in denen die Helden zu Land zu Wasser entsprechend von dem göttlichen Brüderpaar gebeutelt wurden; die Geschichte nutzte das aber eher als Spannungsmoment als dass die Wirkung von Naturgewalten erklärt werden sollte.

Eher als die Welt, sollte die Sage den Menschen erklären. Sagen weisen also ein psychologisches Moment auf. Typische Inhalte von Sagenstoffen sind menschliche Eigenschaften wie Mut, Feigheit, Liebe und Hass – man denke nur an die Nibelungensage, die keinerlei menschliche Niedertracht ausspart. Damit kommt durch die Sage ein moralisches Moment herein, dass im Mythos viel weniger behandelt wird. Der Mythos erzählt, warum die Welt ist, wie sie ist, aber er urteilt nicht darüber, ob es gerecht ist, dass die Götter das Getreide wachsen oder nicht wachsen lassen. Die Götter und das Schicksal sind halt so …

Der Mensch in den Sagen aber wird nach moralischen Maßstäben beurteilt und geschildert. Zwar ist er auch oft tragischerweise Unglücken ausgesetzt, an denen er keine Schuld trägt, so wie Ödipus seinen Vater tötet und die Mutter heiratet, ohne dass er etwas davon ahnt. Aber neben aller menschlichen Tragik, in der noch viel vom tröstenden Moment des Mythos steckt, stellen die Sagen den Menschen doch auch mit allen Schwächen und Stärken dar. So porträtieren die politischen Kämpfe der Griechen bei der Belagerung Trojas oder der Germanen im Sagenkreis der Nibelungen menschliche Eitelkeiten sehr genau und die beklagenswerten Opfer sowie – manchmal – das grausige Schicksal der Täter weisen eindeutig die moralische Schuld zu.

Aber meiner Meinung nach kommt in den Sagen im Gegensatz zum Mythos auch erstmals der Unterhaltungswert von Erzählungen zum Ausdruck. Sagen wollen nicht nur die Zuhörerschaft mit ihrer Vergangenheit verbinden und nicht nur von menschlichen Schwächen und Stärken erzählen, sie wollen auch unterhalten und zeigen diese Unterhaltungsfunktion deutlich in unglaubhaften Übertreibungen. Die Sage vom Trojanischen Krieg ist, wenn man mal von den Interventionen der Götter absieht, selbst heute noch ziemlich glaubwürdig und Heinrich Schliemann hat mit der Ausgrabung Trojas eindrucksvoll bewiesen, dass alte Sagen wahre Kerne besitzen können. Aber schon die Geschichte von der Rückfahrt des Odysseus aus eben diesem Krieg scheint mir selbst für das damalige Publikum im Alten Griechenland in Teilen völlig unglaubwürdig. Viele Menschen mögen ja noch an Meerungeheuer und Sirenen geglaubt haben, aber grenzdebile Zyklopen, die mit den Worten „Niemand hat mir etwas angetan“ um Hilfe rufen, sind zeitgenössischer Slapstick und hatten schon damals reine Unterhaltungsfunktion. Auch die Geschichte, dass Herakles das gesamte Himmelsgewölbe getragen habe, wird niemand als Tatsachenschilderung verstanden haben.

Sagen entstammen der Tradition der mündlichen Überlieferung und weisen meistens keine einzelnen Autoren auf. Selbst bei den berühmten homerischen Sagen Ilias und Odyssee ist äußerst fraglich, ob sie auf einen Autoren namens Homer zurückzuführen sind. Aber immer sind Sagen auch phantastische Geschichten, denn sie sind mit „der Vorstellung des Außergewöhnlichen eng verbunden“ (Lüthi 2004, 6). Die historischen Kerne, so es denn überhaupt konkret zuordbare gibt, werden in der Sage ausgeschmückt und um phantastische Elemente ergänzt. Nicht nur die Kämpfe, Leiden, Opfer und Siege werden größer und länger als sie es in Wirklichkeit waren, auch eindeutig unmögliche Dinge kommen hinzu: Magie, übermenschliche Kräfte, dämonische oder göttliche Interventionen. Trotzdem behielt die Sage im Kern den Anspruch bei, tatsächlich Geschehenes wiederzugeben, wenn auch mit ordentlicher künstlerischer Freiheit. Das Sagenpublikum wusste dies und akzeptierte es, glaubte aber an den Kern des Erzählten. An den glaubt beim Märchen niemand, auch wenn das Märchen in seinen sagenhafteren Versionen inhaltlich der Sage nahestehen kann.

