Hoffnungen und Ängste angesichts der neuen Biotechnologien

© Frank Weinreich


 

Die Ziele der neuen Biotechnologien (nB) bestehen aus einem weiten Kanon bestehender und einem noch viel weiteren Repertoire erwarteter beziehungsweise erhoffter Möglichkeiten das Leben auf der Erde zu bewahren, zu erleichtern, zu verändern und insgesamt zu verbessern.

Wobei diese Ziele positiv natürlich immer nur in Bezug auf eine bestimmte Wertentscheidung sein können und damit prinzipiell der Verhandelbarkeit unterliegen. Die Anwendung der nB, beziehungsweise aller Technologie, bewirkt neben den – in den Augen der Anwenderinnen und Anwender – erreichten Ziele immer auch eine Reihe von Begleiterscheinungen, die sich als Konsequenzen und Nebenwirkungen charakterisieren lassen. Als Konsequenz oder Nebenwirkung soll es in diesem Aufsatz um Aspekte gehen, soweit sie sich als “unbeabsichtigte, negative, indirekte und möglicherweise mit großer Zeitverzögerung auftretende Folgen” (Grupp 1994, 56) absehen lassen.

Die wissenschaftliche Disziplin der Technologiefolgenabschätzung1 unterscheidet zwei Bereiche, denen ihr Erkenntnisinteresse gilt: Erstens die Aufgabe, Chancen und Risiken der Anwendung von Technik als direkte Technikfolge “unter Rekurs auf technisches Verfügungs- und wissenschaftliches Prognosewissen” zu evaluieren und zweitens auf der Basis “normativen Orientierungswissens” (Skorupinski/ Ott 2000, 23) die Untersuchung jener sozialen Folgen, die durch gesellschaftlich-technische Interdependenzen entstehen können (vgl. Mohr 1998, 3). Da die nB – gemessen einerseits an den in sie gesetzten großartigen Zielen, die Menschheit zu verbessern und dabei Hunger und Kriege abzuschaffen oder andererseits bezüglich der mit ihrem Auftreten perhorreszierten Gefahren, mittels der Genmanipulation die Welt zu unterjochen und eine unfreie Gesellschaftsordnung für alle Zeiten zu zementieren – zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts faktisch nur geringe Gestaltungsmacht besitzt, wird es in diesem Aufsatz zu einem größeren Teil um Spekulationen gehen müssen.

Gerade im Licht der Eutopien und Dystopien wird aber auch klar, welche Bedeutung ethische Aspekte für die Anwendung der nB haben. Der Gegensatz von erhofften Zielen und befürchteten Nebenwirkungen lässt sich durch die Gegenüberstellung der positiven und negativen Spekulation illustrieren.

Stellvertretend für die große Anzahl von Stimmen, die sich in der Debatte um die Anwendung der nB und hier besonders der Gentechnik zu Wort melden, soll an dieser Stelle auf zwei Bücher eingangen werden, die ihren befürwortenden beziehungsweise ablehnenden Standpunkt in großem Facettenreichtum und engagierter Nachdrücklichkeit vertreten. Die erste Publikation ist “Das geklonte Paradies” des amerikanischen Molekularbiologen Lee M. Silver aus dem Jahr 1998 – dessen Originaltitel “Remaking Eden” Programm für die Möglichkeiten ist, die der Autor beschreibt. Ihm wird das im Jahr 2000 erschienene und von der deutschen Journalistin Ursel Fuchs verfasste Buch “Die Genomfalle” gegenübergestellt, deren Titel ebenfalls in plakativer Weise andeutet, woruaf die Autorin hinaus will.

