Frank Weinreich, Bochum im Oktober 2004

“Warum Tolkien lesen?”

Das kann man – mindestens – auf zwei Arten fragen.

Man kann zum Einen fragen, warum denn Tolkien gerade gelesen werden sollte – schließlich gibt es nun eine wirklich atemberaubende Verfilmung, die doch recht nahe am Buch ist und einem das Durchwühlen von mehr als tausend Seiten erspart. Zum Anderen kann man fragen, warum man denn nun ausgerechnet Tolkien lesen sollte. Wenn man denn nun schon liest – sollte es dann nicht echte, anerkannte Hochkultur sein wie Goethe, die Manns oder wenigstens Günter Grass?


 

I

Zunächst jedoch zurück zu der Frage:

Warum Tolkien lesen?

Ich möchte auf die Frage mit Blick auf einen bestimmten Schwerpunkt antworten: mit Blick auf die Beziehung zwischen dem Autoren und seinem Publikum. Es ist zwar fast schon ein Gemeinplatz, aber man muss trotzdem betonen, dass jegliche Literatur, so wie sie der Autor verstanden und dargeboten hat, nur durch Lektüre angemessen erfahrbar ist. Schon das Hörbuch drängt dem Hörer selbst dann einen eigenen Rhythmus auf, wenn der Text wortgetreu dargeboten wird, was oft nicht der Fall ist. Immer ist das vorgelesene Werk zudem auch Interpretation durch jemand Anderen, der mit Betonung, Sprachfarbe, Akzent und Tempo eigene Zeichen setzt (es sei denn, der Autor / die Autorin lesen selbst). Nur das Lesen erlaubt eine unvermittelte Interaktion mit dem Text und eine individuelle Aneignung des Textes, die von keinem Dritten unterbrochen wurde.

Viel mehr gilt dies natürlich für Visualisierungen wie im Falle Tolkiens etwa für die Bilder von John Howe und Anke Eissmann oder die Comicversion des Hobbit von David Wenzel. Hier wird dem Text das Bild übergestülpt und bestimmt ganz entscheidend die Bilder, die im Kopf entstehen. Der Zeichner interpretiert hier in sehr viel stärkerer Weise als der Leser.

Seinen Höhepunkt findet dieser Fremdinterpretationsprozess dann im Medium Film . Ich denke dabei gar nicht unbedingt an Peter Jackson und Tolkien, sondern finde in Baz Luhrmanns Verfilmung von Romeo und Julia (das ist die von ´96 mit Leonardo di Caprio und Claire Danes) ein noch schöneres Beispiel, denn hier ist ein spätmittelalterlicher Stoff in die Moderne transportiert worden und erlaubt oder erzwingt – je nachdem wie man nun sehen will – ein durch einen Mix aus modernen und alten Elementen recht eigenwilliges Erleben der Geschichte, das bei aller inhaltlichen Werktreue doch völlig von dem abweicht, was Shakespeare sich für die Bühne vorstellte. Die Visualisierung von Literatur in Filmform ist der stärkste Ausdruck von Fremdinterpretation, die sich zwischen den Autor und seinen Rezipienten stellen kann. Schon aus diesem Grund ist es immer empfehlenswert, Literatur auch wirklich zu lesen.

Mir geht es, aber auch um den spezifischen Inhalt und den spezifischen Stil, wenn ich dazu rate, Mittelerde lesend zu erkunden.

Wieso den Inhalt auch noch lesen, wenn Jackson ihn doch gut erfasst hat? Und das hat er wie ich finde – und wie ich gerne voranschicken möchte – getan: er hat den Inhalt in einer für das Medium Film wirklich guten Form behandelt. Sicher gibt es eine ganze Reihe von Dingen, die mich an der Verfilmung ärgern und unglücklicherweise wird die filmische Interpretation sogar immer weniger gut, je weiter die Filme voranschreiten. Aber alles in allem hätte man es im Vorhinein nicht besser planen können und das Drehbuch stellt eine schöne Auslegung des Originalstoffes dar. Ich hatte jedenfalls etwas viel Schlimmeres erwartet bevor ich den ersten Teil gesehen habe.