Märchen ist eine Verkleinerungsform des Wortes „mär“, was so viel wie „Nachricht“, „Bericht“ oder „Botschaft“ heißt und also eigentlich einen wahren Sachverhalt meint. Aber schon die Verkleinerung, der Diminutiv, zeigt, „dass solche Geschichten in einem bestimmten Sinn ‚unwahrscheinlich’ sind oder wirken“ (Rölleke 2004, 11). Ebenso wie das Stündchen sich zwar auch eigentlich auf 60 Minuten bezieht, aber im eigentlichen Sinn eine ungefähre Angabe eines angenehmen Zeitvertreibs bezeichnet, so bezieht sich auch das Märchen auf eine nicht ganz ernstzunehmende „Mär“, also Nachricht.

Deshalb definiert das Grimmsche Wörterbuch denn auch „mär in der bedeutung […], als im gegensatz zur wahren geschichte stehend: mährchen, welche allen völkern in ihrer kindheit die wahre geschichte ersetzen und sie zu kriegerischen thaten begeistern“ (Band 12, Spalte 1618).

Mythen, Sagen, aber auch Fantasy und Science Fiction sind natürlich ebenso offensichtlich unwahr; offensichtlich zumindest heutzutage. Trotzdem lässt sich das Kriterium „offensichtliche Unwahrheit“ zur Beschreibung des Märchens verwenden, denn anders als im Falle von Sage und Mythos herrscht zwischen Erzählern und Publikum im vorhinein Übereinstimmung, dass das Märchen nicht wahr ist, sondern der Unterhaltung und/oder der Darstellung einer Lehre oder Moral dient, die mit dem Mittel der krassen inhaltlich unwahren Behauptung aufgestellt wird. Dass ein Wolf nicht sprechen kann, er keine Häubchen trägt und sich auch nicht als Großmutter ausgeben kann und dass man ihm auch nicht, wie in einem anderen Märchen erzählt, den Bauch aufschneiden kann und lebende Geißlein dort herausholt und durch Wackersteine ersetzt, ist derart offensichtlich, dass es keiner Erklärung bedarf. Aber es gibt auch in Anbetracht weniger naiver Märchen keine Männchen, die sich selbst in zwei Stücke reißen und dass der Teufel eine Großmutter hätte, ist auch nicht Glaubensinhalt irgendeiner Religion.

Selbst der Vogel Phönix, der auch Bestandteil einer Sage ist, ist im gleichnamigen Kunstmärchen von Hans-Christian Andersen kein Wesen, von dem Publikum oder Erzähler annehmen, dass es existiert, sondern für alle Beteiligten eindeutig ein Sinnbild für die Poesie. Mythen und Sagen aber behaupten, Wahrheit zu berichten. Und Fantasy und Science Fiction beanspruchen werkimmanente Wahrheit. Sie sagen zwar nicht, dass sie wahre Begebenheiten berichten, aber ihre Geschichten behaupten als Geschichte so passiert zu sein, während beim Märchen vom Wolf augenzwinkernd und vom Phönix metaphorisch erzählt wird.

