Und immer wieder, wenn ich mich müde gesehen habe
an der Menschen Gesichtern, so vielen Spiegeln
unsäglicher Torheit, hob ich das Aug
über die Häuser und Bäume empor zu euch,
ihr ewigen Gedanken des Himmels.
Und eure Größe und Freiheit erlöste mich immer wieder,
und ich dachte mit euch über Länder und Meere hinweg
und hing mit euch überm Abgrund Unendlichkeit
und verging zuletzt wie Dunst,
wenn ich ohn‘ Maßen den Samen der Sterne
fliegen sah über die Äcker der unergründlichen Tiefen.
(Christian Morgenstern: An die Wolken)


 

Aufbruch zu den (Noch-) Nicht–Orten.
Wo uns die Science Fiction hin führt.

© Frank Weinreich

I
Vorüberlegungen

Das Gedicht An die Wolken von Christian Morgenstern ist wohl nicht entstanden mit Gedanken an das Genre Science Fiction im Kopf des Dichters, aber es drückt sich doch der gleiche weite gedankliche Wurf darin aus, der am Beginn aller Science Fiction-Werke steht. Der „Same der Sterne“ steht ebenso Pate für die Genreerzeugnisse wie das Streben nach „Größe und Freiheit“ und die Sehnsucht, den „Abgrund Unendlichkeit“ zu ergründen.

Doch das ist es nicht allein, was die Science Fiction hervorhebt, denn diese Metaphern ließen sich ebenso gut der Fantasy und, mit dem Blick in die Vergangenheit, auch den Mythen, Sagen und Legenden zuschreiben. Das Besondere an der Science Fiction ist demgegenüber, dass diese im Gegensatz zu aller anderen Phantastischen Literatur nicht prinzipiell unmöglich ist.

Science Fiction gehört zum Reich der Phantastik und die Phantastik berichtet von Unmöglichem.

Andere Bereiche der Phantastik, etwa das Märchen, der oftmals aus dem Jenseits herüber greifende Horror, die zauberhafte Heldensage, die religiös inspirierte Legende und alle Erzeugnisse der Fantasy enthalten Übernatürliches als zentralen Inhalt der erzählten Geschichten. Damit ist, was sie erzählen, nach allem, was wir Menschen wissen können, prinzipiell unmöglich. Die Science Fiction jedoch erzählt von Noch-Nicht-Möglichem, mit der Betonung auf „noch nicht“. Da sie dabei jedoch auf dem Boden der wissenschaftlich bekannten Tatsachen bleibt, ist es bei Weitem nicht ausgeschlossen, dass ihre Erzählinhalte einmal wahr werden.

Als Jules Verne seine Reisen zum Mond beschrieb (Von der Erde zum Mond und Reise um den Mond), war an eine Verwirklichung nicht zu denken, etwas mehr als hundert Jahre später hat der Mensch den Mond besucht. Und das gilt prinzipiell für alle Science Fiction-Geschichten – die Erzählungen oder zumindest die (technischen, aber auch psychologischen, anthropologischen, medizinischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen) Voraussetzungen für die in ihnen beschriebenen Ereignisse könnten wahr werden.

Wir sind nur noch nicht so weit.

Überträgt man deshalb Morgensterns in An die Wolken ausgedrückten Gedanken auf das Genre Science Fiction, so lässt sich schon allein daran ganz gut charakterisieren, um was es im Genre geht. Wer Science Fiction verfasst oder liest, spielt, schaut, der hebt das Auge über die normale Welt unserer trivialen Bäume und Häuser zum Himmel und versucht, in die Ferne zu schauen, seien dies Zeit oder Raum oder beides. Aber anders als im Gebet oder in der Fantasy – die beide im Prinzip auch in die Ferne schauen – geht der Blick nicht in die Metaphysik, sondern bleibt innerhalb der Einflusssphäre der Menschen. Im Gebet erbittet man etwas von außen, das völlig außerhalb der eigenen Macht steht. Und in der Fantasy wird zumindest noch erzählt von etwas, das außerhalb der menschlichen Macht liegt und nur dadurch erreicht werden kann, dass einem ein Gott, arkane Techniken oder sonstwie andersgeartete Realitätsebenen Zugriff gewähren. In der Science Fiction liegt es am Menschen selbst: Da die Dinge, von denen berichtet wird, nicht prinzipiell unmöglich sind, ist es seine Entscheidung zu tun, was möglich ist. Oder es zu lassen.

Dieser zweite Punkt – das Seinlassen – ist politisch, sozial, ethisch übrigens noch viel wichtiger als der erste.