Die Frage Warum Tolkien lesen? wird aber sicherlich überzeugender beantwortet, wenn man sich die Geschichten ‘ansieht’, die Tolkien erzählt. Und dieses ‘Ansehen’ kann originär nur über die Lektüre geschehen, denn nur dann erschließt sich die Spezifizität von Inhalt und Stil, so wie Tolkien sie meinte und einsetzte. Liest man nicht selbst, so verliert sich die tolkiensche Perspektive und wird durch eine fremde Spezifizierung ersetzt, von der wir nur sagen können, dass John Howe sie so sieht, dass Anke Eissmann sie so sieht oder dass Peter Jackson sie so sieht. Das sind alles wunderbare Ansichten – aber das ist nicht mehr Tolkien im Original. Es ist natürlich völlig legitim, auf dieses Original verzichten zu wollen, nur finde ich persönlich, dass man sich da etwas entgehen lässt, von dem es zu schade ist, es nicht zu erkunden. Nicht mehr aber auch nicht weniger will ich mit der Frage Warum Tolkien lesen? beantworten.

Wirklich verstehen, was Mittelerde ist und was Tolkien mit seinem Kosmos Mittelerde erzählen möchte, kann man nur, wenn man sich auf die Bücher selbst einlässt. Denn die Worte, die die Welt erschaffen, die gehen beispielsweise bei der Verfilmung fast alle verloren. Das kann ja auch nicht anders sein, denn der Film erschafft Mittelerde in Bildern während das Buch mit den bloßen Worten ‘nur’ eine Vorlage liefert, auf der der Leser Mittelerde selbst entstehen lässt. Und es wäre, wie ich finde, schade, wenn man sich diese Vorlage entgehen ließe.

Wie subjektiv dieser Prozess kreativer Aneignung ist möchte ich an zwei Beispielen verdeutlichen: Personen und Landschaften.

 

Im Kapitel Many Meetings wird Arwen vorgestellt:

„Young she was and yet not so. The braids of her dark hair were touched by no frost, her white arms were flawless and smooth, and the light of stars was in her bright eyes, grey as a cloudless night: yet queenly she looked, and thought and knowledge were in her glance […] Such loveliness in living thing Frodo had never seen before nor imagined in his mind;“

(LotR I, 297, meine Hvhbg.).

Nichts gegen Liv Tyler – aber einen alles überragenden Liebreiz, größer als in jedem anderen Lebewesen, den wird ihr sicherlich nicht jeder zugestehen wollen. Eine dermaßen überwältigende Beschreibung, die kann nur mit individuellen Bildern gefüllt werden. Was Tolkien hier sagen möchte, dass dies nämlich die nach objektiven Maßstäben (zusammen mit Luthien) schönste Frau aller Zeitalter ist, das kann man nicht mit dem Bild einer bestimmten Schauspielerin transportieren und das kann man auch nicht in Öl oder Aquarell übersetzen, sondern allein denkend heraufbeschwören.

Neuseeland ist schon ein tolles Land – auch wenn ich es nie mit eigenen Augen gesehen habe. Tolkien hat natürlich eher an das vorindustrielle Europa gedacht als er die Landschaften Mittelerdes beschrieb. Dieses Europa hat doch wohl so ausgesehen wie viele Landstriche in Neuseeland heute noch aussehen und deshalb sind die Landschaftsaufnahmen in Jacksons Verfilmung auch sehr überzeugend. Aber wie hätte er die Höhlen von Aglarond inszenieren sollen? Gut, dass er es nicht getan hat, denn diese, eine meiner liebsten Stellen im HdR kann man, ganz ähnlich des überragenden Liebreizes Arwens, auch nur vor dem geistigen Auge sehen. Im Kapitel The Road to Isengart beschreibt Gimli Legolas die Höhlen von Aglarond, die er bei der Belagerung von Helms Klamm betreten hatte, Legolas aber nicht: „There are columns of white and saffron and dawn-rose, Legolas, fluted and twisted into dreamlike forms; […] Still lakes mirror them: a glimmering world looks up from dark pools covered with clear glass […] And plink! a silver drop falls, and the round wrinkles in the glass make all the towers bend and waver like weeds and corals in a grotto of the sea“ (LotR II, 188). Natürlich lässt sich so eine Beschreibung leichter in Bilder übersetzen als die der schönsten Person aller Zeitalter. Aber wie sehen „dreamlike forms“ aus? Für jeden anders, oder? Und doch passt dieser Ausdruck eines Traumgebildes wie ein Schlüssel in die realistischere Beschreibung von Farben, gläserner Oberfläche und Türmen – aber eben nur während der Lektüre, denn Bild und Film müssten auf den Traumaspekt verzichten, könnten ihn allenfalls andeuten und er würde doch von vielen Zuschauern nicht als solcher verstanden werden.

