„Kämpfe!“ sagte Frodo. „Ja, ich vermute, es mag dazu kommen.“
(J.R.R. Tolkien, HdR, „Die Säuberung des Auenlandes“)


Gewalt in der Fantasy am Beispiel einer Inhaltsanalyse von „Der Herr der Ringe“

©Frank Weinreich

I

Die Fantasy ist ein gewalttätiges Genre, daran ist kaum zu rütteln. Es gibt Genre-Bücher und –Filme, die mit wenig oder ganz ohne Gewalt auskommen, aber die große Mehrzahl der Geschichten dreht sich um gewaltsam ausgetragene Konflikte. Dies gilt besonders für die Werke der High Fantasy und der Sword & Sorcery, die immer von gewaltsamen Konflikten erzählen, und zwar meist gleich auf dem Niveau von Kriegen und mit einer sehr, sehr großen Anzahl toter und verletzter Personen, seien das nun Menschen, Zwerge, Elfen, Drachen, Orks oder Dämonen.

Aber keine Genredefinition enthält die Gewalt als zentralen Definitionsbestandteil – was ja auch gut ist. Stattdessen wird Fantasy zu Recht als das Phantastische und als Überschreitung der Realität definiert. Zauber und eine aus dem beschriebenen oder gezeigten Zauber resultierende Verzauberung und Weltflucht der Leserinnen und Zuschauer stehen im Mittelpunkt von Fantasydefinitionen.

Trotzdem kommt die Fantasy so gut wie nie ohne Gewalt aus und ihr Publikum lässt sich durch die Gewalt unterhalten. Meist steht am Anfang einer Geschichte eine gewaltsame Bedrohung, oftmals sogar existenzieller Art für das Leben einer gesamten Welt, wie Mittelerde, oder einer Gesellschaft, wie die der Zauberer bei Harry Potter. Die Auflösung der Bedrohung geschieht üblicherweise ebenfalls auf gewaltsame Weise und auf dem Weg zu dieser Lösung reiht sich vielfach ein Kampf an den anderen.

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In manch dunklem Turm werden Ränke geschmiedet,
doch es ist nicht alles Gewalt in der Fantasy

Das liegt allerdings auch an der Natur des Geschichtenerzählens. Geschichten handeln von der Lösung von Konflikten. Wer versucht zu erzählen, wie man erfolgreich einen Garten bestellt, schreibt ein Sachbuch, wird aber als Geschichtenerzähler scheitern, weil man vom Erzähler einen Handlungsbogen erwartet, der von problematischen Ereignissen und ihren Lösungen erzählt. Erst wenn man spannend aufbereitet, was einem im Garten Problematisches passieren kann, erzählt man eine Geschichte, aber dann erzählt man auch schon wieder von Konflikten, und sei es nur von denen mit Wühlmäusen und Blattläusen.

Ein Handlungsbogen wird umso spannender, desto mehr in ihm auf dem Spiel steht und es steht immer dann viel auf dem Spiel, wenn es Bedrohungen gibt, besonders solche für Leib und Seele. Fantasy bietet die Möglichkeit, Konflikte auf Spitzen zu treiben, die in anderen Genres unmöglich sind. Fantasy bietet Zugriff auf das Übernatürliche. Fantasy kann damit Geschichten erzählen, in denen die Schöpfung selbst bedroht ist oder in denen das Böse einen absoluten Sieg zu erringen vermag, einen Sieg beispielsweise, der Körper und Seele der Verlierer in alle Ewigkeiten verdammt. Fantasy ist das Genre der unbegrenzten Möglichkeiten, das Genre der grenzenlosen Gedankenspiele. Und also auch das Genre der grenzenlosen Konflikte, und diese sind eben wahrhaft bedrohlich, wenn sie Gewaltsames enthalten.