Übernatürliches wird einem ge- oder verwehrt. Die Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen oder verschließen, unterliegen der menschlichen Moral und Ethik. Benutze ich den Einen Ring oder vernichte ich ihn? Diese Versuchung der absoluten Macht muss aber immer spekulativ bleiben, da es diesen Ring nicht geben kann und keine Realität vorstellbar ist, in der sich dem Menschen etwa die Frage stellte, ob er den Ring schmieden will. In aller übernatürlichen Literatur geht es um die Haltung zum Sein, so wie es sich einem darstellt. Religion und Fantasy behaupten bestimmte wichtige Dinge über die Welt und fragen dann den Menschen: Wie wirst Du Dich verhalten?

Technische und sozialtechnologische oder psychische Fähigkeiten erwirbt der Mensch durch eigenes Handeln. Bei der Frage nach dem Bombenbau oder Erfindung der Unsterblichkeit geht es nicht nur um die Frage ob das Individuum sie nutzen will, sondern auch darum: Soll man es erfinden? Die Verantwortung in den Geschichten ist größer, und dadurch, dass die Dinge, von denen Science Fiction erzählt, nicht prinzipiell unmöglich sind, dadurch, dass sie, wie etwa Klonierung oder Raumfahrt, sogar verdammt nahe vor dem Durchbruch stehen können, erhalten die Science Fiction-Geschichten eine größere Relevanz über den Bereich der Fiktion und der individuellen Haltung hinaus. In Filmen und Romanen, die vom Klonen handeln, wird das Tun oder Lassen immer auch so diskutiert, dass es einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion darstellt. Fragt die Fantasy also „Wie wirst Du Dich verhalten?“, so fragt die Science Fiction „Wie wirst Du handeln?“ Und das ist ein größerer Unterschied als man auf den ersten Blick vielleicht denkt.

Verhalten und Handeln, also Agieren, sind nämlich zwei verschiedene Dinge. Verhalten ist ein reaktives Geschehen. Indem wir uns zu etwas verhalten, reagieren wir auf eine gegebene Situation. Wenn wir handeln, geht das Geschehen demgegenüber von uns aus und ist nicht mehr allein reaktionsbedingt. In der Religion reagieren wir beispielsweise auf die Anweisungen einer Gottheit, indem wir unser Verhalten auf die Anweisungen einstimmen, egal ob zuneigend oder ablehnend.

In der Fantasy liegt das Primat des Handelns auf einer Reaktion. Die Protagonisten reagieren auf die vorgefundene Situation, sie müssen sich mit den übernatürlichen Gegebenheiten arrangieren, können sie aber nicht prinzipiell ändern. In der Science Fiction gibt es natürlich auch Reaktionen zuhauf, aber das Primat liegt in der Aktion. Menschen (oder Aliens, Künstliche Intelligenzen, was auch immer) haben Entdeckungen oder Erfindungen gemacht, die es erlauben, neuartige Situationen oder Gegebenheiten aktiv herzustellen.

Es werden Klonierung, Überlichtgeschwindigkeitsreisen, Zeitreisen, Psychokonditionierungen, Telepathie oder Teleportation er- oder gefunden und schaffen etwas Neues. Und auf dieses Neue besteht ein viel größerer Einfluss als gegenüber den metaphysischen Gegebenheiten, denn dieses Neue kann gemacht oder abgelehnt werden, und selbst, wenn es gemacht wurde, kann es wieder abgeschafft werden, wenn es sich als schlecht erweist. (Zumindest im Prinzip – wie schwer es in der Realität ist, etwas Gemachtes selbst bei breitem Konsens wieder abzuschaffen, sieht man an Atomkraft und Atomwaffen.) Science Fiction berichtet von Handlungen und ihren Folgen und da die Handlungen nicht prinzipiell ausgeschlossen sind, ist Science Fiction gar nicht so unrealistisch wie ihr oft vorgeworfen wird.


 

II
Definition

Doch bevor ich weitergehe, sollte ich besser erst einmal definieren, was ich unter Science Fiction verstehe. Und das fällt jetzt etwas leichter, denn mit der Betonung der prinzipiellen Realitätsverträglichkeit von Science Fiction ist ein wichtiger Punkt schon gesagt.

Es fällt etwas leichter, SF zu definieren, aber es ist deshalb noch lange nicht leicht geworden. In der Sekundärliteratur über Science Fiction gibt es wahrscheinlich hunderte von Definitionsansätzen; 22 verschiedene werden allein in der großen Encyclopedia of Science Fiction von Peter Nicholls und John Clute erläutert (Clute/Nicholls 311-314). Darunter sind markante und weniger markante Beschreibungen bis hin zum hilflosen Diktum „Science Fiction ist, wo der Verlag Science Fiction dranschreibt“, was auch auf die Fantasy angewendet wird. Vielfach wird deshalb davon ausgegangen, dass Science Fiction nicht definierbar ist.

