Poetry is the blossom and fragrance of all human knowledge.
(Samuel Taylor Coleridge: Biographia Literaria)


 

Zur Metaphysik der Zweitschöpfung

Die Ontologie von Mythopoeia

© Frank Weinreich

Es gibt einige Orte im literarischen Werk Tolkiens, an denen sich des Autors Überzeugungen von menschlicher Kreativität und Schöpferkraft sowie deren Stellung im Gefüge des Seins analysieren lassen.

In On Fairy Stories, in den kleineren fiktionalen Werken, besonders, in Leaf by Niggle (vgl. Hiley/ Weinreich 2008), natürlich in der Mittelerdedichtung und in Mythopoeia, jenem Gedicht, das er C.S. Lewis widmete, um ihm zu zeigen, dass Mythen keine Lügen sind, sondern wertvolle Wahrheiten enthalten. Und das ist das eigentliche Thema des Gedichtes und meines heutigen Vortrages:

Die Verfasstheit des Seins nach der im Gedicht Mythopoeia ausgedrückten Auffassung.

  • Dazu werde ich zunächst einleitend auf die Entstehung von Mythopoeia eingehen.
  • Dann werde ich das Gedicht formal betrachten.
  • Es folgt eine längere interpretierende Darstellung der wichtigsten Verse oder Strophen.
  • Im Anschluss daran ende ich mit einer abschließenden Einschätzung.

 

I

Zur Entstehungsgeschichte verlasse ich mich auf die Darstellung bei Tolkiens wichtigstem Biographen, Humphrey Carpenter (Carpenter 1979, 169ff.). Demnach fand in der Nacht vom 19. auf den 20. September 1931 ein langes Gespräch zwischen Tolkien, Hugo Dyson und C.S. Lewis statt, in dem die Erstgenannten sich bemühten, Lewis über das wahre Wesen des Mythos aufzuklären. Lewis war zu diesem Zeitpunkt zwar schon Theist (Lewis 1998, 275), hatte aber den Weg zum Christsein noch nicht gefunden (vgl. Kap. 14 u. 15). Lewis soll in dieser Diskussion gesagt haben Mythen – es ging natürlich im Wesentlichen um den christlichen Mythos – seien Lügen, wenn auch durch Silber gehaucht, also Unwahrheiten, auch wenn sie noch so schön verpackt sein mögen. Das erregte Tolkiens sofortigen Widerspruch, der dies abstritt und schon an dieser Stelle den Anspruch formuliert haben soll, dass Mythen Wahrheit enthielten. In den Wochen nach diesem Gespräch entstand dann Mythopoeia als kondensierte und künstlerisch aufbereitete Form der Argumente gegen den Lewis´ Lügenvorwurf.

Das war der Anlass für die Entstehung des Gedichtes Mythopoeia im Jahr 1931 – also Jahre bevor On Fairy Stories geschrieben wurde!

II

Nun zu den Formalia. Mythopoeia ist ein Tolkienscher Neologismus (Shippey 2003, 49), eine Wortschöpfung, aus den griechischen Vokabeln mythos und poiesis. Mythos muss nicht übersetzt werden und poiesis steht für „handeln, schaffen“ aber im künstlerischen Sinne, und den meint Tolkien, auch für kreative Schöpferschaft. Mythopoeia bedeutet also Mythen erschaffen und der Titel im Zusammenhang mit der an Lewis gerichteten Widmung „To one who said that myths were lies and therefore worthless, even though ‘breathed through silver’“ gibt das Programm des Gedichtes vor, nämlich zu erklären, was Mythenschöpfung ist, damit also den Status von Mythen aufzuzeigen.

Das Gedicht umfasst 148 Zeilen in 12 Strophen uneinheitlicher Länge. Es ist verfasst in sogenannten heroic couplets, einer Form des fünfhebigen Jambus:

 

You look at trees and label them just so,
(for trees are ‘trees’, and growing is ‘to grow‘)