Als Fazit der Betrachtung von visualisierender Interpretation Mittelerdes in Bild und Verfilmung einerseits sowie der unvermittelten Lektüre des Buches andererseits bleibt für mich erstens, das ich froh bin, dass es die Bilder Howes und Eissmans und Wenzels sowie die Filme Jacksons gibt und dass ich sie gerne gesehen habe und sicher auch immer wieder mal ansehen werde. Aber der Film beispielsweise ist zweitens nur die Sicht eines Menschen auf Mittelerde und zwar eines anderen Menschen.

Meine Mittelerde aber, die Welt, die ich seit fünfundzwanzig Jahren liebe und kenne und immer wieder durchstreife, das kann nur die Welt des Buches sein, die immer erst dann entsteht, wenn ich lese. Tolkien, er war ja ein tief gläubiger Mensch, nennt das Schreiben von Geschichten in Anlehnung an den christlichen Schöpfungsmythos Zweitschöpfung. In dieser Zählung ist das Lesen dann wohl Drittschöpfung. Und Lesen ist ein kreativer Prozess der Aneignung, der mit jedem Menschen, der sich zwischen den Text und seinen Rezipienten stellt – seien dies Drehbuchschreiber, Regisseure, Schauspieler, Produzenten oder Andere – an Eigenständigkeit verliert. Lesen ist genau deshalb nicht zu ersetzen.


 

II

Kommen wir zu der zweiten Frage:

Warum Tolkien lesen?

Da sehe ich im Wesentlichen zwei Gründe: solche die in der Person des Autors liegen und solche die durch die Bedeutung des Werks begründet werden. Der erste Grund liegt an einem gewissen Respekt gegenüber dem Autor und an einer gewissen Dankbarkeit dafür, dass er uns diese Welt geschenkt hat. Der zweite Grund, der sicherlich auch der wichtigere ist, hat vor allem etwas mit dem Inhalt des Werks zu tun.

Doch vergessen wir den Menschen Tolkien nicht: Respekt und Dankbarkeit – das ist so eine Frage des „Ehre, wem Ehre gebürt“. Auf der ersten RingCon vor zwei Jahren ging das Gerücht (ich weiß halt nicht, ob das Folgende wirklich passierte), aber es ging das Gerücht, am Stand der Deutschen Tolkiengesellschaft sei ein junger Fan aufgetaucht und habe auf ein dort aufgehängtes Poster mit dem Foto Tolkiens gezeigt und behauptet, dass dies doch gar nicht der Autor des HdR sei, der wäre schließlich ein Vollbartträger und ziemlich klein und dick. (OK, zur Zeit – 2008 – hat er total abgenommen :-))

Der vielleicht? Nein, ich denke, der hat mit siebzehn Oscars der Ehre genug abbekommen.

Der hier war´s. Und das sollte, wie ich finde, gefälligst auch im Bewusstsein der Welt verankert sein.

Nun steht wenigstens auf den Büchern, selbst der Krege-Übersetzung übrigens, noch Tolkiens Name prominent oben drauf und auch die Dankbarkeit gegenüber dem Autoren ist ein Grund, auf die Existenz der Bücher zu verweisen und zu raten:

„Na, schau doch mal da rein!“

Tolkien selbst muss ein ziemlich bescheidener Mensch gewesen sein. Er selbst würde wahrscheinlich gar nicht viel Wert auf diesen Punkt des Respekts und der Dankbarkeit gelegt haben. Ihm wäre es sicherlich wichtiger gewesen, wenn die Frage danach, warum ausgerechnet seine Werke gelesen werden sollten, wenn überhaupt, dann mit inhaltlichen Gründen beantwortet würde. Gerade der Inhalt von Märchen oder gar diesen neumodischen Fantasygeschichten aber wird von einem gewissen kultursnobistischen Standpunkt per se eher gering geschätzt. Was, so schallt es aus der Ecke der Hochkultur, kann einem die Lektüre solcher Geschichten schon bringen? In die Kanons lesenswerter oder gar lebenswichtiger Literatur von Marcel Reich-Ranicki oder Dietrich Schwanitz schaffen es solche Werke in der Regel nicht.

Wenn also die Menschen heute zu wenig lesen, sollten sie dann diese wenige Lesezeit nicht wenigstens mit Hochkulturerzeugnissen und den Standardwerken der Philosophie verbringen?