Das hängt aber auch von der erkenntnistheoretischen Grundeinstellung ab, und trifft eigentlich nur zu, wenn man generell von der Undefinierbarkeit normativer Setzungen ausgeht. Denn eine solche Setzung steht hinter jeglicher Nominaldefinition, und um eine solche handelt es sich hier, genauer gesagt, um eine Feststellungsdefinition. Ich halte demgegenüber Definitionen, zumindest in der Form einer Arbeitsdefinition für möglich und sinnvoll.

Das bedeutet aber auch, dass die Definition prinzipiell kritisier- und veränderbar ist, sich also in der ständigen Diskussion befindet. Dabei sollte sie aber wenigstens so stabil sein, dass das Definiens, das Ding also, das die Definition beschreiben soll, mit ihrer Hilfe intersubjektiv erfassbar ist. Das ist bei der Science Fiction ebenso möglich wie im Falle der Fantasy.

Der Gegenstand ist dabei in dem Begriff Science Fiction, zuerst „Scientifiction“, schon recht trennscharf enthalten, den Hugo Gernsback in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts prägte; SciFi ist: Wissenschaftsfiktion. Was mit Wissenschaft und Fiktion genau gemeint ist, bestimmt dann das Wesen des Genres.

Wissenschaft …

Science bedeutet in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Erkenntnisweise der rationalen Betrachtung von Gegebenheiten. Das geht ausdrücklich über den Bereich der Naturwissenschaften hinaus und beinhaltet auch sogenannte soft sciences, wie die Psychologie, die Geisteswissenschaften, Linguistik, Soziologie, Politik und andere. Es muss sich aber um Denk- und Erklärungsweisen wissenschaftlicher Art handeln, die deshalb den Regeln von Transparenz, Wiederholbarkeit und zumindest theoretischer Falsifizierbarkeit folgen, sowie als wichtigstes Element eine objektive empirische Wurzel beinhalten. Magie, Götter und Dämonen sind Aspekte des Glaubens oder Unglaubens; Teleportation, Zeitreisen und transhumanistische Experimente lassen sich theoretisch stringent als Möglichkeiten beschreiben, und das unterscheidet sie von anderer Phantastik. Robert Philmus hält fest, dass die SF die wissenschaftliche Erklärung sowohl zulässt als auch ihrer bedarf (vgl. Philmus 5f.).

… und Fiktion

Der Begriff Fiktion muss demgegenüber in einem eingeschränkten Sinn verstanden werden. Denn fiktional ist ja auch die realistische Literatur, da wo sie Geschichten erfindet und sie in unsere reale Welt hineinversetzt. Die „fiction“ der Science Fiction ist das erzählerische Erfinden von etwas Unmöglichem und nicht das deutsche Fiktion, das jegliche erfundene Geschichte bezeichnet, egal ob phantastischer oder realistischer Art. Ein Beispiel: Francis Ford Coppolas Vietnamkriegsfilm Apocalypse Now ist erfunden, hätte sich aber genau so ereignen können, und hat sich in den Details wahrscheinlich in Vietnam mehrfach ganz ähnlich ereignet. Joe Haldemans SF-Roman Der ewige Krieg ist eine in die Zukunft versetzte Geschichte eines Krieges zwischen Aliens und Menschen, die sich bisher so nicht ereignen konnte. Haldeman erzählt darin eine dem Vietnamkonflikt sehr ähnliche Geschichte, deren groteske Besonderheiten aber von einer Technologie abhängen, die es nicht gibt, und dieser technische Unterbau ist der „fiction“-Anteil von Haldemans SF-Roman. Seit einigen Jahren hat es sich eingebürgert, für die phantastische Fiktion den von Darko Suvin geprägten Begriff des „Novums“ zu verwenden (vgl. Darko Suvin: Poetik der Science Fiction 93f.).