Die Betonung liegt auf den kursiv gesetzten Silben

Die Herkunft des heroic couplets ist unbekannt. Es ist in der englischen Dichtung aber spätestens seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch. Chaucer war der erste Dichter, der extensiven Gebrauch davon machte. Im 17. Jahrhundert entwickelte sich das heroic couplet zum vorherrschenden Versmaß in der englischen dramatischen Dichtung und erreichte seine Höhepunkte in der Dichtung John Drydens und Alexander Popes. Die formale Struktur von Mythopoeia weicht damit von der Dichtung ab, die man sonst von Tolkien kennt. Clive Tolley nimmt an, dass das darin begründet liegt, dass Tolkien mit Mythopoeia nicht einfach nur eine Antwort auf C.S. Lewis Lügenvorwurf geben will, sondern viel weiter ausholt und in einem großen Wurf das von dem Katholiken Alexander Pope in den Gedichten Essay on Criticism und Essay on Man skizzierte Welt- und Menschenbild in die richtige Richtung korrigieren will (Tolley 2002, 82ff.). Pope verfasste die genannten Gedichte (Pope 1711, 1734) ebenfalls in heroic couplets, was es angelegen erscheinen lassen würde, ihm in gleichem Versmaß zu antworten. Doch ein eventueller Zwist von Pope und Tolkien ist hier nicht mein Thema.

III

Soviel zur Form, ich wende mich dem Inhalt zu. Allerdings ist es in diesem Rahmen nicht möglich, aber auch gar nicht nötig, das Gedicht Vers für Vers durchzugehen. Ich beschränke mich auf die meiner Ansicht nach entscheidenden Passagen.

Das eigentliche Gedicht beginnt nicht sofort. Nach der Widmung an C.S. Lewis1 folgt zunächst die Zwischenüberschrift „Philomythus to Misomythus“, das Stück stellt also eine Mitteilung des Mythenfreundes Philomythus an den Mythenskeptiker, vielleicht auch Mythenfeind Misomythus dar. Nun glaube ich keinesfalls, dass Tolkien mit der Bezeichnung Misomythus Lewis ernsthaft charakterisieren wollte – auch 1931, weit vor der Publikation der mythenstrotzenden Zyklen Perelandra und Narnia, wird man Lewis keine Feindlichkeit vorwerfen können, sondern eben nur Ungläubigkeit. Die Vorsilbe mis- bedeutet zwar „falsch“ sie bedeutet aber auch „schlecht“ und trägt diese negative Konnotation auch in der Bedeutung von Falschheit mit sich. Eine ästhetische oder moralische Schlechtigkeit des Mythos aber wollte auch Lewis wohl nicht andeuten. Nein, ich denke, mit Misomythus ist der Materialist, der Gläubige der Naturwissenschaften und der rein empirischen Erkenntnis gemeint. Und diese Erkenntnisform wird zunächst und in der ersten Strophe angesprochen.

Misomythus ist es, von dem in dieser Strophe behauptet wird, „Du siehst die Bäume an und benennst sie Baum usw“. Die erste Strophe bildet die materialistische Weltsicht der Zeit, besonders aber die Weltsicht der empirischen Wissenschaften ab. Man bemerkt Phänomene in der wahrnehmbaren Welt, gibt ihnen Bezeichnungen wie Baum, Erde, Weltkugel. Selbst ein Stern, eine Himmelerscheinung, die immerhin Gegenstand unzähliger mythischer Interpretationen ist, ist für die empiristische Weltsicht letztlich nichts weiter als etwas Materie in der Form eines Balles. Das Materielle verläuft in geregelten Bahnen, damit aber auch kalt und dumm, wobei man „Inane“ an dieser Stelle wohl besser mit geistlos im Sinne von entspiritualisiert übersetzt. Es ist ein Universum, indem die Sterne auf berechenbaren Kursen ihe Bahn ziehen, dies aber unausweichlich.