Mühelos kann Fantasy den Preis von Gelingen und Scheitern in übermenschliche Höhen treiben und auf diesem Gipfel stehend das Verhalten ihrer Protagonisten beleuchten. Das Ausloten aller vorstellbaren gewalttätigen Vorkommnisse ist dabei eine bewusst eingesetzte Funktion von Fantasy, denn in den extremeren Bereichen von Scheitern oder Gelingen geht es nicht ohne Gewalt. Der Preis wäre auf der Ebene der existenziellen Ebene der Abenteuer einfach nicht hoch genug, wenn es nicht auch um Gewalt ginge.

Und wenn man über das Erzählen nachdenkt, darf man auch nicht vergessen, dass Gewalt unterhaltend ist. Man kann das bedauern, aber die Menschheit hat sich immer schon mit Gewaltdarstellungen unterhalten lassen und wir können schon froh sein, wenn wenigstens die Zeit der Gladiatorenkämpfe nicht wieder kommt. Oder ist sie das schon?

Die ältesten Überlieferungen der Menschheit sind Mythen, und die berichten auch meist von gewaltsamen Ereignissen. Zwar war der Mythos nicht primär unterhaltend, sondern hatte die Funktion, einem die Welt zu erklären, aber die Aufmerksamkeit, die der Mythos erregt, liegt auch daran, dass er spannend erzählt und dass Gewalt unterhält. Und auch heute, nach Aufklärung und Friedensforschung, unterhält Gewalt immer noch. Ich habe beispielsweise nie einen friedfertigeren Menschen als meine Mutter erlebt, die in meiner Kindheit nach Kräften dagegen hielt, wenn ich Indianer, Ritter, Jäger oder ähnliches spielte, um mir klar zu machen, was Gewalt wirklich anrichtet. Aber auch meine Mutter wusste den gepflegten Mord bei Agatha Christie und Alfred Hitchcock zu schätzen.

Fiktionale Gewalt ist vielleicht nicht für alle Menschen unterhaltend, aber sicherlich für die allermeisten. Und es ist meines Erachtens auch nichts daran auszusetzen. Die soziobiologischen Grundlagen der menschlichen Existenz sind eben so, dass wir aggressivitäts- und gewaltfähig sind und es gäbe uns Menschen nicht, wenn es nicht so wäre. Es geht darum, mit diesem Faktum umzugehen. Fiktionale Gewalt in Krimi, Thriller oder Fantasy entspannt einerseits, erlaubt eventuell sogar eine gewisse Abfuhr des Gewalttriebes andererseits und führt drittens in den besten Fällen die schlimmen Auswirkungen von Gewalt vor Augen, ohne dass wirkliche Schädigungen begangen werden. Erich Maria Remarque lässt in „Im Westen nichts Neues“ tausende Teilnehmer des ersten Weltkrieges erneut ‚sterben’, und vermittelt dadurch wenigstens eine Ahnung vom Krieg, die die Leser abschreckt und vielleicht ein kleines bisschen friedlicher macht. Und ein Buch wie „Der Herr der Ringe“ führt die Schrecken absoluter Unterdrückung märchenhaft vor Augen und lässt manche Leserin, manchen Leser mit einem nachdenklicheren Blick auf die reale Unterdrückung und echten Völkermord zurück.

In der Kritik von Fantasy wird jedoch eher problematisiert, welche Auswirkungen die Gewaltdarstellungen haben. Und immer geht es dabei darum, ob diese Gewaltdarstellungen das Publikum gegenüber echter Gewalt abstumpfen lassen oder sie sogar dazu animieren, selbst Gewalt einzusetzen. Die Gefahren, so nimmt man an, werden dabei größer, je grafischer die Gewaltdarstellung ist und je weiter man als Publikum in das Geschehen hineingezogen wird: Filme sind schlimmer als Bücher – wo die eigene Phantasie noch alle Gewaltdarstellung leisten muss – und (Computer-)Spiele sind schlimmer als Filme, weil man dort selbst aktiv wird und verwundet und tötet.