Was aber heißt das eigentlich, das gefordert wird, man solle sich der Lektüre von wertvollen Büchern widmen? Was soll das bringen? Nun, es soll wohl in erster Linie zwei Zwecken dienen: der ästhetisch wertvollen Unterhaltung (und Bildung) und dem Lernen über das Leben . Nehmen wir zum Beispiel ein Buch oder Stück wie den Faust, ob nun von Mann oder von Goethe: das ist sowohl ein stilistisches Vergnügen als auch ein Lehrstück über Gut, Böse, Macht und Streben, über Stärken und Schwächen – ein Buch voller genauester Beobachtungen über das Leben eben. Man kann vieles über das Leben daraus lernen, was der persönlichen Erfahrung der Meisten in großen Teilen wohl für immer verschlossen bleibt. Und der ästhetische Aspekt des Faust dient zudem, mit Schiller gesprochen, der Vervollkommnung des Menschen, da die Erkenntnis des Schönen den Menschen neben der Vernunft und der Sittlichkeit erst zu dem macht, was der Mensch in seiner höchsten Form zu sein im Stande ist: eine freie und glückliche Person (vgl. Schiller: Anmut und Würde; 1994, 99). Hochtrabende Worte? Vielleicht – aber das ist, was man von Literatur nun einmal erwartet.

Gut, das wäre also der Sinn von Lesen. Erfüllt Tolkien die Anforderungen?

Einfacher ist dies sicher für den ästhetischen Aspekt zu beantworten, denn über Geschmack lässt sich schließlich nicht streiten, und man findet etwas entweder schön oder nicht. Was hieße, das wir die Frage schlicht offen und jedem zur persönlichen Beantwortung überlassen können. Vielleicht mit einer kleinen, einschränkenden Überlegung. Sicherlich kann man darüber streiten, ob es nicht doch objektive Kriterien dafür gibt, ab wann denn etwas als ästhetisch hochstehende und stilistisch gute Literatur gelten kann und man kann dann auch überlegen, ob zumindest einige Stellen, wie etwa das Gedicht „The Fall of Gil-galad“ nicht doch etwas platt sind:

Gil-galad was an Elven-king,
Of him the harpers sadly sing:
the last whose realm was fair and free
between the Mountains and the Sea.

His sword was long, his lance was keen,
his shining helm afar was seen;
the countless stars of heaven´s field
were mirrored in his silver shield.

But long ago he rode away,
and where he dwelleth none can say;
for into darkness fell his star
in Mordor where the shadows are.

(LotR I, 249)

Gut – das ist vielleicht nicht eines Jeden Ding. Aber ob Dir das gefällt und Dir dort nicht, das ist nun einmal wirklich eurem Urteil überlassen.

Ich glaube jedoch auch, dass der ästhetische Wert von Tolkiens Schriften so ganz gering nicht sein kann, denn sonst wäre sein anhaltender Erfolg über mittlerweile ein halbes Jahrhundert und über viele verschiedene Kulturkreise hinweg nicht erklärbar. Eine schlechte Schreibe wird einfach nicht in diesen Ausmaßen rezipiert und die spannendste wie auch menschlich anrührendste Story könnte es nicht völlig allein geschafft haben, diesen Erfolg zu begründen.

Wie steht es nun um den Inhalt und seine Bedeutung für den Leser?

Unbestreitbar ist sicherlich, dass es für diejenigen, die das Genre mögen, tolle Unterhaltung darstellt. Darum also Tolkien lesen? Sicher darum auf jeden Fall auch. Aber ist da nicht noch etwas mehr ins Feld zu führen? Etwas mit Nutz- oder Lerneffekt? Etwas mit Relevanz für das eigene Leben?

Nun haben wir es in unserem täglichen Leben nicht so sehr oft mit Orks und Nazgûl zu tun, sondern werden Dispute wohl eher vor Gericht regeln und auch ein übermächtiges Übel sehen wir wohl weniger in Mordor als vielmehr im Finanzamt. Welche direkte Relevanz kann also eine Geschichte aus einem weit, weit entfernten Universum für das hiesige Leben besitzen? Eine ganze Reihe, glaube ich, und möchte dazu nur ein paar Denkanstöße geben, denn auch die Relevanzfrage ist letztlich eine sehr subjektive, die sich für Jede und Jeden anders beantwortet.

Für mich als ‘gelernten’ Philosophen ist natürlich angesichts des alles beherrschenden Themas des Kampfes von Gut gegen Böse die Moral im HdR wichtig. Und da lassen sich einige spannende Dinge entdecken. Trotz des Konservativismus, den die Ringtrilogie auf den ersten Blick zu atmen scheint, weil von ritterlichen Helden, patriarchalischen Herrschern und einer mittelalterlichen Welt die Rede ist, trotzdem zeigt sich bei näherer Betrachtung ein recht modernes Moralverständnis.

