Gedanken über Kreativität und Adaption
nach der Tolkien-Konferenz in Aachen 2013

Das Tolkien-Seminar 2013 ist beendet; eine wieder einmal sehr gelungene Reihe schöner Vorträge rund um das Thema „Adaptionen von Tolkiens Werken“. Für mich hat sich als wesentlicher Eindruck das Gefühl noch einmal deutlich verstärkt, dass wir Menschen in einem unauflöslichen Fluss von Geschichten stehen, gespeist von vielen Erzählerinnen und Erzählern, aus denen manche herausragen, wie Tolkien, die aber alle davon abhängig sind, sich von dem Fluss zu nähren, zu dem sie wiederum beitragen. Letztlich ist es ein Kreislauf der Kreativität.

Der Kosmos der Tolkien-Adaptionen ist so groß, dass es mir eine ganz besondere Freude war, von vielen kenntnisreichen Kolleginnen und Kollegen kundig hindurchgeführt zu werden. Musik, Rollenspiel in allen Facetten, Kino, Fanfiction, Hörspiel und die literarischen Nachfolger wurden behandelt … und alles lief auf den gemeinsamen Nenner hinaus, dass alle auf der gleichen Reise sind, denselben Fluss befahren. Genau wie Tolkien.

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(Foto einer Folie aus der Präsentation von Jay Johnstone)

Ein nettes Bonmot – ich weiß leider nicht mehr, wer es einwarf – nannte Tolkien einen „Multiplagiator“, da er schließlich zig Sagenkreise geplündert habe, um sein Legendarium zur Welt zu bringen. Das ist natürlich nicht mit abschreibenden Politikern zu vergleichen, sondern weist stattdessen darauf hin, dass kein Mensch eine Insel ist, und dass es sich eben einfach nicht unbeeinflusst erzählen lässt.

In Diskussionen weise ich in diesem Zusammenhang gerne auf einen Zeitgenossen Goethes hin, den Venezianer Carlo Gozzi, der sagte, dass es nur 36 Motive gäbe, die das Drama darstellten könne. Man mag sich über die genaue Anzahl trefflich streiten können, aber der Kern der Aussage ist völlig richtig, dass es nur eine überschaubare Anzahl von Themen gibt, für die sich der Mensch interessiert.

Das liegt, wie Sie wissen, natürlich daran, dass es nur eine überschaubare Anzahl von Themen gibt, die uns betreffen und eine noch geringere, die uns intellektuell und emotional mitreißen. Und im Bereich der Erzählungen, im Bereich der erfundenen Handlungen und Welten, ist das der alles überragende Grund, warum wir uns mit solchen ‚Lügen’ beschäftigen: Wir wollen gepackt und mitgerissen werden.

Es sind Geschichten von Liebe und Freundschaft, von Feindschaft und Hass, von Treue und Verrat, von Opferbereitschaft und Feigheit, von Unterdrückung und Rebellion, von Rettung und Verlust, von Verdammnis und Erlösung, vom Guten und vom Bösen, die das bewirken und die man sich in immer neuen Zusammenstellungen seit den Lagerfeuern der Frühzeit erzählt.

Einst, vor der Romantik ab dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, waren es die Erzählung und ihr Inhalt, die im Mittelpunkt standen, und weniger ihre Urheber, auch wenn ein flotter altgriechischer oder frühneuzeitlicher Tragödien- und Komödienschreiber schon zum Star auf der Agora und im Theater aufsteigen konnte. Seine Geschichten fanden jedoch größere Beachtung als er, und das ist auch in Zeiten der Verehrung alter und neuer Dichtergrößen heute nicht so anders. Das hat Thomas Fornet-Ponse in seinem Vortrag zu recht schön hervorgehoben. Ehre wem Ehre gebührt: Aber die fruchtbare Auseinandersetzung findet mit dem Stoff statt, während andere Schwerpunkte oft nicht viel mehr als eitle Schaumschlägereien sind.

Topic first, möchte man sagen, und gerade in der Fantasy kann man einen großen Teil der Motive zwar auf Tolkien zurückführen, findet aber in ihm doch ‚nur’ den großen Kompilator, der Motive, die auf ihn übergegangen waren, neu verknüpfte. Was die ihn Adaptierenden also machen, ist nicht viel anders als das, was er tat. Auf der Konferenz in Jena wurden Untersuchungen vorgestellt, die sich genau damit befassten, was wir heute mit unserem Tolkien so alles anstellen.

Da inspiriert er Künstler wie den Briten Jay Johnstone, dessen Bilder diesen Blogbeitrag abrunden, zu eigenständigen Kunstwerken, die Tolkien zwar aufnehmen, ihn aber auch transformieren und neue wie alte Motive zu innovativem Ausdruck bringen, wenn orthodoxe Ikonographie plötzlich Anwendung auf den tolkienschen Mythos und den ihm unterliegenden Sagenkreis findet.

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(Beren und Luthien; © Jay Johnstone)

Viele andere Tolkienbegeisterte erzählen oder spielen einfach nur nach, was Tolkien vorgab, und das ist genauso legitim wie die Transformation. Und mancher heutzutage Kreative greift schon in zweiter Generation auf Tolkieneskes zu, mischt es noch munterer als die Vorgänger mit anderem und so wird die Spur, die Tolkien im Fluss der Geschichten hinterlässt wieder dünner, sie verwässert durch Vermischung und bleibt dabei umso mehr der immer gleiche alte Fluss.

Ist das zu bedauern? Ich denke nicht. Tolkien wird der berühmte Tolkien bleiben, auch wenn seine Einflüsse immer breitere Schichten von Erzählern beeinflussen, die diesen Einfluss gar nicht mehr auf den Professor zurückführen, weil sie ihn vermittelt aufnahmen.