Aber auch das Buch ist so gesehen eine Gefahr. Ein uraltes Sprichwort besagt, dass die Feder mächtiger ist als das Schwert. Schon das Buch kann also an Gewalt gewöhnen, zur Gewaltanwendung auffordern und Gewalt legitimieren, wie gerade Hetzschriften aus dem letzten Jahrhundert beweisen. Und auch die literarische Feder ist machtvoll und hat Einfluss, auf den Zeitgeist ebenso wie auf die individuelle Psyche. Fantasyliteratur könnte also auch schon in Buchform an Gewalt gewöhnen und für die Probleme gewalttätiger Handlungen desensibilisieren. Und sei es nur, weil Gewalt in der Fantasy so allgegenwärtig ist.

Dies ist zumindest ein Punkt, der mir in persönlichen Gesprächen über meine abseitige Neigung zur phantastischen Literatur immer wieder mehr oder weniger deutlich begegnet. Und so, beispielsweise direkt nach einem bestimmten Buch gefragt, vielleicht George R.R. Martins „Lied von Eis und Feuer“, fallen mir auch zuerst die ganzen Konflikte, Intrigen (eine Intrige ist auch Gewalt!) und Kriege ein. Erst im zweiten Gedankengang kommen die Komplexität der Charaktere, die phantasievoll ausgestaltete Welt und die brillanten Charakterzeichnungen wieder in den Sinn. Die Gewalt ist doch schon ziemlich überwältigend in der Fantasy …

Und dann geht ein Kritiker daher und behauptet von der prototypischsten Fantasygeschichte überhaupt, dass es dort überhaupt nicht auf Gewalt ankäme. Matthew Dickerson sagt über J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“: „Das sind die Dinge, die in dieser Geschichte wirklich wichtig sind – Freunde, das Licht der Sonne, Gras und Bäume; das und nicht Kriege und Schlachten ist der Stoff, aus dem das Leben ist, das ist, was wirklich zählt“ (Dickerson 2003, 27). Dickerson behauptet im Weiteren immer wieder, dass Tolkien sehr zurückhaltend mit Beschreibungen von Kämpfen, Krieg und Schlachten umgehe und gibt entsprechende Beispiele (vgl. 23, 33, 88 und öfter). Stimmt das? Tolkien kenne ich viel besser als Martin, und doch denke ich zuerst an Sauron, Orks und die Schlacht auf dem Pelennor, bevor mir der ganze Reichtum Mittelerdes wieder vor Augen steht. Zudem wird gerade das Buch „Der Herr der Ringe“ stark überlagert von den visuellen Eindrücken der Verfilmung Peter Jacksons. Zumindest mir geht das so. Und Jackson setzt ja bekanntlich ganz eindeutige Schwerpunkte.

Das alles brachte mich dazu, einmal wenigstens der Sache mit der Gewalt richtig auf den Grund gehen zu wollen. Einmal wollte ich wenigstens wissen, wie viel Gewalt wirklich in einem Fantasywerk drinsteckt. Also habe ich mir „Der Herr der Ringe“ vorgenommen und Wort für Wort gezählt, wie oft Gewalt beschrieben oder erwähnt wird.

 

II

Gewalt ist ein in der soziologischen und psychologischen Forschung sehr weit gefasster Begriff, zu dem Aspekte gehören, an die man vielleicht nicht so schnell denkt. Arm zu sein ist in entwickelten Staaten beispielsweise auch eine gewalttätige Situation, denn hier ist man Opfer struktureller Gewalt, weil man nicht in angemessener Weise am Gesellschaftsleben teilzunehmen imstande ist. Doch diesen und viele andere Aspekte habe ich außen vorgelassen. Es geht mir um die Gewalt, gegenüber der man angeblich durch Medienkonsum abstumpft oder zu der man dadurch sogar aufgestachelt wird – zentral sind also Krieg, Folter, Mord, Bedrohungen und was dazugehört. Als Grundlage eines Kategoriensystems von Gewalt in „Der Herr der Ringe“ wählte ich die Gewaltdefinition der Weltgesundheitsorganisation:
„Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von physischer Kraft oder Macht, angedroht oder verwirklicht, gegen die eigene Person, gegenüber anderen oder einer Gruppe anderer Personen, die Verletzungen, Tod, psychologische Schäden, Fehlentwicklungen, Vernachlässigungen oder Benachteiligungen bewirkt oder wahrscheinlich macht.“
Gewalt ist demgemäß etwas, das sich interpersonell abspielt und folgende Formen annehmen kann:

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(Abb. 1: Typologie der Gewalt nach WHO 2009)

Um die Gewalt wie auch die Nicht-Gewalt im Buch zählen zu können, habe ich ein Kategoriensystem entwickelt, das auf die besonderen Verhältnisse von Fantasyliteratur zugeschnitten ist. So enthält es beispielsweise magisch ausgeübte Gewalt oder differenziert zwischen verschiedenen Formen des Berichtens über Gewalt in Form von Poesie, Geschichtsschreibung und Erzählung – das sind Punkte, die üblicherweise nicht notwendig sind für herkömmliche Kategoriensysteme.

Die Hauptkategorien waren gewaltfreie Inhalte (non-violence), Zwischenbereiche (inbetween) und drittens Gewalt enthaltende Inhalte (Violence; vgl. Abb. 2):

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Abb. 2: Kategoriensystem, Basis

Diese Hauptkategorien wurden in bedeutungsvollere Sub-Kategorien geteilt, die wiederum weiter unterteilt wurden. so wurde Gewalt in den Bereich indirekter und direkter Gewalt geteilt und Gewaltfreiheit in Beschreibungen und Interaktionen.

Der Bereich gewaltfreier Inhalte wurde für die Beschreibungen gemäß Abb. 3 und für die Interaktionen gemäß Abb. 4 unterteilt. Beschreibungen enthalten sowohl die normalen Landschafts- und Reisebeschreibungen als auch die Geschichtsschreibung, Berichte verschiedener Art und Lieder und Gedichte – soweit sie jeweils gewaltfrei sind. Unter Interaktionen fallen alle möglichen Darstellungen von Personen, die miteinander etwas tun; in den meisten Fällen sind dies Gespräche verschiedenster Art. Besonders wichtig ist die Kategorie „miscellaneous talk“, man könnte dazu auch Small Talk sagen, die sehr häufig vorkommt und weniger dazu dient, die Story voranzutreiben, sondern vielmehr die Charaktere in ihrem Tun und Verhalten untereinander beschreibt. Diese Abschnitte sind es, die die Protagonisten für den Leser besonders gut erfahrbar machen und die so eine Verbindung zwischen Leser und Buch aufbauen.

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Abb. 3: Beschreibungen, gewaltfrei

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Abb. 4: Interaktionen, gewaltfrei

„Inbetween“, also „Dazwischen“, ist eine Kategorie, die prinzipiell gewaltfrei ist. Hier werden unheimliche oder spannende Ereignisse berichtet, ohne dass es zum Gewalteinsatz kommt. Etwa der, anders als im Film, zwar unheimliche und spannende Weg auf den Pfaden der Toten oder einige Teile der Beschreibung des Weges von Frodo und Sam durch Mordor. Auch Unfälle können dazu gehören. Insofern hier meist die Erwartung gewalthaltiger Ereignisse geschürt wird – allerdings bei Weitem nicht immer eingelöst wird -, könnte man sagen, dass diese Kategorie eben nicht völlig gewaltfrei ist. Mit guten Gründen kann man sie aber auch dem gewaltfreien Block zuschlagen. Ich lasse dies für den Augenblick offen. Entscheiden Sie für sich selbst.

 

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Abb. 5: „Inbetween“, die Kategorie zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit

Die Gewalt wurde in die indirekte Darstellung und die direkte Darstellung von Gewalt geteilt. Indirekte Gewaltdarstellungen, wie ein trockener Bericht über den Ausgang einer Schacht – etwa der um Osgiliath -, von der nur das Ereignis und dessen Ausgang berichtet wird, sind in Hinsicht auf die Medienwirkung von direkten Gewaltdarstellungen zu unterscheiden, da die potenziellen Wirkungen wie Triebabfuhr, Gewöhnung, Aufstachelung hier nur sehr gering ausfallen. Wenn die mediale Darstellung von Gewalt so wirkt wie angenommen, dann aber kaum bei indirekter Gewaltdarstellung.