Die Positionen Silvers und Fuchs erinnern an einen Dialog aus Huxleysindex{Huxley, Aldous|(} emph{“Brave New World”}, in dem der Vertreter der schönen neuen Staatsordnung und ein Rebell ihre jeweiligen Positionen vertreten:

“Controller: >>We prefer to do things comfortably.<<

Savage: >>But I don’t want comfort. I want God, I want poetry, I want real danger, I want freedom, I want goodness. I want sin.<<

>In fact<< said the controller, >>you’re claiming the right to be unhappy.<<

All right then, << said the Savage defiantly, >>I’m claiming the right to be unhappy.<<

>>Not to mention the right to grow old and ugly and impotent; the right to have syphilis and cancer; the right to have too little to eat; the right to be lousy; the right to live in constant apprehension of what may happen to-morrow; the right to catch typhoid; the right to be tortured by unspeakable pains of every kind.<<

There was a long silence. >>I claim them all<< , said the Savage at last.” (Huxley 1998, 197)

Nun reden die huxleyschen Gesprächspartner offensichtlich aus tiefstem Herzen glaubend aneinander vorbei, aber gerade dadurch vertreten sie ihre Positionen in einer für die aktuelle Debatte typischen Art und Weise.

Ganz ähnlich klingt dies bei Silver und Fuchs.

Silvers Erwartungen, das verlorene Paradies wiederherzustellen, konzentrieren sich auf Aspekte der Reproduktionstechnologie.

Sie wird seiner Erwartung nach zu weitgehenden gesellschaftlichen Veränderungen führen, die “uns zwingen werden, liebgewordene, traditionelle Vorstellungen – von Elternschaft, Kindheit und der Bedeutung des Lebens selbst – zu überdenken und neu zu formulieren” (Silver 1998, 23). Dazu kommt eine Unausweichlichkeit der Entwicklung, da feststeht, “daß reprogenetische Technologien zwangsläufig zum Einsatz kommen werden. […] Ob wir es gutheißen oder nicht, die neue Zeit ist bereits angebrochen” (24). Die Zwangsläufigkeit bedeutet bei Silver jedoch keine diktatorische Verfügung über das Individuum. Vielmehr erwartet er ein Weiterbestehen freier und pluralistischer Gesellschaften, die erlauben, sich der Verbesserung des Erbguts zu entziehen. Und auch Silver erwartet, dass Menschen diese Option ergreifen werden, wenn sich darüber im Text auch ein unverständiges Kopfschütteln ausdrückt. Deshalb wird die Entwicklung dann irgendwann soweit führen, dass der Autor am Ende seiner Ausführungen mit großem Ernst prognostiziert:

“Wenn die Anhäufung genetischer Erkenntnisse und die Fortschritte der Technologien zur genetischen Optimierung weiterhin mit der gegenwärtigen Geschwindigkeit vorangehen, werden sich bis zum Ende des dritten Jahrtausends aus den beiden Klassen der GenReichen und der Naturbelassenen zwei Spezies entwickelt haben – zwei genetisch voneinander vollkommen getrennte Arten ohne jede Möglichkeit zur Kreuzung über die Speziesgrenzen hinweg.” (317)

Der Weg, den die skizzierte Entwicklung nimmt, geht von der Rechtfertigung heutiger Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin (Teil II) über die leidenschaftslose Behandlung der Klonierung von Menschen (Teil III) zu neuen Familienentwürfen und einer damit verbundenen Zunahme an Freiheit der Planung und Exekution von Lebensentwürfen (Teil IV) und der Genoptimierung des Menschen (Teil V) bis zur soeben zitierten Aufspaltung der Menschheit in “GenReiche” und “Naturbelassene” . Ausgangslage ist auch für Silver die evolutive Enstehung des Lebens nach dem heutigen Erkenntnisstand von Physik, Chemie und Biologie (Kap. 2), ohne allerdings einen Schöpfergott explizit zu verneinen, sondern ihn als mit heutigen Mitteln nicht sicher erkennbar anzusehen (50f.). Zwar versucht Silver eine eindeutige Stellungnahme in der Diskussion um den Beginn des menschlichen Lebens zu vermeiden (84f.), lässt jedoch andererseits keinen Zweifel daran, dass der Embryo kein menschliches Leben besitzt (61), dass auch für ihn erst durch Selbstbewusstheit bestimmt scheint, ohne dass er sich dabei aber auf den Personenbegriff einlässt (35ff.). Dementsprechend bespricht der Autor zwar die ethischen Bedenken, die gegen In Vitro Fertilisation (IVF) und Präimplanationsdiagnostik (PGD = preimplantation genetic diagnosis) angeführt werden (Kap. 5-7 u. 17 ), verwirft diese jedoch im Allgemeinen und sieht wenige moralische Schwierigkeiten in der Reproduktionsmedizin, die als eher segensreich im Rahmen der Verwirklichung von Lebensplänen und der Verhinderung von Krankheiten beschrieben wird.

