Der Spiegel macht mit einer Sonderausgabe anlässlich der #btw17 auf, wo es heißt: „Sie sind da. Die AfD überrollt die Volksparteien“. Das ist natürlich typisch Spiegel – immer ein bisschen aufgeregter als die anderen – aber eben auch eine Rhetorik, die falsche Assoziationen an 1933 weckt. Wenn die Zeit den Öffentlichen-Rechtlichen zurecht eine gewisse „Angstlust“ im Umgang mit der AfD vorwirft (http://www.zeit.de/kultur/film/2017-09/wahlabend-tv-bundestagswahl-elefantenrunde-ard-zdf), so trifft das auch auf den Spiegel zu. So schnell und einfach wie einst lässt sich die deutsche Demokratie heute nicht mehr überrollen!
Denken wir doch mal an ’33 zurück – fünfzehn Jahre nach einem verlorenen Weltkrieg, der die damals viel nationalstolzeren Deutschen zutiefst gekränkt hatte und kurz nach der Weltwirtschaftskrise, die zahllose Existenzen zerstörte. In einem Europa, das den Einheitsgedanken überhaupt nicht auf dem Schirm hatte, sondern noch aus völlig auf sich selbst bezogenen Nationen bestand, die einander misstrauten und die wenigen guten Dinge oft missgönnten. Das ist heute doch ein bisschen anders: Die Wirtschaft brummt, Europa ist vielfach verflochten und Nationalhass oder ehemalige „Erbfeindschaften“ sind Vergangenheit. Der für eine Diktatur so wichtige äußere Gegner ist nicht zu sehen …
Mitmenschen
Stattdessen haben wir gelernt, dass Ausländer Menschen wie du und ich sind. Es ist kein Zufall, dass der Ausländerhass besonders da lodert, wo es gar keine Ausländer gibt, denn wenn man sie denn kennenlernt, dann wird es schwierig, sie zu hassen. Dabei habe ich jetzt nicht die Ereignisse der Silvesternacht vor zwei Jahren vergessen. Aber die eignen sich nicht für die Diagnose des tatsächlichen Verhältnisses der Bürgerinnen und Bürger mit und ohne Migrationshintergrund. Das ist nämlich sehr viel stärker davon bestimmt, dass man in die gleichen Büros geht, in den gleichen Läden einkauft und im gleichen Sportverein oder Fitnessstudio ist oder bei bedrohtem Arbeitsplatz gemeinsam auf die Demo geht und miteinander kämpft. Es zeugt nicht gerade von Nachdenklichkeit, wenn man besonders in ausländerfreien Dörfern und Regionen die Extremereignisse zum Maßstab nimmt, aber vielleicht braucht es tatsächlich erst den täglichen Umgang miteinander, um das richtig einzuschätzen. Gerade die derzeit besonders besorgten Älteren werden den Mitmenschen mit der dunkleren Haut noch zu schätzen lernen, wenn er oder sie der einzige ist, der im Pflegeheim noch da ist, um den Dekubitus abzuwenden.
Wirtschaft?
Viele von Ihnen werden das Bild vielleicht noch vor Augen haben, das in den Schulbüchern meiner Generation die Weltwirtschaftskrise illustrierte: ein hagerer Mann mit Hut und leeren Augen, der ein Schild auf dem Bauch trägt: „Nehme jede Arbeit an.“ Es war recht leicht für Hitler, echte Verzweifelte zu rekrutieren; zumal er ihnen dann ja auch Arbeit bieten konnte. Heute haben wir es eher mit Aufgeregten als mit Verzweifelten zu tun. Und ob die AfD ihnen etwas anbieten kann außer Parolen? Jedenfalls kommt es mir vor, als ob selbst diese Leute nicht mehr doof genug sind, um mit dem Spruch „Der Kanake nimmt uns die Arbeit weg!“ auf die Straße zu gehen. Was macht die AfD nur, wenn ihnen der Krawallstoff ausgeht, weil nach dem Ende der GroKo wieder konstruktiv um Politik gestritten wird?
Natürlich liegt ganz vieles im Argen, gerade im Wirtschaftlichen. Wenn Wenigen fast alles gehört und die gesellschaftliche Schere immer weiter aufgeht, wirkt das destabilisierend. Aber genau dafür bieten die Braunen nur Sachen an, die die Schere noch weiter öffnen werden. Wenn die SPD jetzt wirklich in die Opposition geht, besteht die Chance, dass eine mehrstimmige Linke echte Alternativen bietet, denen die Schein-Alternativen für Deutschland nichts entgegensetzen können, weil es ihnen ja gerade nicht um das Volk geht, für das sie schon im jetzigen Wahlprogramm nichts vorgesehen hatten.
Und noch einmal zur Wirtschaft. Mitentscheidend für ´33 und die Folgejahre war die Unterstützung der NSDAP durch alle wichtigen Wirtschaftsunternehmen. Da positioniert sich der Bund der deutschen Industrie gerade gänzlich anders (http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bdi-chef-dieter-kempf-gegen-afd-schaden-vom-standort-deutschland-abwenden-a-1169718.html), und dem kann man erst einmal auch vertrauen, weil große Wirtschaftsunternehmen international arbeiten, vernetzt sind, global nach guten Mitarbeitern suchen und nicht das geringste Interesse an einem für sie fatalen Isolationismus haben. Selbst die einst über Hitler frohlockende Rüstungsindustrie hat heute wenig Interesse daran, Panzer für Gauland zu bauen, und ist viel mehr völlig damit ausgelastet, ihre unseligen Erzeugnisse international zu streuen.
Ausblick
Es ist äußerst bedauerlich und für das Land eine echte Schande, dass die Faschisten wieder in den Parlamenten sitzen. Aber eine Katastrophe ist es nicht. Es ist sogar eine Chance (siehe oben – die konsolidierte Linke und der hoffentlich anhebende konstruktive Politikstreit). Es kann sich natürlich zur Katastrophe wenden, aber da drohen noch eine ganze Reihe anderer Dinge (Trump oder der Irre vom Bosporus bspw.), von denen man sich auch nicht lähmen lassen darf. Zudem handelt ein Großteil der AfD-Wähler aus Protest, wie etwa die hier von der Zeit gesammelten Stimmen zeigen: (http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-09/wahlentscheidung-warum-afd-gewaehlt).
Insgesamt sind die Menschen meiner Beobachtung nach humanistischer und offener geworden, ganz besonders die Jüngeren, die irgendwann die Älteren ja werden überstimmen können. Es ist hoffentlich – aber ich habe gute Gründe für diese Hoffnung! – nur ein Aufbäumen des Unverständnisses, widerlegbarer Ängste, das eine jetzt endlich aufwachende Politik mit Argumenten und Taten beruhigen kann. Die wenigen richtig bösen Menschen, wie Gauland, v. Storch oder Höcke, die nichts können, als Unsicherheiten für ihre Zwecke zu kanalisieren, lassen sich jetzt schon sehr gut identifizieren, und auch das ist anders als es 1933 war.