Indirekte Gewalt kommt besonders deutlich in der Geschichtsschreibung zum Ausdruck, wo die an Kriegen reiche Geschichte Mittelerdes erwähnt wird, aber hauptsächlich in Form abstrakter Berichtung der Ergebnisse, weniger oft als (poetischer) Schlachtenbericht. Wo solche lebhaften Berichte vorkommen, wurden sie der direkten Gewaltdarstellung zugeschlagen. In diesen Bereich gehören auch Rassismus (den findet man etwa zwischen Elben und Zwergen, aber auch zwischen Ork-Stämmen), die Vorbereitung von Kämpfen, Strategieüberlegungen und die sehr wichtige Kategorie „after violence“, die von den Ereignissen nach Kämpfen berichtet. Wichtig ist sie, weil hier die Folgen militärischer Gewalt wie Sterben, fliehen, Verwundung usw. gezeigt werden, die eher dazu geeignet sind gegen den Einsatz von Gewalt zu sprechen, so wie es die Antikriegsfilme beispielsweise auch tun.

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Abb. 6: Indirekte Gewalt

 

Direkte Gewaltdarstellungen umfassen hauptsächlich die klassischen Kampf- und Kriegshandlungen. Aber auch Prügeleien oder die graphische Darstellung von Gewalt in Liedern und Gedichten gehören hier hinein sowie Folter und Misshandlung, auch verbal. Da es Magie in Mittelerde gibt, und diese teilweise gewaltsam eingesetzt wird, wurden auch magische Angriffe hierzu gezählt, was das Ergebnis hinsichtlich der Brisanz von Gewaltdarstellung manchmal relativiert. Denn so musste auch das Kapitel „Sarumans Stimme“ in weiten Teilen hier mitgezählt werden, da Saruman dort einen magischen Angriff versucht, indem er Gandalf und Théoden durch Magie auf seine Seite bringen will. Das ist direkte Gewalt, obwohl es ‚nur‘ ein Gespräch ist.

 

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Abb. 7: Direkte Gewaltdarstellung

In der Zusammenschau ergibt sich ein differenziertes Kategoriensystem gemäß Abbildung 8. Dieses System könnte ohne oder mit geringen Modifikationen auch auf andere Erzeugnisse des Genres (also neben Buch auch Film und Spiel) angewandt werden, wozu ich ausdrücklich ermuntern möchte. (Wenn es vorher keiner macht, werde ich das bspw. 2011 für die Verfilmung Jackson unternehmen.)

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Abb. 8: Überblick des Kategoriensystems

Das gegebene Kategoriensystem wurde einer Peer-Review unterzogen und gemäß der Anmerkungen der Peers revidiert. Intercoder-Reliabilität wurde mit .77 gemessen, ein Vertrauen erweckender Wert. Die Kodierung des Gesamttextes unternahm ich allerdings allein, so dass hier eine gewisse Unsicherheit der Reliabilität der Ergebnisse vorliegt. Das Datenmaterial ist jedoch hier auf der Site veröffentlicht und ist damit der Kontrolle zugänglich. Wenn Sie Interesse haben sollten die Analyse nachzuvollziehen, schlage ich vor, dass Sie den Text in gleicher Weise vorbereiten wie im nächsten Absatz beschrieben, denn aus Urheberrechtsgründen kann ich den natürlich hier nicht veröffentlichen.

Für die Datenerhebung wurde der Text eingescannt, mit einem OCR-Programm eingelesen und in ein einheitliches Format gebracht (53 Zeichen Zeilenlänge, ungefähr 50 Zeilen pro Seite [das ist aber egal, wegen der Zeilennummerierung], Zeilennummerierung kapitelweise). Das Kapitel „Über Hobbits“ und die Anhänge wurden von der Analyse ausgeschlossen, da sie nicht zur eigentlichen Story „Der Herr der Ringe“ gehören. So blieben 2.5 Millionen Zeichen inklusive Leerzeichen für die Analyse übrig; 25.000 Zeichen machen also 1 Prozent des Textes aus. ein Problem bestand in der unzuverlässigen Zeichenzählungsfunktion von Word. Das Programm kalkuliert mit einer Fehlermarge von 0.005 bis 0.05 Prozent und kommt zu anderen Zeichenanzahlen jedes Mal, wenn die Datei neu geöffnet wird. Das ist ärgerlich, aber statistisch nicht signifikant. Nur wundern Sie sich nicht, wenn Sie bei eigenen Analysen auf ganz leicht differierende Zeichenzählungen stoßen. Ein Test mit OpenOffice ergab aber ähnliche Schwankungen.