Interessant ist die achte Zeile. Selbst die Atome haben demnach ein unausweichliches Schicksal, das sie in jedem Augenblick töten kann. Diese Zeile ist meines Erachtens eine Anspielung auf das Bohrsche Atommodell von 1913, das die Regelhaftigkeit der Eigenschaften der Atome beschreibt. Und auch 1931 waren die Grundlagen der Thermodynamik bekannt und dürften einem so gebildeten und interessierten Menschen wir Tolkien nicht verborgen geblieben sein. Man kann also davon ausgehen, dass Tolkien das Atommodell kannte und auch dass es nach den verschiedenen Erhaltungssätzen nicht möglich ist, dass ein Atom einfach „erschlagen“ werden kann. Was soll dann die Falschaussage, denn es ist ja offensichtlich, dass Atome im Regelfall nicht vergehen? Dass sie vernichtet werden können mag 1931 eine Idee gewesen sein, die unter Kernphysikern wie Bohr, Born, Fermi und Heisenberg diskutiert wurde, aber dass da schon sie bis zu Tolkien durchgedrungen ist, halte ich für wenig wahrscheinlich. Für viel wahrscheinlicher halte ich es, dass Tolkien hier in Zeile 8 an den vorempirischen Atombegriff Leukippos´ und Demokrits2 anschließt und damit also die materielle Grundlage allen physischen Seins meint. Und im Gegensatz zu den aktuellsten Ahnungen seiner zeitgenössischen Physik dürfte Tolkien um die Spekulationen der antiken Physiker sehr wohl gewusst haben, denn die Rekonstruktionsarbeiten zu den Fragmenten der Vorsokratiker lagen bis 1930 vor und dürften gerade einem Philologen wohlbekannt gewesen sein. Dass aber doch ein Bezug zur modernen Kernphysik besteht geht aus der Formulierung „destined atoms“ hervor, denn ein Schicksal sahen die antiken Atomisten für die kleinsten Teilchen nicht vor, sie waren hingegen sowohl von ihrer Unvergänglichkeit (Capelle 1968, 291f. u. 397f.) als auch von ihrer Ziellosigkeit überzeugt (405). Und diese Grundlage ist es, die in jedem Augenblick zerstört wird. Wie? Warum? Das ist noch unbekannt. Man lese also weiter.

Strophe zwei berichtet von der Entwicklung von Zeit, Kosmos und Welt, „from dark beginnings to uncertain goals“ (Zeile 12). Erwähnt wird einerseits die Evolution, ohne das Konzept explizit als falsch zu bezeichnen. In den zeilen 15 und 16 steht „an endless multitude of forms appear, some grim some frail some beautiful, some queer“ und sie stammen nach Zeilen 17/18 aus einer Quelle, aus „one remote Origo“. Das ist nichts anderes als die poetische Kurzform des Evolutionsprinzips und liest sich als direkte Replik auf die letzten Worte von Charles Darwins Origin of Species, die lauten: „from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved“ (Darwin: Origin of Species, 458). Doch schon eine Zeile weiter besteht das Gedicht darauf, dass Gott Welt und Leben schuf – „God made …“. Das ist aus heutiger Sicht kein Problem, denn Evolution und Gottesglaube schließen einander nicht aus, und dazu braucht man nicht einmal die Hilfe der fragwürdigen Anhängerschaft des sogenannten Konzeptes des intelligent design zu bemühen. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man den Hinweis auf Gottes Schöpferschaft eigentlich nur als Einwand gegen die Evolutionstheorie lesen. Damit wäre also eine weitere kritische Anmerkung gegen die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zu konstatieren.

In Strophe drei erfolgt der erste Hinweis auf die starke Rolle der Sprache und der Namensgebung. Bäume werden erst zu Bäumen, wenn sie so benannt wurden, heißt es in Zeile 29. Und benannt werden konnten sie erst nachdem ein Benennender auf den Plan getreten ist – der Mensch. Den Menschen, der erst zum Menschen wird, indem er über Sprache verfügt, das sagt Zeile 31. Der Mensch entfaltet sich erst zum Menschen durch den schwer verständlichen Atem der Sprache, die eine schwaches Echo und dunkles Bild der Welt ist, aber nicht im sinne einer Aufzeichnung oder eine Photographie. Es ist nicht ganz einfach auseinanderzunehmen,was hier zu finden ist.

1. Bäume werden erst zu Bäumen, wenn sie so benannt wurden. Baum steht hier meines Erachtens für jegliches Phänomen der belebten Welt, vielleicht auch für die unbelebte, denn in der Strophe vorher werden Fels und Baum auch gleichgesetzt. Das hieße dann, die Welt wird erst zur Welt, wenn sie benannt wurde, was erst mit dem Auftreten des Menschen passieren kann. Einem Materialisten muss das als Quatsch erscheinen, denn für diesen ist die Welt natürlich die Welt, völlig unabhängig von einem Beobachter. Aber natürlich ist das nach Tolkiens Überzeugung kein Quatsch, sondern ein erster starker Hinweis auf eine zweite Existenzebene. Bäume werden erst zu wahren Bäumen, wenn ein vernünftiges Wesen sie erkannt und benannt hat. Wir haben also einmal einen Baum, der aus einer Materiesuppe entstand, eine der Formen aus Zeile 15 „an endless multitude of forms appear“. Und wir haben eine anderen Baum, den richtigen Baum, den er trägt einen Namen. Da der benannte vom unbenannten Baum aber weder durch Berührung noch durch mikroskopische Sektion oder biochemische Analyse zu unterscheiden ist, muss das Wesen des benannten Baumes irgendwo anders existieren. Wo? Das werden wir später Platon fragen.