Gute Feen werden von allen geliebt …

Doch abseits des recht klaren Charakteristikums, dass das erwachsene Publikum der Märchen nicht annimmt, dass sie wahr sind, wird es schwierig, des Märchens definitorisch habhaft zu werden. Übrigens glaube ich persönlich auch nicht, dass die Kinder, denen Märchen erzählt werden, sehr lange an den Wahrheitsgehalt der Geschichten glauben. Mein Sohn pflegte mich schon als Fünfjähriger als Käpt´n Blaubär zu bezeichnen, wenn ich ihm ernsthaft mit Märchen kommen wollte. Neben der offensichtlichen Unwahrheit weisen Märchen jedoch eine große Heterogenität auf und haben mancherlei Berührungspunkte mit anderen Erzählformen, die zudem mal zu den Märchen gerechnet werden, mal von ihnen aber auch unterschieden werden.

Schon die Herkunft ist uneinheitlich, denn es gibt Märchen, die wie Sage und Mythos der mündlichen Erzähltradition entstammen, die Volks- und Kindermärchen beispielsweise, während Kunstmärchen aus der Feder einer bestimmten Autorin oder eines Autoren stammen. Aber auch diese Begrifflichkeit ist nicht trennscharf, denn erstens hat Kunstmärchen nichts mit Kunst im Sinne künstlerischer Qualität zu tun (vgl. Lüthi 2004, 5), und zweitens sind viele Kunstmärchen dem Volksmärchen entlehnt und können auch ausdrücklich als Kindermärchen verfasst worden sein.

Es lassen sich allenfalls einige typische Merkmale festhalten, die helfen, das Erzählphänomen Märchen etwas besser festzuhalten.

  • Erstens ist dies die erwähnte offensichtliche Unwahrheit, die von Erzählenden wie Publikum vorausgesetzt wird.
  • Typischerweise sind Märchen zweitens innerhalb eines Kulturkreises auch nicht zeitlich und örtlich festgelegt. Zwar erzählte man sich im Badischen nicht unbedingt Geschichten über einen Jungen namens Ali Baba und die vierzig Räuber, ebenso wenig wie Wölfe und Mädchen mit roten Kappen zum Inventar der Oasen Saudi-Arabiens gehörten, aber Sagen und Mythen sind meist deutlich zeitlich und örtlich bestimmt, während es vom Märchen heißt, „es war einmal …“
  • Drittens treten die Märchen fast ausschließlich in kurzer Prosaform auf, während andere metaphysische Literatur meist deutlich länger ist, bis hin zu mehr als 20 Büchern in Robert Jordans „Wheel of Time“-Zyklus.
  • Viertens werden meist die Themen Gut und Böse behandelt und treten dabei ganz trennscharf auf: die böse Schwiegermutter, die gute Stieftochter usw. Das gleiche wird zwar oft von moderner Fantasy behauptet, aber das ist Unsinn. Und im Mythos herrscht, wie gesagt, Neutralität, während die Sage – vielleicht aufgrund ihres wahren Kerns? – eine Vielzahl von Grautönen und Schattierungen bietet.

Schließlich weisen Märchen oftmals eine Moral auf. Gerade weil sie gerne Gut und Böse als schwarz und weiß behandeln, zeigen viele Märchen mit dem Holzhammer, was passiert, wenn man böse ist: Man wird erschossen, ertränkt, verbrannt oder wenigstens der Lächerlichkeit preisgegeben und die armen Opfer leben glücklich und zufrieden und noch heute, so sie nicht gestorben sind. Doch diesen Gleichnischarakter teilt das Märchen mit Fabel und Schwank, so dass er zur Charakterisierung nicht so gut taugt.

Sicherlich werden Kindermärchen auch mit pädagogischem Ansatz erzählt, ebenso wie die Fabel. Aber das definiert sie eben in keiner Weise, sondern weist nur auf die Überlappungen hin. Überlappungen, die auch aus dem Märchen herausführen und die, wo wir schon gerade von Moralität sprechen, auch bewusst angelegt wurden, und zwar in vielen Kunstmärchen. Die Romantik nahm oftmals Märchenstoffe auf und überführte sie in Kunstmärchen, die eine bestimmte, oft ziemlich anspruchsvolle Moral veranschaulichen sollten (Herder, Goethe, E.T.A. Hoffmann u. a.). Diese Form des Märchens hat trotz märchentypischer Bilder und Personen nichts mehr mit Naivität oder Derbheit zu tun, sondern versuchte, komplexe Ideen und Ansichten mit Stilmitteln des Märchens anschaulich zu machen.