Und so sah der Text dann aus:

 

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Abb. 9: Textbeispiel aus „Die Zwei Türme“

Das war eine nicht unbedingt angenehme Art und Weise der Lektüre, ich freue mich schon auf das nächste Mal, wenn ich den Ring wieder ‚richtig‘ lesen kann. Die Ergebnisse der Zählungen wurden in eine Excel-Tabelle eingetragen, eben jene, die oben verlinkt ist.

III

Ergebnisse

Die Hauptergebnisse stellen sich wie folgt dar:

 

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Abb. 10: Basisdaten

 

 

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Abb. 11: Basisdaten, Diagramm

Im Folgenden kommen noch einige interessante Punkte, die ich gerne herausheben möchte. Ansonsten wäre natürlich noch ganz viel zu analysieren. So könnte man etwa mit den vorliegenden Daten über das ganze Buch hinweg die Erzählweise hinsichtlich der Ereignisabfolgen und klimaktischer Struktur beschreiben, um darzustellen, wie Tolkien seine Geschichte genau erzählt. Denken Sie mal drüber nach, etwa, wenn Sie ein Abschlussarbeit zu schreiben haben … oder Professorin sind, die ein Literaturseminar ‚zu unterhalten‘ hat …

Einige interessante Punkte
Beschreibungen von Landschaften, Architektur, Geschichte, den Reisewegen und der auf den Reisen beschriebenen gewaltfreien Ereignissen machen ein Drittel des Textes aus. Das ist ein Anhalt dafür, wie intensiv die Welt Mittelerde ausgestaltet ist – sowohl hinsichtlich ihrer Geographie als auch hinsichtlich ihrer Geschichte. Das Miterleben einer Geschichte, die in einer anderen Welt als der eigenen spielt ist nur möglich, wenn sie so dargestellt wird, dass man sich gedanklich in sie hineinversetzen kann. Der bloße Anteil von Beschreibungen sagt noch nichts über die Qualität derselben aus, zeigt aber die Sorgfalt, die Tolkien darauf verwendet hat. Nimmt man dazu den enormen Erfolg des Buches, so kann diese Masse an Beschreibungen nicht so sehr langweilig sein, denn sonst würde das Buch nicht so häufig gelesen werden.

Das gleiche gilt für die vielfachen gewaltfreien Interaktionen, die ein weiteres Drittel des Buches ausmachen. Mehr als die Hälfte dieser Interaktionen sind zudem Beschreibungen der Art und Weise wie miteinander umgegangen wird. Beratschlagungen und die Diskussion spezifischer Themen nehmen weniger Raum ein. Das zeigt welchen Wert Tolkien auf die Darstellung seiner Protagonisten legt, denn deren Charakter kommt in diesen Interaktionsdarstellungen besonders zum Tragen. Auch hier sagt die bloße Anzahl nichts über die Qualität der Gesprächsdarstellungen aus, aber wiederum zeigt die bloße Masse in Verbindung mit dem Publikumserfolg, dass das offensichtlich ankommt. Zusammengenommen haben wir im Bereich gewaltfreier Inhalte mehr als 600 Seiten eines 1 000-Seiten-Buches. Das tun sich nicht Millionen von Lesern an, wenn es langweilig ist.