In der Tat – Novum, das Neue, ist eine ziemlich gute Beschreibung für die (noch) nichtrealen Aspekte der SF, die das besondere der „fiction“ ausmachen. Die Zuschreibung „neu“ allein hat nichts mit „unmöglich“, „zukünftig“ oder der Phantastik zu tun. Novum deutet aber einerseits schon in Richtung Innovation und damit auf etwas, das nicht ganz normal ist; auf etwas, das nicht Alltag ist. Novum reicht aber andererseits nicht bis in die Metaphysik, in das Jenseitige und Übernatürliche hinein, das die anderen Genres der Phantastik ausmacht. Wie die Nova in der Astronomie einen drastischen Übergang beschreibt, so bedeutet auch das Novum ein radikales, eine Erzählung bestimmendes, aber in der Realität unmögliches Moment und ist bei aller Irrealität doch so ‚rest-realistisch’, dass es erahnen lässt: So könnte es kommen …

Eine Kleinigkeit noch, bevor ich zur Definition komme: Das Wort Autor, das ich im Rahmen der Definition benutze, bedeutet nicht, dass die SF-Definition auf Bücher beschränkt ist, auch nicht auf Bücher und Drehbücher. Vielmehr sind mit Autor alle Urheber von Science Fiction gemeint, auch wenn es sich um Filme, um Comics oder Spiele handelt, sogar wenn es um Kunst und Musik geht. Autor benutze ich im wörtlichen Sinne der lateinischen Wurzel – auctor – und die bedeutet Urheber oder Schöpfer (unter anderem …).

Definition
Die folgende Definition von Science Fiction fasst die genannten Aspekte zusammen:
Science Fiction sind phantastische Geschichten, deren irreale Anteile dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Autorinnen und Autoren nicht widersprechen. Das setzt auf Seite der Erzähler voraus, dass Science Fiction von Autorinnen und Autoren verfasst und umgesetzt werden, die über eine gewisse wissenschaftliche Grundbildung verfügen, wie sie etwa durch einen regulären Schulbesuch oder eine dem Schulbesuch adäquate Bildung entsteht.

Erläuterung
Der erste Satz dürfte nach dem vorher Ausgeführten relativ unmissverständlich sein. Besonders wenn ich noch eine Hilfsdefinition einfüge, die den Begriff „phantastische Geschichten“ definiert. Phantastik ist also etwas, wo unmögliche Dinge eine wesentliche Rolle spielen, und zwar egal ob prinzipiell unmöglich, weil dem allgemeinen und wissenschaftlichen Kenntnisstand widersprechend oder nur noch nicht möglich, weil schlicht noch nicht erfunden.

Warum aber müssen Autorinnen und Autoren über eine wissenschaftliche Grundbildung verfügen? Weil Science Fiction gemäß seiner gesamten Gebrauchsweisen nicht ohne Wissenschaften auskommt, es aber sehr wohl phantastische Geschichten gibt, die nichts Übernatürliches enthalten und die trotzdem keine Science Fiction sind. Ein Beispiel: die klassischen Utopien. Eine klassische Utopie – wie etwa die berühmteste überhaupt, Utopia von Thomas Morus aus dem Jahr 1516 – entwirft eine nichtreale, ideale Gesellschaft, wie sie auch in der Science Fiction möglich wäre. Morus’ Werk entstammt jedoch einem vorwissenschaftlichen Weltbild und kann deshalb nicht in der gleichen Weise interpretiert werden, wie es im Falle der von Aufklärung, Wissenschaft und dem empirischen Denken inspirierten SF möglich wäre. So ist beispielsweise Utopia noch ganz von einem unkritischen christlichen Weltbild durchdrungen. Das wertet Utopia in keiner Weise ab, führt jedoch dazu, dass es nicht in einer Kategorie mit SF steht.

Genau so wie Morus vor dem Auftreten des wissenschaftlichen Denkens schrieb, ist es möglich, dass zeitgenössische Autoren Geschichten erfinden, die davon unberührt sind, weil die Autoren nie mit Wissenschaften in Kontakt traten. Und es ist denkbar, dass zukünftige Autoren aus welchen Gründen auch immer, das wissenschaftliche Weltbild nicht mehr kennenlernen und wieder unter den gleichen Voraussetzungen schreiben wie Morus vor 500 Jahren. Beides ist nicht gerade wahrscheinlich, aber möglich. Dann wäre SF unter Umständen ein Phänomen, das nur 250 Jahre vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis vielleicht zur Mitte des 21. Bestand hatte. Die definitorische Eindeutigkeit wird erst durch den Zusatz der Wissenschaftlichkeit erreicht.

Wichtig ist in dieser Hinsicht dann zuletzt noch, dass die Kenntnis wissenschaftlichen Denkens auf einen den Autorinnen und Autoren möglichen Stand eingeschränkt wird. Die Definition von SF besagt, dass die unmöglichen Anteile nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen dürfen, dass sie also nicht prinzipiell unmöglich sein dürfen. Was aber möglich ist, und was nicht, das schwankt unter Umständen.