2. Zeile 31 erzählt dann ziemlich verklausuliert von dem Benennenden. Eine schwer verständliche Sprache bringt diese oder diesen zur Entfaltung. Die Entfaltung heißt nun nichts anders als dass der oder die benennende erst durch Sprache zu dem wird was er oder sie ist – einMensch. Und das ist ein Topos, den ein Philologe noch im Tiefschlaf nach 3 Tagen Kneipentour wieder erkennen würde, das ist das aristotelische zoon logon echon, das Tier das über Sprache verfügt. Seit der Antike gilt dies als die differentia specifica, die den Menschen von allem andern unterscheidet.

3. Soweit so einfach. Aber jetzt wird es spannend, denn jetzt geht es um eine erste Charakterisierung von Sprache. Es ist unerheblich, ob in Zeile 32 der Mensch oder die Sprache gemeint ist, wenn es heißt sie sei ein schwaches Echo und dunkles Abbild der Welt, denn Mensch und Sprache sind im zoon logon echon als identisch gedacht. Warum also ist die Sprache des Menschen schwach und dunkel in der Abbildungsleistung der Welt? Sie ist keine getreue Abbildung in Form einer Aufzeichnung oder eines Bildes heißt es in Zeile 33. Ich sehe da nur eine mögliche Erklärung. Wäre die Sprache und Benanumg eine Fotografie, so würde sie nur eine der „multitude forms“ aus Zeile 15 abbilden können. Das tut sie also nicht ist die klare Aussage von Zeile 33. Was sie tut steht in 32 sie bildet die Welt unvollkommen ab. Dafür kann es nur einen Grund geben, sie muss eine andere Welt abbilden, als jene, die der Fotoapparat abbilden würde, eine andere Welt als die der bloßen Materie. Das kann dann nur die Welt sein, auf die Zeile 29 hinweist, die Welt, in der der benamte Baum, der echte Baum, das Wesen des Baumes zuhause ist. Andernfalls hätte der Dichter vorher weitere Hinweise geben müssen.

Was aus der Betrachtung der Zeilen 29 bis 30 also zu ziehen ist, ist Folgendes: es gibt eine Existenzebene neben der materiellen Ebene auf der sich unsere Körper gerade befinden und diese zweite Ebene muss irgendetwas mit Sprache zu tun haben. Das legt den Verdacht nahe, dass der Mensch, das aristotelische zoon logon echon, einen Schlüssel besitzt, mit dem er diese Ebene aufschließen kann.

Das Gedicht fährt fort damit, die typisch menschlichen Denktätigkeiten zu beschreiben. In den Zeilen 39 – 44 heißt es dann, dass er, der Mensch, das Vorhergewusste aus der Erfahrung ausgräbt und das Spirituelle hervorbringt, insbesondere die Elben und ihre künstlerischen Fähigkeiten. Zwei Dinge sind hier wichtig. Erstens das Wort foreknown. Vorhergewusstes wird da ausgegraben. Es handelt sich um Wissen, das der Mensch nicht erlernt hat, sondern dass er vorher, vor der Erfahrung, ja vor dem Beginn seines Lebens, denn der Beginn des Lebens ist ja auch der Beginn seiner Erfahrungen, das er im Vorhinein besessen hat. Die antike griechische Philosophie würde hier nicht von „digging“, von Ausgraben, sondern von Geburt sprechen. Es ist das sokratische Sichererinnern an vorgewusste Wahrheiten, von der Tolkien hier spricht. Die Erinnerungen werden wiedergeboren und so das Wissen erneut gewusst. Das Konzept wird erstmals ausführlich entwickelt in Platons Phaidon. Und woher kommt das Wissen? Das kommt wieder von einer anderen Existenzebene. Damit findet sich hier also ein erneuter Verweis auf das Übernatürliche. Zudem findet sich hier der erste Hinweis auf die besondere Stellung der Kunst und der Kreativität. Denn woran erinnert sich der Mensch da wieder? An die Elben und ihre Schmieden und Webstühle. Jene Elben, von denen er später in dem berühmten Brief an Milton Waldman sagen wird: “Ihr Zweck ist Kunst und nicht Macht, Zweitschöpfung und nicht Bezwingen und tyrannisches Re-Formieren der Schöpfung” (Letters, 146). Die Elben und ihre Schmieden und Webstühle, die hier ihre Arbeit in den Köpfen der Menschen verrichten, dienen als Metapher für die Kunst und den Stellenwert von Kunst und schöpferischer Tätigkeit, an die sich der Mensch erinnert. Und diese ist mit „great power“ ausgestattet.

