Eine andere Besucherin fragte, was mich an Tolkien fasziniert:

Die Geschichten natürlich – aber eine weitere Besucherin fragte noch etwas detaillerter nach und ich antwortete ihr mit dieser Mail:

Hallo,

das ist gar nich so leicht zu beantworten. Es sind zunächst vier Fragen, die mich bei seiner Lektüre bewegen:

 

1. Was fasziniert dich denn so an Tolkiens Werken (besonders Herr der Ringe?)

Ich nehme an, dass Du damit meine persoenliche Einstellung meinst, deshalb eine persoenliche Antwort.

Ich liebe das literarische Genre Fantasy. Ich finde es toll, sich phantastische Welten vorzustellen, die eine eigene Geschichte haben, auf denen es Magie gibt, die eine anders geartete Flora und Fauna haben und wo es mehr Wesen gibt, die mit Vernunft und Bewusstsein begabt sind als nur die Menschen. Und ich liebe spannende und gut erzaehlte Geschichten. So lese ich beispielsweise sehr gerne gute Krimis wie die von Henning Mankell oder gute Geschichtsromane wie etwa “Sarum”, das die Geschichte Suedenglands von der Steinzeit bis heute erzaehlt. Manchmal – ganz selten – kommt dann Alles zusammen, die spannende Geschichte, die phantastische und durchdachte (und dadurch erst lebendig werdende) Welt und die Erzaehlkunst.

Beim “Herrn der Ringe” ist das zusammengekommen. Ich glaube dass kein Autor neben JRRT so intensiv an seiner eigenen Welt gearbeitet hat – und das liest man auf jeder einzelnen Seite. Ich will ihn damit nicht zu einem literarischen Uebervater machen. Sicher haben Leute wie Kafka oder Nietzsche haerter am literarischen Gehalt ihrer Buecher gearbeitet (und sicherlich auch mehr dran gelitten), auch gibt es Erzaehler die mindestens genausogut schreiben konnten und ganz sicher hat Mittelerde nicht annaehernd so viel zu geben wie Buecher, die sich mit dem echten Menschen und seiner Welt befassen und in ihr versuchen Erklaerung, Halt und Rat zu geben – nein, ein Lenz, Grass oder Fontane ist Tolkien nicht. Was ich meine bezieht sich allein auf den “Schoepfungsakt” der Erfindung Mittelerdes (ich nehme an Du hast den entsprechenden Beitrag zu Tolkiens Begriff von der Zweitschoepfung auf meinen Seiten gelesen – sonst schau da mal nach, wenn Dir der Begriff Schoepfungsakt in diesem Zusammenhang merkwuerdig vorkommt).

Kein anderer Autor hat seine ‘Welt’ so intensiv, stringent und umfassend geschaffen. Tad Williams – ein anderer wirklich guter Fantasyautor (s. auch den Lesetipp von November 2001 auf meinen Seiten) – hat einmal gesagt: “Es war dieser Eindruck von Wirklichkeit, was Mittelerde so überwältigend machte – nicht ein gemütliches “stellen wir uns mal vor”, […] sondern das sichere Gefühl, etwas so Gewaltiges, Altes, Komplexes mußte auf irgendeine Weise real sein. Natürlich war es real.” Tolkien selbst hat als Voraussetzung fuer den Genuss phantastischer Geschichten zurecht behauptet, dass man sich bewusst darauf einlassen muss, waehrend der Lektuere daran zu glauben, dass das Gelesene wahr ist (er formulierte es mit Coleridge negativ: “willing suspension of disbelief”). Wenn man das tut und wenn die Geschichte und ihr Hintergrund gut sind, dann werden Geschichten wirklich real wie Williams behauptet. Tolkien ist nicht der Einzige, der das kann – aber es sind nur sehr wenige – Williams zum Beispiel mit dem Otherland-Zyklus aber auch Rowlings´ Harry Potter gehoert dazu. Und das fasziniert mich an JRRT: Fuer den Augenblick der Lektuere ist Mittelerde real, auch noch beim zehnten Mal.

2. Was glaubst du, macht sie für so viele interessant?

Zunaechst die spannende Geschichte, die so toll erzaehlt wird. Mittelerde kann man geniessen ohne all die Hintergrundinformationen, die die Fans so zusammengetragen haben. Wahrscheinlich ist es die perfekte Umsetzung des Grundmotivs David (Hobbits) gegen Goliath (Sauron), die den Menschen dabei anspricht. Die Hobbits sind identifikationsfaehig. Ihre Tapferkeit entsteht aus ihrer Loyalitaet – das kann man sich fuer sich selbst auch vorstellen. Wie Conan zu sein ist da doch sehr viel unrealistischer. Und dann trifft in mehr oder weniger starkem Masse auch all das zu, das ich unter Deiner ersten Frage geantwortet habe: die Qualitaet der Kreation und ihrer Realisierung. Es ist das Gleiche das auch Harry Potter solchen Erfolg beschert.

3. Glaubst du, es liegt an der Verfilmung, dass Herr der Ringe in den Bestseller Top 10 erscheint?

Ja, zweifellos. Die Buecher haben sich ueber Jahrzehnte immer bestaendig gut verkauft, aber eben nicht so, dass sie die jeweils aktuellen Hits erreicht haetten. Dass sie jetzt ganz nach oben gekommen sind, liegt allein an dem Hype um den Film. Aber das finde ich gut – ich liebe es naemlich auch, wenn die Leute gute Buecher lesen!

4. Was glaubst du, macht Herr der Ringe zu einem solchen Longseller? Wieso fesselt es nach all den Jahren der ersten Veröffentlichung immer noch so viele Menschen?