Ein Beispiel zur Erläuterung, das überlichtschnelle Reisen in der klassischen Raumfahrergeschichte: Es ist bekannt, dass sich eigentlich nichts schneller bewegen kann als das Licht. Diverse Tricks erlauben den SF-Schreibern aber doch, Raumschiffe schneller als das Licht zu bewegen, etwa durch Wurmlochantriebe, Hypertunnel, Schwarze Löcher und was weiß ich noch alles. Sollte sich eines Tages – etwa durch eine zutreffende Formulierung der ersehnten „theory of everything“ – erweisen, dass all diese Tricks prinzipiell unmöglich sind, so fiele für alle zukünftigen Bücher und Filme die Überlichtgeschwindigkeit aus der Science Fiction heraus und würde zur Fantasy, vergleichbar dem Flug auf dem Rücken eines Drachen oder mit einem verzauberten Ford Anglia. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass alles, was vorher an SF erschaffen wurde, plötzlich keine SF mehr wäre. Aus diesem Grund ist es wichtig, den Wissenschaftscharakter von Science Fiction auf einen den Autorinnen und Autoren möglichen Kenntnisstand zu beschränken.

Und man sollte auch nicht allzu streng sein mit den Maßstäben, die an SF angelegt werden. So ist zwar Star Wars ein Weltraummärchen, das trotz aller Sternenzerstörer und Todessterne Fantasy und nicht Science Fiction ist. Trotzdem ist nicht jedes prinzipiell unmögliche Element einer Geschichte gleich ein Ausschlusskriterium für die SF. So war beispielsweise der sogenannte Bergenholm-Antrieb, den E. E. „Doc“ Smith als Grundlage für alle galaktischen und transgalaktischen Reisen seiner Lensmen beschreibt, schon zu Entstehungszeiten des Zyklus durch die Brille der Physik gesehen prinzipieller Humbug, die Lensmen sind aber trotzdem klassische Science Fiction, denn die Art zu Reisen steht nicht an für die Handlung zentraler Stelle.

Bei allen definitorischen Setzungen besteht die Gefahr der Überbeanspruchung durch allzu enge Auslegung. Das andere Extrem – schludrige Begrifflichkeiten – ist auch kontraproduktiv, aber Nominaldefinitionen sind nun einmal keine exakte Wissenschaft; trotzdem sind sie dadurch nicht gleich so unzureichend, dass sie nicht erhellend wirken könnten. Sobald man sich mit der Phantastik befasst und versucht, sie zu ordnen, fällt einem als wesentliches Merkmal auf, wie schwierig die Klassifizierungen sind, denn eine Vielzahl von Werken fällt in mehrere Kategorien zugleich. Dem könnte man nur ausweichen, wenn man auf jegliche Klassifizierung verzichtet. Das ist in der wissenschaftlichen wie der literaturwissenschaftlichen Diskussion auch alles schon vorgeschlagen worden, hat sich jedoch nicht durchgesetzt. Und wahrscheinlich hat es sich nicht durchgesetzt, weil die vorhandenen Einteilungen und Definitionen Vergleiche sowie das Verständnis von Kunst und Kultur überhaupt eben doch erleichtern.

Und das gilt meiner Ansicht nach auch für die Diskussion der Science Fiction. Peter Nicholls und John Clute behaupten in ihrer großen Enzyklopädie unter dem Stichwort „Definitionen“ zwar: „Es gibt eigentlich keinen Grund anzunehmen, dass es jemals eine brauchbare Definition von SF geben wird“ (Clute/Nicholls 314)

Das möchte ich mit meiner Definition aber bestreiten. Jegliche SF-Definition wird natürlich immer in der Kritik stehen, und die Kritik wird auch immer Punkte finden, wo eine Definition Schwächen aufweist. Aber das ist kein Grund, nicht doch zu versuchen, eine zu geben. Denn in der Praxis ist es auch nach Meinung von Clute und Nicholls so, dass es einen Kernbereich von Inhalten gibt, die in der Regel zu Science Fiction dazugehören und deren Werke so in den meisten Fällen korrekt identifizieren (vgl. 314).

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Typisch SF: Erst-Kontakt-Geschichten und die Entdeckung neuer Welten

So weit also die Definition, die ich hier noch einmal aufrufen möchte: Science Fiction sind phantastische Geschichten, deren irreale Anteile dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der Autorinnen und Autoren nicht widersprechen.