Auch der Zwischenbereich von 12 % Textanteil enthält keine echten Gewaltdarstellungen. Allerdings erzeugt er immer eine Atmosphäre der Spannung und der Erwartung kommender Konflikte. Man kann also argumentieren, dass dieser Anteil nicht völlig gewaltfrei ist. In Bezug auf die Grundannahmen der Gewaltkritik in den Medien, also die Gefahren, dass Gewaltdarstellungen abstumpfen oder animierend wirken, kann man allerdings eine derartige Gefahr ausschließen. Der sogenannte Zwischenbereich ist einfach zu harmlos dafür.

Die Gewaltdarstellung wurde in indirekte und direkte Gewalt eingeteilt. Indirekt berichtete Gewalt ist in Bezug auf Abstumpfung oder Animation weniger wirksam als die plastische Beschreibung gewalttätigen Verhaltens – das Abschlagen von Köpfen, die Folterung Gefangener usw. Die zurückhaltende Art der Gewaltbehandlung durch trockenen Bericht dominiert aber vor der direkten Darstellung mit 12 zu 8 Prozent. Insbesondere wählt Tolkien oft den trockenen Bericht eines gewaltsamen Ereignisses, anstatt es unmittelbar zu beschreiben. Ein Beispiel ist die Eroberung Osgiliaths durch die bösen Truppen. Man erfährt als Leser nur, dass es passiert ist und dass der Feind jetzt diese wichtige Stadt hält. Der Regisseur Peter Jackson zeigt diesen Kampf demgegenüber in einer ausführlichen Filmsequenz. Das gleiche gilt für die Beschreibung der Ereignisse auf den Pfaden der Toten. Bei Tolkien wird eine große Gefahr angekündigt, aber es zeigt sich schnell, dass König Aragorn nicht betroffen ist vom Zorn der Toten. Jackson macht daraus eine Horrorepisode mit frei erfundenem Kampfgeschehen. Dickerson liegt nicht so ganz falsch mit seiner Annahme einer zurückhaltenden Gewaltdarstellung.

Ein weiterer Punkt ist bei der Betrachtung der indirekten Gewaltdarstellung wichtig und das ist die Kategorie von Geschehnissen nach einem Kampf. Diese nimmt mehr als 20 Prozent der gesamten Gewaltdarstellungen ein und besteht ihrerseits zu zwei Dritteln aus Beschreibungen des Leids, das in Folge von Gewaltanwendung auftritt. Diese Kategorie besteht damit größtenteils aus Gewaltdarstellungen, die gegen den Einsatz von Gewalt sprechen; im Film würde man von Antikkriegsfilm sprechen und die Medienkritik würde es als pädagogisch wertvoll loben.

Die verbleibenden 8 Prozent akuter und detaillierter Gewaltdarstellung sind relativ unmissverständlich und unterliegen allen Bedenken, die die mediale Gewaltforschung gegen sie aufbringt. Allerdings wurden aus Gründen der Eindeutigkeit auch Geschehnisse in dieser Kategorie mitgezählt, die wenig Sorgen aufgrund ihres potenziellen Einflusses hervorrufen dürften. So ist beispielsweise die versuchte rein verbale Einflussnahme Sarumans auf Theoden und Gandalf ein magisch verstärkter Angriff und wurde als akute Gewaltdarstellung gewertet. Man könnte in Hinsicht auf die Gefahr von Gewaltdarstellungen also noch einige Abstriche vornehmen, die ich bisher nur unterlassen habe, um dem Vorwurf des Schönredens wenig Material zu bieten.

Des Weiteren lassen sich die Gewaltdarstellungen aber auch differenzieren in solche die das Leiden an Gewalt in den Vordergrund stellen, wie es auch die Antikriegsfilme täten, und in solche, die heroisches Verhalten in die Mitte stellen. Nimmt man nur die Kriegshandlungen und Schlachten heraus erhält man einen Anteil von nur noch 6 Prozent akuter Gewaltdarstellung. Zwei Drittel davon betonen heroistisches Verhalten, ein Drittel das Leiden, zeigen also den Antikriegsfilm-Effekt.