Die Fantasy schließlich ist im Vergleich zu Mythos, Sage und Märchen eine ganz neue Kunstform, zumindest, wenn man sich auf die moderne Fantasy beschränkt, die im späten 19. Jahrhundert entstanden ist und in ihren mittlerweile klassischen Formen High Fantasy und Sword & Sorcery erst seit den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts existiert, als J.R.R. Tolkien und Robert E. Howard über Mittelerde beziehungsweise Conan den Barbaren schrieben. Aber eigentlich ist Fantasy viel weiter zu fassen und beinhaltet dann Märchen, Sagen und, in gewisser Weise zumindest, sogar Mythen.

Fantasy ist das Genre, dessen zentraler Inhalt die Annahme des faktischen Vorhandenseins und Wirkens übernatürlicher Kräfte oder Wesen ist, das als Fiktion auftritt, die als Fiktion auch verstanden werden soll und muss (vgl. Weinreich 2007, 37). Die entscheidende Bedingung meiner Definition von Fantasy ist neben den übernatürlichen Geschehnissen, dass die Geschichten und Erzählungen eben solches sind – Geschichten; Geschichten, die keinen nach außen weisenden Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben. Einzig innerhalb der Geschichte, und auch das ist eine Bedingung von Fantasy, die nun das Märchen ebenso wie die Fabel wieder ausschließt, gibt es den Anspruch auf Wahrhaftigkeit.

Wahr sind die Erzählungen in dem Sinne, dass das Erzählte als real präsentiert wird und Ansprüchen an werkimmanente Konsistenz und Folgerichtigkeit genügt: Was der Autor, die Autorin da erzählen, ist innerhalb der Geschichte wahr und entspricht den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt (vgl. Tolkien in On Fairy Stories, 36). Wahrhaftigkeit und Folgerichtigkeit lassen sich zur Ernsthaftigkeit zusammenfassen und Ernsthaftigkeit ist vielleicht die beste Umschreibung für den Wahrheitsanspruch der ganzen phantastischen und übernatürlichen – also unwahren – Themen und Ereignisse in der Fantasy. Ist diese Ernsthaftigkeit nicht gegeben, handelt es sich nicht um Fantasy. Das gilt auch für humoristische Fantasy. Geschichten wie der Scheibenwelt-Zyklus von Terry Pratchett oder Computerspiele wie Simon the Sorcerer sind Fantasy. Sie erzählen zwar Geschichten, deren Sinn in erster Linie darin besteht, zu amüsieren, doch die Geschichten selbst spielen in Welten von innerer Konsistenz und mit dem Anspruch, als Welt oder Universum ernst genommen zu werden, ganz wie Mittelerde. Anders ist dies bei Werken, die wirklich nur Parodie sind, etwa Bored of the Rings oder Barry Trotter, und eben bei Märchen und Fabeln.

Die Fantasy ist zwar ein junges Genre, aber sie schließt sehr unmittelbar an den Mythos an. Erstens bedient sie sich bei ihm in Form einer Fundgrube der Bilder und Metaphern: Es ist auch in der modernen Fantasy kaum eine Figur zu finden, die nicht in den alten Mythen auftaucht; seien dies Drachen bei Harry Potter, Zwerge in Mittelerde, lebende Mumien bei Conan, Pegasi in Erl, Riesen bei Thomas Covenant – alles ist in den Mythen schon einmal da gewesen. Wichtiger aber ist der Mythos auch für die Fantasy zweitens in seiner sinnstiftenden Funktion. Das heißt nun nicht etwa, dass moderne Fantasy funktional mit einem Welterklärungsanspruch und also wie ehedem als ‘Sachtext’ aufträte – das geht nicht mehr (vgl. Waggoner 1978, 6ff.). Es heißt aber, dass sich Fantasy darum bemüht, eine Stimmung zu erzeugen, die das Publikum nicht einfach nur in eine andere Welt versetzt – das tut die Spionageerzählung auch, wenn sie die Zuschauer mit Rollo Martins das Nachkriegs-Wien nach Harry Lime durchsuchen lässt. Es geht vielmehr darum, die Leserinnen und Zuschauer in eine Welt zu versetzen, die mit einem faktischen transzendentalen Überbau ausgestattet ist und so das Bedürfnis nach Transzendenz und metaphysischer Wirklichkeit zu bedienen, wenn auch nur mehr als Spiel und Experiment. Fantasy, so könnte man auch sagen, ist eine mythische Erzählung, an die niemand glaubt und nie jemand geglaubt hat.