Strophe 4 beschreibt dann in sehr schönen Bildern den Zauber, den man in der Welt wahrnehmen kann, wenn man sie mit Elbenaugen, mit den Augen des Künstlers also ansieht. Strophe 5 dann beobachtet den Menschen hinsichtlich seines Platzes in der Ordnung der Dinge. Es ist der gefallene Mensch, von dem das Gedicht berichtet, aber Gott hat ihn nicht aufgegeben, sondern schenkt ihm weiterhin seine Weisheit, er muss nur in der Lage sein, sie zu erkennen. Er ist Mensch, Zweitschöpfer und das spaltet das eine weiße Licht, um es in unzähligen Kombinationen neu zusammenzufügen. Und diese Fähigkeit und das Recht dazu hat auch der Sündenfall nicht beendet, weiterhin ist der Mensch aufgerufen, seine Fähigkeiten als Zweitschöpfer auszuüben: „We make still by the law in which we´re made“, so heißt es in Zeile 70, mit der Strophe 5 endet. Strophe 5 bietet den stärksten Anknüpfungspunkt an den Essay On Fairy Stories, der 6 Jahre später entstehen wird und der völlig zu Recht in engen Zusammenhang mit dem Gedicht Mythopoiea gestellt wird.

Die Strophen 6 – 9 erzählen von den Gefahren der Welt und davon, dass es das Böse wirklich gibt: „of evil this alone is dreadly certain, evil is“ (Zeilen 79f.). Letzteres ist ein Gedanke, den man einem Materialisten natürlich besonders eindrücklich einbläuen muss, denn damit ist ein metaphysisches Böses gemeint, eine Macht, die Tolkien letztlich in Melkor verkörpern wird, die aber auch für uns Menschen der Primärwelt eine reale Macht ist. Und Aufgabe der Mythen – und deren Wahrheit gegenüber C.S. Lewis darzulegen ist ja der sinn des Werkes – ist es, vor diesem Bösen zu warnen. Wer sich dessen bewusst ist und trotzdem ein wenig Mut zusammenhalten kann, der ist gesegnet. Gesegent sind besonders jene, die dann auch noch ihre Stimme erheben und von diesen Erkenntnissen in mythischer Erzählung berichten: „the legend-makers with their rhyme“ (Zeile 91). In Zeile 92 steckt dann wieder ein Hinweis auf die andere Existenzebene, denn die legend-makers berichten Wahres, aber sie berichten von Dingen, die in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung nicht zu finden sind, denn das sind „things not found within recorded time“. Bescheiden, wie Tolkien typischerweise auftritt, wünscht er sich dann in Strophe 10 nur, dass er doch auch einmal mit den Barden singen möge, um seine Stimme in diesem Sinn erheben zu können. Nun das war 1931 und sein Wunsch sollte bald in Erfüllung gehen.