Nicht zu bestreiten ist, dass in „Der Herr der Ringe“ eindeutige Gewaltdarstellungen zu finden sind und dass damit teilweise auch Glorifizierungen von Mut und Opferbereitschaft einhergehen, die politisch wie sozial bedenklich sein könnten. Diese nehmen allerdings nur 4 Prozent des Gesamttextes ein und ob sie bedenklich sind, ist eine Frage der Interpretation und entzieht sich einer objektiven Stellungnahme.

IV

„Der Herr der Ringe“ ist sozusagen das role-model für die Fantasy. Tom Shippey schrieb sogar, dass Tolkien mit diesem Buch das Genre der modernen Fantasy geschaffen habe. Wenn man die Ringtrilogie als derart beispielgebend ansieht, so deuten die reinen Zahlen keinesfalls darauf hin, dass Fantasy gewaltverherrlichend ist. Aber dieser Schluss ist falsch, denn die Analyse von „Der Herr der Ringe“ sagt überhaupt nichts über das restliche Genre aus. Peter Jacksons Beispiel allein zeigt schon, dass Fantasy, selbst da wo sie die prinzipiell gleiche Geschichte erzählt, ganz anders gewichten kann: Ich habe die Gewalt in den Filmen noch nicht gezählt, aber sie dürfte weit über dem Buch liegen. Was dringend nötig wäre, um das Thema Gewalt in der Fantasy besser beurteilen zu können wären Analysen weiterer Werke.

Was man aber schon aufgrund dieses einen Beispiels sagen kann, ist, dass jegliches Pauschalurteil über Gewalt in der Fantasy falsch ist und dass auch eine Verurteilung des Genres innerhalb des Kanons fiktionaler Stoffe falsch wäre. Die Analyse beschäftigte sich mit dem wichtigsten Buch des Genres und zeigte, dass die Gewaltdarstellung rein quantitativ nicht über der anderer Erzählungen und Geschichten liegt. Ein klassischer Krimi aus der Feder Agatha Christies oder Arthur Conan Doyles dürfte kaum weniger Gewalt enthalten als die Ringtrilogie. Hinsichtlich der indirekten Gewalt dürfte er sich sogar weit darüber bewegen, denn ein Großteil der Handlung dreht sich um die kurz dargestellten Gewaltverbrechen.

Was fehlt ist, wie gesagt, die Analyse weiterer Fantasy, insbesondere der modernen Fantasy, die aufgrund geänderter Erzählgewohnheiten wahrscheinlich schon deutlich gewalttätiger sein wird. Erst kürzlich sprach ich mit dem Autoren und Lektoren Dr. Helmut Pesch darüber, der mir das aus der Verlagspraxis eindeutig bestätigte. Aber auch hier käme es auf belastbare Zahlen an. Und dann müsste das Gezählte noch beurteilt werden, denn vielleicht verurteilt es Gewalt ja auch durch die Art der Darstellung und schreckt ab.

 

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Ein typischer Fantasy-Protagonist,

das muss halt sein …

Gewalt ist unterhaltend, die Aussage stimmt, auch wenn sie unangenehm wirkt. Es liegt in der Natur des Menschen, sich von Gewaltdarstellungen unterhalten zu lassen und die wird sich nicht ändern oder wir hätten es mit einer anderen Art von Mensch zu tun und wer weiß, ob es wirklich erstrebenswert wäre, eine andere Art von Mensch zu werden.

Solange man sich jedoch nicht durch echte Gewalt unterhalten fühlt, sondern nur durch fiktionale Gewalt, nimmt zumindest niemand realen Schaden. Und ob die dargestellte Gewalt bei Publikum und Leserschaft zu Schädigungen führt, ist zumindest bei derart restriktiver Gewaltdarstellung wie im Buch „Der Herr der Ringe“ stark bezweifelbar. Vielleicht überwiegt ja sogar die abschreckende Wirkung.

Gewalt in der Fantasy kann ein Problem sein, das soll angesichts mancher Filme und vieler Computerspiele gar nicht bestritten werden. Aber erst eine differenzierte Betrachtung lässt dem Genre Gerechtigkeit widerfahren. Und manchmal muss man sich dafür etwas quälen und lange, lange zählen.

Bochum 07/09