maskeFantasy nimmt Mythen-, Sagen- und Märchenstoffe begierig auf und transformiert sie, um zu unterhalten und um zu spekulieren. Unterhaltsam sind diese Stoffe schon aus dem Grund, dass sie sich in Tausenden von Jahren als Themen bewährt haben. So viele Themen, die das Publikum bewegen, gibt es ja gar nicht: Liebe, Hass, Freundschaft, Verrat, Mut, Feigheit, Spannung, Abenteuer, Neugier – alles endlos oft thematisiert, aber die überlieferten Stoffe haben bewiesen, dass sie interessant sind. Also rein damit in die Fantasy. Und zum Spekulieren, zur Frage „Was wäre wenn?“, lädt die Fantasy wie kein zweitens Genre ein, denn sie bietet unendliche Möglichkeiten, Fragen und Situationen durchzuspielen. Da aber die Fantasy in erster Linie eine Erscheinung der Moderne ist, einer Zeit, in der die weißen Flecken des Nichtwissens ziemlich zusammengeschrumpft sind und zumindest keinen Platz mehr für den Glauben an Zauberer und Drachen lassen, ist sie nurmehr Spiel mit dem Übernatürlichen. Doch auch das Spiel, oftmals gerade das Spiel, vermag es, das Bewusstsein gewaltig zu erweitern und den Blick auf die Dinge wie sie sind zu schärfen.

III

Soweit sind die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Mythos, Sage, Märchen und Fantasy knapp zusammengefasst. Aber ein wichtiger Punkt fehlt noch. Die vier Genres oder Erzählformen haben nämlich noch eine weitere, ganz wichtige Gemeinsamkeit. Eine Gemeinsamkeit, die sie übrigens mit der Fabel, der noch gar nicht genannten Legende, mit der Science Fiction und dem Horror teilen. Eines nämlich haben all diese Spielarten der phantastischen Literatur gemein – sie sind gar keine phantastische Literatur.
All die Drachen, Götter und Dämonen, alle bösen Wölfe, Zombies, Raumschiffe und Todessterne, alle Heiligen und alle Teufel sind doch nichts anderes als Facetten des Menschen. Nirgendwo ist das besser ausgedrückt als in einem grundlegenden Aufsatz der Fantasy- und Science Fiction-Autorin Ursula le Guin, die einmal gesagt hat:

„Realismus ist vielleicht die am wenigsten angemessene Form um die unglaublichen Umstände unserer realen Existenz zu porträtieren. Ein Wissenschaftler, der in seinem Labor ein Monster erschafft, ein Bibliothekar in der Bibliothek von Babel, ein Zauberer, der beim Sprechen eines Zauberspruches versagt, ein Raumschiff, das auf seinem Weg nach Alpha Centauri verschollen geht – all diese Dinge sind präzise und fundamentale Metaphern für die menschliche Existenzweise. Der phantastische Erzähler, ob er nun Archetypen aus den Mythen oder die jüngeren Archetypen aus Wissenschaft und Technik zitiert, spricht nicht weniger ernsthaft als jeder Soziologe – und manchmal sehr viel deutlicher. Phantastische Literatur dreht sich um das menschliche Leben; darum wie es gelebt wird, wie es gelebt werden könnte, wie es gelebt werden sollte.“ (Le Guin 1979, 58)

 

(Bochum, 6/09)