Na das unter unter 1. und 2. schon benannte. Aber ich werde langweilig, nicht wahr? Zum Aspekt des Longselling kommt aber noch was dazu. Und das ist der Wunsch des Menschen nach kleinen Fluchten in die Phantasie. Die hat es immer schon gegeben. Selbst Homer schrieb nicht nur zum Ruhme der Goetter, sondern auch um mit Phantastischem zu unterhalten. Innerhalb einer Generation dauert es schon einige Zeit, bis ein Buch weit verbreitet ist. Mittelerde ist aber unabhaengig von Moden und Zeitgeist attraktiv, so dass alle zehn oder zwanzig Jahre ein neues Publikum heranwaechst. Der “Wind in den Weiden” oder “Alice im Wunderland” faszinieren seit ueber hundert Jahren – Mittelerde wird es aehnlich ergehen.


 

Tolkien selbst hat allerdings eine eigene Erklaerung dafuer, warum fairy-stories wie die vom “Herrn der Ringe” ein zutiefst menschliches Interesse ansprechen. Im Dezember erscheint ein kleines Buch von mir, dass sich mit Mittelerde beschaeftigt. Unter anderem erklaere ich da auch Tolkiens Sicht der Funktion von fairy-stories. Aus diesem Buch sind die folgenden Zitate:

“Fantasy

Die Fantasie sieht Tolkien gewissermaßen als Eintrittskarte in die Welt der fairy-stories an. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass Fantasie nicht alleine vom Geschichtenerzähler verlangt wird, sondern eine notwendige Voraussetzung auch auf Seiten der Hörer und Leser darstellt. Der Handlungsfaden ist nur eine Art Richtschnur, an welcher der Erzähler sein Publikum entlang führt. Die geschilderten Welten und Erlebnisse spielen sich im Kopf jedes einzelnen Lesers oder Hörers individuell ab Fantasien aber, wie sie die fairy-stories initiieren, lassen jeden, der sich auf sie einlässt, dadurch auch selbst zum Zweitschöpfer werden. Zu schöpfen, etwas zu erschaffen, hält Tolkien für eine zutiefst menschliche Eigenschaft und für ein Bedürfnis, das erfüllt werden muss.

Recovery

Die Wiederherstellung, die Fairy-Stories dem Menschen gewähren, versteht Tolkien als ein Wiedererlangen eines klaren Blicks (regaining of a clear view; FS, p. 53) und beschreibt sie als ein Fensterputzen: So that the things seen clearly may be freed from the drab blur of triteness or familiarity – from possessiveness (FS, p. 53). Neben dem Putzeffekt erlaubt die Wiederherstellung auch einen neuen Blick auf Altbekanntes und ermöglicht es so, das Staunen wieder zu lernen, das wir als Erwachsene in der Routine unseres Lebens oft vergessen. Was dabei wieder hergestellt wird, ist das Staunen des Kindes über die neue Welt. Tolkien nähert sich damit stark einer alten philosophischen Position an, der des Griechen Sokrates (470-399 v. Chr.), der das Staunen als den Anfang aller Philosophie verstand. Die Wiederherstellung erwächst daraus, es zuzulassen, dass man sich durch die Erzählkunst verzaubern lässt. Der Schriftsteller G. K. Chesterton hat einmal gesagt, dass das Wort Mooreeffoc es einem ermögliche, sich zu vergegenwärtigen, dass England aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ein ganz anderes Land sein kann. Mooreeffoc sieht man in allen Städten und Dörfern Englands dutzende von Malen, man muss nur die Aufschrift Coffeeroom auf einer Glastür bewusst von innen lesen.

Escape

Tolkien unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Fluchten, die er als die Flucht des Deserteurs auf der einen Seite und die Flucht des Gefangenen auf der anderen Seite charakterisiert (FS, p. 56). Der Deserteur ist einfach nur ein Feigling, der weglaufen will – dem Gefangenen aber, kann man den Willen zur Flucht nicht übel nehmen: Why should a man be scorned, if, finding himself in prison, he tries to get out? (FS, p. 55). Die Flucht des Gefangenen ist mehr Widerstand, als Weglaufen. In eben diesem Sinne versteht Tolkien auch die Fluchtmöglichkeit, die fairy-stories bieten: Als eine Möglichkeit der Erfüllung von Sehnsüchten und Befriedigungen, die die primäre Welt nicht bieten kann.

Consolation

Trost wird dem Leser durch den glücklichen Ausgang gespendet, den Tolkien als notwendig ansieht: Jede fairy-story muss ein glückliches Ende haben (FS, p. 62). Dieser glückliche Ausgang, der also garantiert ist, tröstet durch seine Gnade (a sudden and miraculous grace; FS, p. 62). Keiner der Protagonisten konnte damit rechnen, dass sich alles doch noch zum Guten wenden würde. Der gute Ausgang ist eine Gnade der Erlösung aus den Gefahren und drohenden Katastrophen, die die Geschichte erzählte. Um diesen Punkt hervorzuheben, den er als die highest function (FS, p. 62) von fairy-stories ansieht, prägte Tolkien den Begriff Eukatastrophe (eucatastrophy). Das aus dem Griechischen stammende Wort Katastrophe wird dabei mit der ebenfalls griechischen Vorsilbe “eu” (gut, schön, wohl) verbunden und wendet den Begriff ins Positive. Eukatastrophe bedeutet also “gute Katastrophe” bzw. “gute Wendung”. Im literarischen Sinne ist die Eukatastrophe das Gegenteil der Tragödie (FS, p. 62) bzw. der tragischen Wendung.”

Ich hoffe, Du konntest etwas mit meinen Antworten anfangen.

ciao Frank

(Bochum, 10/01)