Auch in diesem Zusammenhang wird die Zwangsläufigkeit der Entwicklung betont, die weder staatlicherseits noch durch moralisch motivierte gesellschaftliche Übereinkünfte und Selbstbeschränkungen aufgehalten werden wird: “Wenn bestimmte Menschen bestimmte reprogenetische Dienstleistungen suchen, werden sie auch jemanden finden, der bereit ist, sie zu erbringen” (108) und “Versuche [der Beschränkung von Embryonenselektion] sind sämtlich zum Scheitern verurteilt” (298). Dass “nur die Wohlhabenden […] sich das auch leisten können” werden (107), wird dabei hingenommen und auch in Hinsicht auf die Aufspaltung der Menschheit in zwei verschiedene Spezies – Silver greift ausdrücklich das Bild von Eloi und Morloks aus H.G. Wells “Time Machine”2 auf (318) – wird dies zwar ein wenig bedauernd konzediert, eine Beendigung der Genoptimierung aus Gerechtigkeitsgründen wird jedoch als “hoffnungslos” angesehen (320).

Die eminente Gefahr, die hinter einer solchen Zweiteilung lauert wird von Silver vollkommen vernachlässigt. Jürgen Habermas gründet seinen eindringlichen Appell auf äußerste Vorsicht bei der Anwenung der Biotechnologien im wesentlichen auf eine Gattungsethik, die Verbindlichkeit daraus bezieht, dass Menschen einer Gattung angehören und sich deshalb gegenseitig bestimmte Verhaltensmuster schulden (Habermas 2001). Die Vorstellung, dass die menschliche Gattung sich mittels einer weiterentwickelten Gentechnik in Sklaven- und Herrenrassen aufspalten könnte ist Thema einer Reihe von fiktionalen Werken, wurde aber auch verschiedentlich schon in die wissenschaftliche Debatte eingeworfen, etwa von Dan Brock (1994) und Francis Fukuyama (2002). Welche Bedeutung eine Aufspaltung der Menschheit haben könnte, die bei Silver friedlich in Form einer unproblematischen Trennung beschrieben wird, finde ich in den folgenden zwei etwas längeren Zitaten eindrücklich beschrieben:

“Heute sind viele intelligente und erfolgreiche junge Leute davon überzeugt, daß sie ihren Erfolg Zufällen der Geburt und der Erziehung verdanken, andernfalls hätte ihr Leben einen anderen Verlauf genommen. Sie haben, mit anderen Worten, das Gefühl, Glück gehabt zu haben, und sie können Wohlwollen für Menschen empfinden, die weniger Glück hatten als sie. Aber in dem Ausmaß, wie es >>Wunschkinder<< geben wird, die von ihren Eltern im Hinblick auf bestimmte Eigenschaften selektiert worden sind, wird sich zunehmend die Überzeugung durchsetzen, daß Erfolg nicht nur auf Glück beruht, sondern auf richtigen Entscheidungen und Plänen von Eltern. Daher werden diese Kinder den Erfolg als etwas betrachten, das sie verdienen. […] Kurzum, sie werden sich als Aristokraten vorkommen, und anders als beim alten Adel wird der Anspruch, aufgrund der Herkunft besser als andere zu sein, sich auf die Natur und nicht auf Konventionen stützen.” (Fukuyama 2002, 220).