Er wird auf den ersten Blick vielleicht etwas verwischt werden, wenn machtvolle Adaptionen wie die Jackson-Verfilmung auf das unschuldige Buch zurückwirken, etwa, indem die Designs der Kostüm- und Setbildner zunehmend die Bilder von Mittelerde und seinen Völkern in unseren Köpfe bestimmen.

Beiträge seitens Tolkien adaptierender Menschen schaffen oftmals auch Verbindungen zwischen dem Original und den hinzugefügten Dingen, die ursprünglich gar nicht bestanden. Später werden diese Verbindungen dann aber als organisch wahrgenommen, so dass man glaubt, sie gehörten schon immer dazu. Tobias Escher hat das in seinem Vortrag sehr eindrücklich an dem Beispiel verdeutlicht, wie stark mittlerweile Folkmusik und Mittelerde zusammengehören (zusammen zu gehören scheinen?), ohne dass jene ursprünglich irgendetwas mit Mittelerde zu tun hatte.

Dadurch geht aber Tolkien doch nicht unter! Ein Blick zurück ins Buch führt uns immer wieder zuverlässig zu unserem Professor zurück. Ein paar Schritte, vielleicht auch mal eine kleine Wanderung den Fluss hinauf, Richtung Vergangenheit, bringt uns zuverlässig wieder zu jener machtvollen Stromschnelle J.R.R. Tolkien, die den Fluss immer stärker prägen wird als er von uns vielen kleinen Kiesel am Ufer geprägt wird, die nichtsdestotrotz den weitaus größeren Teil des Flusses bilden.

Dass des Professors Einflüsse nicht mehr so überdeutlich wahrzunehmen sind, dass manches, was seiner Kreativität geschuldet ist, aus Unkenntnis anderen zugeschrieben werden wird, dass er durch die Verwässerung ein wenig verblassen wird – das ist allenfalls ein bisschen schade, aber keine Katastrophe. Und es traf schon ganz andere.

Unser Aachener Gastgeber, der Shakespeare-Experte Professor Peter Wenzel, berichtete nach Anhören aller Vorträge, dass er bezüglich der Adaptionen Tolkiens starke Ähnlichkeiten zu der sehr viel älteren Adaptionsgeschichte Shakespeares sehe. Und viele, viele Ideen sowie manch geflügeltes Wort, das 400 Jahre später noch immer in aller Munde ist, ist für die Mehrheit der Menschen nicht mehr als Wort Shakespeares erkennbar. So what? Es sind die Ideen und die Geschichten, die weiterleben. Und diese haben – bei allem nötigen Respekt – den Vorrang vor ihren Erfindern.

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(Beren und Huan auf der Jagd nach Carcharoth; © Jay Johnstone)

Denn diese Erfinder – selbst die genialischsten Wortschmiede unter ihnen – lebten doch auch nur von dem, was sie gehört oder gelesen haben. Sie sind auch nur ein Teil des Flusses, wenn sie auch besonders starke Stromschnellen unter all seinen Mäandern und Schlaufen darstellen, die den Flusslauf stärker prägen als die allermeisten anderen Erzählerinnen und Erzähler. Auch die Genies standen schon auf den Schultern derer, die vor ihnen kamen und es ihnen erst ermöglichten, auf nahezu perfekte Weise zu erzählen.

Die Romantik war Zeit ihres Wirkens auf der Suche nach dem Genius, von dem sie sich Befreiung aus dem Jammertal der Realität versprach. Meine vielleicht noch etwas vage und eventuell unzureichend durchdachte Vermutung ist, dass dieser Genius wir alle sind. Wir sind uns dann letztlich alle doch als biologische Einheiten wie auch als potenziell spirituelle Entitäten einfach zu ähnlich, um allzu große Unterschiede zwischen uns belegen zu können. Uns berührt allemal das Gleiche und deshalb erzählen wir uns das Gleiche, vertonen es oder bannen es auf Leinwand oder fixieren es in Skulptur.

Und das gilt ganz besonders da, wo wir Träume und Hoffnungen erleben und zu ihnen beitragen. Das muss nicht immer darin bestehen, dass Notenblätter beschrieben oder Schreibprogramme gefüttert werden. Stefanie Bauer berichtete uns davon, wie Rollenspieler durch ihr Spiel und kreatives Reenactment ebenfalls Zweitschöpfung betreiben.

Das ist – das hat Steffie nicht gesagt, also bezichtigen Sie bitte mich eventueller Übertreibung – exakt das Gleiche wie das, was Tolkien tat. Er tat es elaborierter und auch ästhetisch wirksamer als es den meisten von uns gegeben ist, aber was das kreative Moment an sich angeht, gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen dem unidentifizierbaren Jedermann und den großen Kreativen, die in der Schule gelehrt werden oder deren Werke auf Auktionen für Zigmillionen den Besitzer wechseln.

Eigentlich erzählen wir alle einander immer nur Geschichten. Auch wenn wir malen und musizieren. Auch wenn wir (rollen-)spielen. Selbst wenn wir allein sind (heute vielleicht vor dem Offline-Computerspiel, aber in gewisser Weise seit Jahrhunderten schon, wenn wir lesen) hören und erzählen wir Geschichten, weil wir dann selbst dann nicht allein sind, wenn wir allein sind.

Teil eines großen Flusses, der das menschliche Leben adaptiert …

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Galadriel; © Jay Johnstone
Alle Fotos zeigen Bilder von Jay Johnstone,
die ich mit seiner freundlichen Genehmigung veröffentliche.
Mehr zum Künstler finden Sie hier.

Frank Weinreich