Hmm, wenn man sie so anschaut, wirkt sie ein bisschen dünn, oder? Die SF-Definitionen von anderen Leuten sind oft viel gehaltvoller. Schon Hugo Gernsback, der den Begriff Science Fiction erfand, führte in seiner Definition aus, dass SF spannende Geschichten erzähle, die einerseits prophetische Visionen enthielten und andererseits den Lesern die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit nahebringen sollten. Das kann man so machen. Aber es führt als Definition ganz schnell in Details, die einen nicht weiterbringen. Gernsback beispielsweise schränkt seine Definition durch die Visionen und den Lehrcharakter so weit ein, dass nur ein sehr kleiner Teil von SF erfasst wird (vgl. Clute/Nicholls 311). Eine Definition sollte nicht mehr zu tun versuchen als anhand einer Bestimmung von Merkmalen das präzise zu umgrenzen, was sie definieren will. Und das wenige da im vorhergehenden Absatz, ist in der Tat alles, was nötig ist, um die Grenze festzulegen.


III
Funktionen

Was aber eigentlich viel spannender ist, ist genau das, was schon Gernsback in seine Definition aufgenommen hat, nämlich zu beschreiben, welche Bedeutung, die SF annehmen kann, indem sie bestimmte Funktionen wahrnimmt. Und darum soll es in der verbleibenden Zeit gehen.

Funktionen von SF: Unterhaltung
Bei aller Bedeutung, die SF erlangen kann, wäre es falsch, zu viel Bedeutungsschwere in das Genre hineinzulesen. Werke wie die Verfilmung von 2001: A Space Odyssey oder Dystopien wie Brave New World und 1984 haben sicherlich einen hohen politischen und sozialen Anspruch, doch die meisten Erzeugnisse des Genres dienen zunächst einmal der Unterhaltung. Wenn dann auch noch Niveau und gesellschaftspolitische Fragestellungen transportiert werden, umso besser. Aber Voraussetzung ist das sicher nicht. Gerade eben lektoriere ich für den Lübbe-Verlag einen Militär-SF-Zyklus, der sicher nichts weiter will, als eine spannende Geschichte zu Unterhaltungszwecken zu erzählen, obwohl man gerade im Bereich Militär und Krieg eine Menge Anspruch unterbringen könnte.

Es ist aber vollkommen legitim, nur zu unterhalten und völlig unambitioniert eine Geschichte erzählen zu wollen. Was die Qualität von Unterhaltung angeht, ist das dann eine Geschmacksfrage, aber ich glaube, man kann ohne Bedenken sagen, dass es im Bereich Unterhaltung, innerhalb wie außerhalb von SF, alle möglichen Qualitätsstufen gibt, und das ein jeder Leser, Spieler und Zuschauer problemlos etwas Passendes finden kann.

SF muss also nicht mehr wollen, aber sie kann, wenn sie will, sehr viel mehr tun, als allein zu unterhalten. Und zwar hauptsächlich in zwei Hinsichten – SF kann visionär oder mahnend spekulieren, und SF kann metaphorisch reflektieren.

Funktionen von SF: Spekulation als Vision und Mahnung
Science Fiction als Spekulation und Diskussion des Möglichen und Zukünftigen ist die eine wichtige weitere Funktion des Genres. In dieser Funktion erklärt und fordert SF mögliche Innovationen oder warnt und mahnt vor den Gefahren zukünftiger Entwicklungen. Sie schließt damit direkt an den in Gernsbacks Definition gegebenen Auftrag an, pädagogisch wirksam zu sein und über die Wissenschaften aufzuklären. Während Gernsback allerdings noch einen naiven Optimismus unter dieser Aufklärungsfunktion verstand, beinhaltet die ganze Bandbreite von in der SF vorkommenden Spekulationen deutlich mehr als hoffnungsfrohe Ausblicke. Die gibt es, und die gibt es auch auf hohem Niveau, etwa in Form des First-Contact-Romanes Begegnung mit Tiber aus der Feder von Buzz Aldrin, der im ‚echten Leben’ immerhin als Astronaut beim ersten Mondlandeunternehmen beteiligt war.