Der Kampf von Gut gegen Böse lässt sich nämlich auch als ein Kampf um die Freiheit beschreiben. Der Ring dient einzig und allein dazu, Andere zu unterdrücken. Das wissen die ‘Guten’ wie Gandalf und Galadriel, die trotz bester Gelegenheiten, sich des Rings zu bedienen, der Versuchung widerstehen, genauso gut wie Saruman, der den Ring zu eben diesem Zweck erstrebt. Gandalf sagt in Elronds Rat sehr treffend „only one hand at a time can wield the One“ (LotR I, 340). Tolkien zeigt damit plastisch, dass die Unterdrückung allenfalls einen Gewinner kennt, den Typen an der Spitze, den mit dem Ring. Diese Erkenntnis wird in eine unmittelbare Verbindung mit dem magischen oder vielleicht besser mythischen Element gesetzt, dass diese durch den Ring erreichte Spitzenposition unweigerlich in das Böse umschlägt. Selbst Galadriel, die im HdR als archetypische Manifestation des Bewahrenden, des Heilenden und des Natürlichen gezeichnet ist, würde mit Übernahme des Rings und seiner Funktion als Unterdrückungsinstrument zur bösen Herrscherin: „all shall love me and despair“ (LotR I, 474), sagt sie und zeigt dadurch, dass selbst die Liebe pervertiert werden kann.

Das Gute wird dem Bösen als Freiheit und frei sein gegenüber gestellt. Das zeigt sich an vielen Stellen, symbolisch am dichtesten aber vielleicht in der Rolle und der Zusammenstellung der Gefährten. Durch die Wahl der neun Gefährten aus Menschen, Zwergen, Elben und Hobbits haben alle Völker Mittelerdes Teil am Kampf gegen die Unfreiheit: Jeder hilft, keiner hat eine überragende Stellung inne und der Auftrag kann trotz der Katastrophen des Sturzes von Gandalf und des Zerbrechens der Gemeinschaft am Amon Hen erfüllt werden. Denn eigentlich findet der Bruch der Gemeinschaft nicht wirklich statt.

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Boromir steht zwar am Rande des Verrats, aber letztlich war es der Einfluss des Rings, der ihn zu dem Angriff auf Frodo zwang und Tolkien ‘verzeiht’ ihm das auch, indem er ihm die Erlösung im Kampf gegen die Orks schenkt und Aragorn sagen lässt: „You have conquered. Few have gained such a victory. Be at peace!“ (LotR II, 12).
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Auch die Gemeinschaft funktioniert über alle räumliche Entfernung hinweg noch: Frodo und Sam kommen nur durch, weil die Aktionen der Anderen die Bemühungen der Bösen in Helms Klamm, in Minas Tirith und vor dem Schwarzen Tor aufhalten.

Das Motiv der Freiheit wird aber am stärksten dadurch verkörpert, dass Sauron letztlich nur besiegt wird, weil niemand aus der Gruppe sich zum Ringträger aufschwingt. (Fast) alle wollen den Ring wirklich vernichten. Das ist etwas, das Sauron, der Machtgeilheit in allen Personen einfach voraussetzt, gar nicht in den Sinn kommt, sonst hätte ein Nazgûl, stationiert am Eingang zum Schicksalsberg, völlig ausgereicht, der Unfreiheit den Sieg zu sichern.

Wenn man über die Moral im HdR nachdenkt fallen einem noch weitere Punkte auf, die bedenkenswert sind, die Relevanz auch im Leben in dieser Welt haben.

Durch die besondere und überproportional große Rolle, die die Hobbits in der Fellowship spielen, macht Tolkien klar, dass jede Person wichtig ist, weil man nie sagen kann, ob nicht sie es sein wird, die die Welt rettet. In dem berühmten Brief an Milton Waldman heißt es über die Hobbits, dass er in Ihnen das Motiv stark machen wollte, dass „the wheels of the world are often turned not by the Lords and Governors, even gods, but by the seemingly unknown and weak“ (Letters, Letter No. 131, p. 149). Auch dies ist ein sehr moderner Punkt, über den nachzudenken sich lohnt und der Tolkiens Protagonisten gegenüber Fantasy-Superhelden von Autoren wie John Norman oder Alan Burt Akers wohltuend abhebt.