Strophe 11 ist dann besonders interessant wegen des Bildes, das von den Naturwissenschaften gezeichnet wird.
Die fortschreitenden Affen aus Zeile 119 stellen eine weitere Spitze gegen die Evolutionstheorie dar, die Tolkien wahrscheinlich in erster Linie als Beleidigung des Glaubens an die Gottebendbildlichkeit des Menschen empfand. Wichtiger aber ist der Abgrund, der sich vor dem Fortschritt auftut. Dass Tolkien den Fortschritt in form des technischen Fortschrittes sehr kritisch sah ist bekannt und bedarf keiner kritischen Analyse mehr. Technischer Fortschritt aber hängt vom fortschreiten der Erkenntnisse in den Naturwissenschaften ab. Spitzen gegen diese aber sind in weit geringerer Zahl bekannt und versteckter als solch eindeutige Aussagen wie jene, dass die Moderne Mordor in unserer Mitte sei. Es ist aber nur folgerichtig, eine ähnlich kritische Haltung auch gegenüber der Naturwissenschaft, vielleicht jeglicher Wissenschaft anzunehmen, denn die Soziologie eines Auguste Comte mit ihrem Positivismus etwa, widerspricht auch dem in Mythopoeia entworfenen Menschenbild und trägt umgekehrt zum Erfolgszug einer technokratischen Gesellschaft bei. Umso wichtiger ist es, hier in Zeile 119 die Spitze gegen Darwin zu notieren.

Die fortschreitenden Affen aus Zeile 119 stellen eine weitere Spitze gegen die Evolutionstheorie dar, die Tolkien wahrscheinlich in erster Linie als Beleidigung des Glaubens an die Gottebendbildlichkeit des Menschen empfand. Wichtiger aber ist der Abgrund, der sich vor dem Fortschritt auftut. Dass Tolkien den Fortschritt in form des technischen Fortschrittes sehr kritisch sah ist bekannt und bedarf keiner kritischen Analyse mehr. Technischer Fortschritt aber hängt vom fortschreiten der Erkenntnisse in den Naturwissenschaften ab. Spitzen gegen diese aber sind in weit geringerer Zahl bekannt und versteckter als solch eindeutige Aussagen wie jene, dass die Moderne Mordor in unserer Mitte sei. Es ist aber nur folgerichtig, eine ähnlich kritische Haltung auch gegenüber der Naturwissenschaft, vielleicht jeglicher Wissenschaft anzunehmen, denn die Soziologie eines Auguste Comte mit ihrem Positivismus etwa, widerspricht auch dem in Mythopoeia entworfenen Menschenbild und trägt umgekehrt zum Erfolgszug einer technokratischen Gesellschaft bei. Umso wichtiger ist es, hier in Zeile 119 die Spitze gegen Darwin zu notieren.

Die Zeilen 125 bis 130 sind dann der unmissverständliche Ausdruck der Verweigerung gegenüber der unspirituellen Moderne und dem als vorherrschend empfundenen Materialismus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Diesen Weg geht der Dichter nicht; er verneigt sich nicht vor der eisernen Krone des Materialismus und er wird sein goldenes Szepter der schöpferischen Kreativität nicht ablegen.

Bemerkenswert ist noch die Zeile 126, denn „denoting this and that by this and that“, also Bedeutungen von einem Sachverhalt aus einem anderen zu entwickeln und wieder zurück zu verweisen, halte ich für eine verklausulierte Kritik an den Erkenntnisprinzipien von Induktion, dem Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine und Deduktion, dem Schluss aus dem Allgemeinen auf das Besondere. Induktion und Deduktion sind aber die wichtigsten Erkenntnismittel der Empirie. Neben Beobachtung und Experiment sind es vor allem Induktion und Deduktion, aus denen man die Erkenntnisse „a star´s a star, some matter in a ball“ und von den „destined atoms“ entwickelte. Die Prinzipien von Induktion und Deduktion sowie die gesamte Empirie beruht letztlich auf der aristotelischen Kategorienlehre. Tolkien stünde mit einer Kritik an Aristoteles als demjenigen, der mit seiner kalten Sachlichkeit letztlich der Grund für alle wissenschaftlichen Übel der Entzauberung der Welt ist, bei weitem nicht allein. Das musste sich der alte Stageit, der doch nur versuchte, die himmelsstürmenden Spekulationen Platons auf die Füße zu stellen, schon oft gefallen lassen.

Die Hinweise auf eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit, des Sprachwissenschaftlers Tolkien verdichten sich. Warum sind die Aussagen so umständlich versteckt? Vielleicht weil Tolkien Mitglied der Scientific Community war und das Nest nicht beschmutzen wollte? Mag sein. Aber wohl auch, weil er ja nicht etwa wissensfeindlich war. Nein, Tolkien war Zeit seines Lebens auf der Suche nach Erkenntnis, nach Wissen. Sicher sah er nur Teile des Prozesses der Erkenntnisgewinnung als falsch an. Vielleicht sehen seine Formulierungen auch aus dem Grund nur verklausuliert aus, weil er dezidiert zu differenzieren versuchte. Und einiges an Formulierungskunst ist natürlich der literarischen Form geschuldet, die er hier verwendet.