Bekannter sind jedoch meist die skeptischen Ausblicke geworden, die Warnungen vor dem, was eintreten kann, wenn wir Technologien und Sozialtechnologien einsetzen. Das können – ohne damit irgendein Urteil über die jeweilige literarische oder cineastische Qualität zu treffen – Warnungen vor der Gentechnologie sein wie in Charlotte Kerners Blueprint, Visionen von Maschinenherrschaft wie in der Terminator-Reihe, die Probleme künstlicher Intelligenz wie in Dark Star oder 2001, gesellschaftspolitische Themen wie in Metropolis oder Time Machine mit ihrer Klassenkampfthematik, Zivilisationskritik wie in William Goldings Der Herr der Fliegen, Religionskritik wie in Margaret Atwoods Der Report der Magd, Dystopien wie Wir, Brave New World, 1984, verklausulierte Lektionen über Fremdenfeindlichkeit wie in Enemy Mine, Öko-Themen wie Lautlos im Weltraum und reicht bis hin zu hochkomplexen philosophischen Spekulationen wie in Stanislaw Lems Solaris. Und das waren willkürliche, mir beim Schreiben einfach in den Sinn gekommene Beispiele aus einem Katalog von hunderten oder gar tausenden technologischer, politischer und philosophischer Spekulationsbeispiele. Es sind so viele, dass der Aspekt der kritischen Spekulation in der Science Fiction sogar als definierende Eigenschaft von SF in einem Lexikon zu finden ist, und zwar in Form von Brian Aldiss´ SF-Definition Science Fiction sei „Selbstüberschätzung, vom Schicksal zu Klump geschlagen“ („Hubris clobbered by Nemesis“, Aldiss/Wingrove Trillion Year Spree, 30).

Es gibt eine Vielzahl kritischer Spekulationen und man sollte ihren Einfluss und damit die gesellschaftspolitische Rolle von SF nicht unterschätzen. Bücher wie 1984 oder Herr der Fliegen wurden unmittelbar wirksam, dienen dazu, politische und gesellschaftliche Diskurse zu illustrieren und gehören zu den in den Schulen unterrichteten Standardwerken. Aber auch die riesige Menge ungenannter, nicht mit Inhalt und Titel jeweils präsenter SF, die aber im Unterbewusstsein ebenso wirksam ist, sollte bei dieser Überlegung nicht unterschätzt werden. Eine Serie wie Gene Roddenberrys Star Trek mit ihrem humanistischen und gewaltvermeidenden Ansatz kann mit über 500 Serienfolgen und Kinofilmen einen großen Einfluss auf das Weltbild ihrer Zuschauer ausüben. Das gilt aber auch umgekehrt, denn auch Zerrbilder können spekulativ erörtert und propagiert werden. In den Dreißiger Jahren waren dies in Deutschland beispielsweise die populären, an Rassismus grenzenden und von den Nazis sehr gern gesehenen Geschichten von Hans Dominik. Oder denken Sie an den teilweise überbordenden Militarismus bei Robert Heinlein (Starship Troopers).

Dass Science Fiction das Genre ist, das fragt „Was wirst Du tun?“, zeigt sich in den optimistischen wie den kritischen Spekulationen. Die besondere Bedeutung und eventuelle Betroffenheit ergibt sich daraus, dass es eben sein könnte, dass etwas Ähnliches wie das eintritt, dass in dieser oder jener SF-Geschichte beschrieben wurde. Zuschauend und lesend fordern uns die Geschichten dann auf, gedanklich Position zu beziehen, denn es könnte ja für das eigene reale Leben relevant werden. Im Falle von Genexperimenten kann das natürlich schneller geschehen als bei weltraumbasierten First-Contact-Geschichten, aber selbst der Inhalt von First-Contact-Geschichten dreht sich ja eigentlich darum, wie wir Menschen mit dem Fremden umgehen. Und im Falle von Sozialdystopien wie dem Report der Magd ist die Spekulation ganz nahe und könnte in jeder intolerant-autoritären Gesellschaftsgruppierung sozusagen live studiert werden.

Funktionen von SF: Metaphorische Reflektion
Ebenso wichtig ist jedoch eine weitere Funktion, die Funktion von Science Fiction als Metapher. SF als Metapher erklärt nicht mehr Zukünftiges oder Potenziale und warnt vor Gefahren, sondern klärt über das auf, was ist. Das hat mit Spekulation auf die Zukunft nichts mehr zu tun.

Wo SF als Metapher steht, zeigt sich erst so richtig die unauflösliche Verbindung des Phantastischen mit der Realität und hier erweist sich, dass die Phantastik eigentlich gar nicht phantastisch ist.

Am besten hat dies einmal Ursula K. Le Guin ausgedrückt:
„Realismus ist vielleicht die am wenigsten angemessene Form um die unglaublichen Umstände unserer realen Existenz zu porträtieren. Ein Wissenschaftler, der in seinem Labor ein Monster erschafft, ein Bibliothekar in der Bibliothek von Babel, ein Zauberer, der beim Sprechen eines Zauberspruches versagt, ein Raumschiff, das auf seinem Weg nach Alpha Centauri verschollen geht – all diese Dinge sind präzise und fundamentale Metaphern für die menschliche Existenzweise. Der phantastische Erzähler, ob er nun Archetypen aus den Mythen oder die jüngeren Archetypen aus Wissenschaft und Technik zitiert, spricht nicht weniger ernsthaft als jeder Soziologe – und manchmal sehr viel deutlicher. Phantastische Literatur dreht sich um das menschliche Leben; darum wie es gelebt wird, wie es gelebt werden könnte, wie es gelebt werden sollte.“

(Le Guin, Language of the Night, 58).