Eine weitere Sache: Es ist sicherlich ein Gemeinplatz, dass unsere Welt nicht bloß in schwarz und weiß gezeichnet ist. Niemand ist nur gemein oder nur lieb; alle Menschen tragen eine Menge von Grautönen in ihrer Persönlichkeit und das sollte man berücksichtigen, wenn man Andere beurteilt. Doch es ist interessant, diese Erkenntnis auch so ausdrücklich in einer Fantasygeschichte abgebildet zu finden, die auf den ersten Blick ja geradezu davon zu leben scheint, einen überzeichneten Gegensatz von Gut und Böse aufzubauen. Auch in Mittelerde ist niemand komplett Gut oder Böse, selbst Sauron und Morgoth waren ursprünglich nicht böse, ehe der Wunsch nach Macht sie dazu trieb, Andere beherrschen zu wollen. Umgekehrt zeigt auch das Zögern Gandalfs und Galadriels, dass sie sehr wohl wissen, dass auch sie nicht davor gefeit sind, sich vom Guten abzuwenden. Eine perfekte Inszenierung dieses Themas ist natürlich die Schizophrenie Gollums / Smeagols.

Ein vierter und für heute letzter Punkt ist die Behandlung des Krieges im HdR. An mehreren Stellen zeigt Tolkien das wahre, brutale, miserable Gesicht von Krieg. Schon im ansonst sehr kinderfreundlichen Hobbit wird in der Beschreibung der Schlacht der fünf Heere gezeigt, dass Krieg wenig mit Ruhm und ganz viel mit Elend zu tun hat. Berichtet wird uns das aus der Perspektive des (für den Ausgang der Schlacht völlig unwichtigen) Bilbo. Den gleichen narrativen Trick wendet Tolkien in der Schlacht am Schwarzen Tor an, als es wirklich um Alles geht: plötzlich wird die beginnende Schlacht aus der Perspektive Pippins erzählt und endet nach nur anderthalb Seiten damit, dass der Hobbit inmitten von Blut und herausquellenden Innereien von einem sterbenden Troll bewusstlos geschlagen wird.

Soviel zur Gewaltverherrlichung bei Tolkien. Aber halt – was ist denn beispielsweise mit den glorreichen Kriegern von Rohan, sind das nicht echte Schlachtenepigonen zu deren Mut unser Autor uns ehrfürchtig aufblicken lässt? Matthew Dickerson hat in dem Buch Following Gandalf sehr schön herausgearbeitet, dass auch das nicht stimmt. Zwar sind die Rohirrim ein echtes Kriegervolk – ein bisschen wie unsere Wikinger -, das Ruhm und Ehre über alles stellt. Das Schicksal Eowyns jedoch führt genau diese Sicht ad absurdum: Eowyn will als Schildmaid und Kriegerin genauso in Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld sterben, wie die Ideale ihres Volkes es verlangen. Tolkien verweigert ihr aber diesen Tod und ermöglicht ihr dadurch später in der Liebe zu Faramir, einem Mann der Krieger nur aus Notwendigkeit, Gelehrter und Heiler aber aus Leidenschaft ist, zu erfahren, dass Leben und Liebe ungleich wichtiger als Ruhm und Ehre sind (vgl. Dickerson 2004, 36-40). Krieg wird bei Tolkien sicher nicht verherrlicht. Er ist manchmal als ultima ratio nötig, will man sich der Unterdrückung nicht wehrlos ergeben, aber eine Quelle von bewundernswerten Heldentaten ist er nicht. Das ist eine Überlegung, die aktuell vielleicht nicht so neu und überraschend für uns ist, die aber in den Fünfziger Jahren für einen Geschichtenerzähler mutig und anders war und auch heute nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Warum also ausgerechnet Tolkien lesen? Mir ist die Moral in Mittelerde wichtig. Euch vielleicht auch und wahrscheinlich viele andere Dinge mehr. Friedhelm Schneidewind pflegt zu sagen, dass es kaum eine Frage unseres Lebens in dieser echten Welt – der Primärwelt, wie Tolkien sagen würde – gibt, auf die man in den Geschichten nicht bedenkenswerte Antworten findet. Sucht sie nur! Wem die Unterhaltung nicht reicht, wem die vermeintlich unzulässige Flucht in Phantasiewelten ein schlechtes Gewissen zu bereiten droht, der kann auch etwas von Tolkien lernen. Es gibt viele Gründe Tolkien zu lesen.

 

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To the Professor –
the man who brought us all together!