Doch wie weit reicht die Erkenntnis denn nun? Tolkien hat klar gemacht, was er ablehnt, er hat gezeigt was ein Mythos ist und dass der Mythos Wahrheiten berichten kann. Aber das sind nur schwach zu hörende und abgedimmt zu sehende Wahrheiten. Auch die menschliche Schöpferkraft ist, selbst wenn sie elbisch zu werden imstande ist, doch nur in der Lage, Abbilder der Wahrheit zu zeigen. Spätestens hier klingeln dem in der Antike bewanderten Leser die Ohren – abgeschwächt zu sehende Bilder, schwer zu hörende Töne? Das klingt doch ganz wie Platons Höhle?

Die bis hierhin mehrfach ins Spiel gebrachte zweite Existenzebene kann nach dem bisherigen Text von Mythopoeia nicht auf unsere Erde gebracht werden. Und dabei bleibt es auch. Die Zeilen 131 – 136 zeigen, dass die wahre Erscheinung der Dinge nur auf der zweiten Existenzebene wahrgenommen werden kann; einer Ebene, die mit dem Paradies gleichgesetzt wird. Im Paradies hat das müde Menschenauge die Möglichkeit abseits vom immer gleichen Tag, den es gewohnt ist, diesen Tag in einem neuen Licht zu sehen. Die Formulierung erinnert an das platonische Sonnengleichnis, das die Sonne, also ein Objekt das hellstes Licht spendet, mit der Idee des Guten gleichsetzt – ein Gut das zur Schau der Wahrheit im Lichte der Sonne erst befähigt (Politeia 508a – d). Nach dem platonischen Liniengleichnis (509d – 511a) hängt die mögliche Schau der Wahrheit dabei von dem Grad ab, in dem das Sonnenlicht einzuwirken vermag. Einen Anklang daran findet man in Zeile 133 im Bild des illuminierten Tages. Noch wichtiger ist Zeile 134, wo es heißt, dass es im Paradies, also auf der anderen Existenzebene, möglich ist, wieder von neuem den Blick von der gespiegelten Wahrheit auf die ganze Wahrheit zu richten. Der dann angesprochene Blick auf das gesegnete Land erlaubt, alles so zu sehen, wie es ist, befreit.

Und zwar befreit von der falschen Ansicht der Empirie. Wichtig für das Resümee ist besonders der Satz das es im Paradies möglich ist, den Blick von der Spiegelung des Wahren abzuwenden und erneut das Wahre zu sehen: „renew“ und „mirrored truth“ sind die Schlüsseltermini. „Renew“ nimmt nämlich wieder den sokratischen Topos des Sicherinnerns an vorgeburtliches Wissen auf. „Mirrored truth“ ist eine Anspielung auf das Höhlengleichnis Platons. In der realen Welt, in der einzigen Welt an die der Materialist glaubt (glauben darf!), gibt es allenfalls Spiegelungen der Wahrheit und des wahren Seins zu sehen, ganz wie es in Platons Höhlengleichnis nur die Schatten der Dinge zu sehen gibt (514a – 515c). Die Möglichkeit „[to] see that all is as it is“, die besteht nur auf der zweiten Existenzebene. Und auch das, was man sieht – „all […] as it is, and yet made free“, ist eine Anspielung auf Platons Höhle, denn die Schau der Wahrheit ist nach Platon auch ein Akt der Befreiung.