Wir können aber statt des verlorenen Raumschiffs und des missglückten Experiments auch zu den beiden Anti-Kriegsdramen von Coppola und Haldeman zurückkehren. Apocalypse Now erzählt vom sinnlosen Sterben und den surrealen Absurditäten des realen Vietnamkrieges. Der ewige Krieg erzählt auch vom Vietnamkrieg, obwohl die Handlung eine sich im Weltraum abspielende, vierhundert Jahre währende Auseinandersetzung zwischen Menschen und Aliens beschreibt, bei der die Beteiligten nicht einmal wissen, worum sie überhaupt kämpfen. Haldeman schrieb die Geschichte als seine persönliche Abrechnung mit dem Vietnamkrieg, den er mitzumachen gezwungen war (Krieg, 17).

Mit den Mitteln der Phantastik kann Haldeman den Krieg in den Weltraum verlegen und den Konflikt so überspitzen, und die echten Erfahrungen damit stärker betonen, als es eine realistische Erzählung erlaubt hätte. So entfremden sich die kämpfenden Soldaten beispielsweise aufgrund der relativistischen Effekte von lichtgeschwindigkeitsnahen Reisen der Heimat schon deshalb völlig, weil nach jedem Einsatz auf der Erde bis zu hundert Jahre vergangen sind. Das Raumschlachtensetting erlaubt Konfrontationen, ohne dass sich die Kombattanten jemals persönlich begegnen – bis zum Ende des Krieges weiß keiner der Soldaten, wie die Aliens überhaupt aussehen. Beide Aspekte – und es gibt weitere – pointieren aber nur die reale Erfahrung aus dem Vietnamkrieg. Die Entfremdung zur Heimat, die nicht nachvollziehen kann, was die Soldaten in den Dschungeln Asiens erlebten, sowie die Gesichtslosigkeit des Gegners, den man nur entfernt aus dem Hubschrauber zu sehen bekam, und der von der Propaganda zu einer Art Alien herabgesetzt wurde.

Die metaphorische Funktion teilt die SF allerdings mit aller anderen phantastischen Literatur, wie sich im Le Guin-Zitat schon am scheiternden Zauberer zeigt. Sie ist also nicht geeignet, SF abgrenzend zu anderen Genres zu charakterisieren. Nichtsdestotrotz ist sie diejenige Zweitfunktion, die SF so faszinierend macht, denn sie stellt die Relevanz zu unserem eigenen Leben her, die angesichts eines überlichtschnellen Aufbruchs in fremde Sternsysteme auf den ersten Blick so gar nicht gegeben zu sein scheint.

Ich hoffe, dass ich Ihnen nach der potenziellen Enttäuschung mit der dünn ausgefallenen Definition von Science Fiction doch noch meine Faszination für das Genre begreiflich machen konnte. Ich nehme an, die Faszination teilen Sie, sonst wären Sie wohl nicht hier. Aber vielleicht konnte ich die Augen für den einen oder anderen Aspekt noch öffnen oder das eine oder andere Argument liefern, wenn Ihnen angesichts Ihres Interesses Unverständnis entgegenschlagen sollte, wie man sich mit so einem Quatsch wie Zukunftsgeschichten nur beschäftigen kann.

Wir! Wir! Wir! Die Sterne aufbrechen!
Die Sonne aufbrechen! Wir können es!
(Alfred Döblin: Berge Meere und Giganten)

Literatur:

Aldiss, Brian/ Wingrove, David: Trillion Year Spree. The History of Science Fiction. London u. a.: Paladin 1988.
Alpers, Hans-Joachim/ Fuchs, Werner/ Hahn, Ronald M./ Jeschke, Wolfgang: Lexikon der Science fiction Literatur. 2 Bände. München: Heyne 1980.
Clute, John/ Nicholls, Peter: The Encyclopedia of Science Fiction. London: Orbit 1993.
Le Guin, Ursula K.: The Language of the Night. Essays on Fantasy and Science Fiction. New York: Putnam´s Sons 1979.
Philmus Robert: Science fiction: From Its Beginnings to 1870. In: Anatomy of Wonder. Bibliography of Science Fiction. London: Bowker 1976.
Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction. Zur Theorie einer literarischen Gattung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.