IV

Was ist in ontologischer Hinsicht nun festzuhalten, nach diesem allzu schnellen Durchgang durch Mythopoeia? Mit der materiellen Weltsicht stimmt offensichtlich etwas nicht. Betrachtet man die Welt wie sie ist, so rührt einen aber etwas an („nerves that tingle touched by sound and light“ heißt es schon in Zeile 22). Damit wird ein Erkenntnisprozess in Bewegung gesetzt, der den Menschen auf eine zweite Existenzebene hinweist. Der Wert dieser zweiten Existenzebene besteht darin, so muss man zumindest aus der Kritik an der physischen Realität schließen, dass dort die Dinge erschienen wie sie wirklich sind. Insbesondere natürlich in allen Belangen von Gottes Existenz! Doch diese ebene kann man nicht betreten, zumindest als lebender Mensch nicht auf direkte, auf unvermittelte Weise. Aber Worte können diese Vermittlung übernehmen. Worte können eine Ahnung der Wahrheiten vermitteln. Und diese Ahnung wahrer Worte und Sachverhalte, die ist in den Mythen zu finden. Die werden aber auch und gerade 1931 nicht von Professoren in ihren vom Positivismus aufgeladenen Kreisen in Wien und in ihren Vorlesungen in Cambridge weitergegeben, sondern von den Dichtern, die sich auf die elbische Schöpferkraft besinnen und die beweisen, dass es weit mehr Dinge gibt, von denen man sprechen kann, als mancher moderne Philosoph sich vorzustellen in der Lage ist.

Was aber bedeutet das Gesagte in philosophischen Termini? Das ist ganz einfach auf den Punkt zu bringen: Die in Mythopoeia steckenden Ansichten und ihre Verbildlichung sind purer Platonismus! Das ganze Gedicht ist eine Art poetische Kürzestfassung der Erkenntnistheorie von Phaidon und Politeia. Mythopoeia ist sozusagen das Höhlengleichnis des romantischen Dichters. Denn nichts anderes findet sich in der platonischen Ideenlehre und Ontologie: die Überzeugung, dass die Erkenntnis im Licht zu finden ist, die Ansicht, dass wer nur in der materiellen Welt nach Erkenntnis sucht, auf eine Höhlenwand blickt, auf der er nichts anderes als die Schatten jener echten Dinge und Wesen zu erkennen vermag, die gleichzeitig hinter seinem Rücken das wahre Sein leben. Erst wenn der Mensch aufsteht und sich umdreht und die Höhle verlässt, ist er in der Lage, den Blick von den Schatten an der Wand zu wenden und „from mirrored truth the likeness of the True“ (Zeile 134) zu sehen. Nur ist es für Tolkien noch viel schlimmer als für Platon, denn Tolkien sieht die Menschheit nicht auf eine Wand schauen, sondern in einen Abgrund blicken: „I will not walk with you progressive apes, erect and sapient. Before them gapes the dark abyss to which that progress tends“ (Zeilen 120 -122).

Ja, ich höre schon die Einwände: ‘Aber er war doch Christ, gläubiger Katholik. Du hängst den Plato viel zu hoch in seinem Denken.’ Oder folgendes: ‘Es ist doch allgemein bekannt, dass Tolkien, besonders beim Verfassen von Mythopoeia, zutiefst unter dem Einfluss von Barfields Poetic Diction stand.’

Dazu kann ich nur sagen – das ist ja beides richtig.

Und sicherlich überwiegt der Glaube an die christlichen Lehren das philologische Wissen um die Spekulationen Platons. Barfields gnostisch angehauchte Anthroposophie hat Tolkien auch vielleicht emotional stärker berührt als das Buchwissen antiker Philosophen. Sicherlich hat ihm die tendentielle Verteufelung des Materiellen in der Anthroposophie affektiv näher gestanden als die unaufgeregte Ironie des Sokrates. Aber es ist doch so, dass man bei der Betrachtung von Theorien und Ansichten auf die Quellen schauen muss, um zu verstehen, um was es in den Theorien wirklich geht. Und die Quelle des gnostischen Denkens, die Quelle der anthroposophischen Lehren und der Ursprung des theoretischen Unterbaus der christlichen Theologie ist platonisch. In einem berühmten Ausspruch von Alfred North Whitehead heißt es, dass alle Philosophie nur Fußnote zu Platons Lehren sei. In einem gewissen Sinne stimmt das und die Philosophie in Mythopoeia legt Zeugnis davon ab.

(Frank Weinreich Bochum05/07)

 


 

1Die Widmung in den publizierten Fassungen trägt nur den Satz „to one who said” usw.; Carpenter berichtet aber von mindestens einem Manuskript, das zusätzlich den Vermerk „Für C.S.L.“ trug (Carpenter 1979, 170).
2 Vgl. zum Atombegriff bei Leukippos und Demokrit Capelle 1968 290 – 296 u. 396 – 405.