Ist diese meines Erachtens sehr gut nachvollziehbare Argumentation schon erschreckend genug, so gilt dies in gleichem Maße für die Annahme, dass es andererseits aber auch zu einer gewalttätig erzwungenen genetischen Egalität kommen könnte, wenn die Menschen die Spaltung nicht hinnehmen:

“Was die Politik der Zukunft angeht, so ist dies vielleicht einer der wenigen Punkte, an dem die Menschen sich so erregen können, daß sie zum Kampf bereit sein werden. Hier spreche ich nicht von Kampf im übertragenen Sinne von Diskussionen unter Prominenten im Fernsehen und Debatten im Parlament, sondern davon, daß man tatsächlich zu Gewehren und Bomben greift, um sie gegen andere Menschen einzusetzen. In unseren reichen, selbstzufriedenen liberalen Demokratien gibt es heute nur wenige politische Themen, die die Menschen so furchtbar aus der Fassung bringen können, aber die Schreckensvorstellung wachsender genetischer Ungleichheit kann möglicherweise die Leute von ihren Sofas und Fernsehapparaten weg auf die Straße locken.” (221f.)

Noch ist selbstverständlich unklar, ob es jemals möglich sein wird, Menschen auf technischem Wege in der angenommenen Form auseinander zu entwickeln.

Doch wenn man dies, wie Silver es ja nun einmal tut, annimmt, so scheint mir die sorglose Behandlung des Themas nicht angemessen. Wenn bei Fukuyama auch dramatische Bilder Verwendung finden wie das einer Zweiteilung der Menschheit in solche, die mit Sätteln auf dem Rücken geboren werden und solche, denen Stiefel und Sporen angeboren sind (216), so ist dies doch nur ein anschaulicher Ausdruck der eigentlich unterliegenden Gefahr, der Aufweichung und Abschaffung zentraler Begriffe wie dem der Menschenwürde. Wenn Menschen einst in geschiedenen Spezies existieren sollten, kann eine übergreifende Forderung nach Achtung der Menschenwürde nicht mehr formuliert werden, da eine einheitliche menschliche Gattung nicht mehr vorhanden wäre, auf die sich die Forderung bezöge.Dieser Punkt wird im dritten Teil der Arbeit wieder wichtig werden, wenn ich Vorschläge zur ethischen Diskussion unterbreite, für die Fragen nach der Natur des Menschen und einer Menschenwürde bedeutsam sind.

Die Klonierung von Menschen wird zunächst dahingehend behandelt, dass der Autor die technischen Schwierigkeiten als lösbar beschreibt (139ff.) und Zweifel an der Individualität und echten Menschlichkeit von Klonen ausräumt (145: “Wird deutlich, was ein kloniertes Kind sein wird: Ein zu einem späteren Zeitpunkt geborener identischer Zwilling”). Dann versucht Silver mit Bezug auf Huxleys ‘Schöne neue Welt-Szenario’ nachzuweisen, dass politisch motivierte Sorgen einer sinister motivierten Menschenklonierung zur Etablierung und Sicherung totalitärer Systeme wenig Realismus beweisen (146ff.) und reproduktives Klonen wohl nur als Folge individueller Entscheidungen durchgeführt werden wird (167). Das Thema wird abgeschlossen mit Hinweis auf die vielfältigen medizinisch segensreichen Möglichkeiten des therapeutischen Klonens (172ff.), die letztlich den Menschen der Unsicherheiten seines biologischen So-Seins entheben werden: “Durch eine Kombination der Klonierungstechniken mit anderen gentechnischen Methoden […] wird die menschliche Spezies in die Lage versetzt werden, das eigene Schicksal, die eigene Zukunft unter Kontrolle zu bekommen” (177).

Die folgenden Kapitel über die vielfältigen Möglichkeiten der Reproduktion und gentechnischen Interventionen bieten ein Mehr des gleichen optimistischen Stoffs, der die Verfügungsgewalt des Menschen über sich selbst zu weiteren Potenzen erhebt und die Anwendungspraxis mehrheitlich als verantwortlich und rational projiziert. Letztlich werden durch die konsequente Anwendung der nB nicht nur alle genetisch bedingten Krankheiten geheilt werden, sondern auch Utopien verwirklicht werden, die ausgangs des Mittelalters ähnlich auch schon bei Thomas Morus zu finden waren, mit dem einzigen Unterschied, dass die Lösungen anders als in Utopia nicht in der Erziehung und der politischen Organisation, sondern allein in einer Modifikation der biologischen Grundlagen gesucht werden. Immer wiederkehrende Topoi sind die Unausweichlichkeit dieser Entwicklung, die eingebettet in den Glauben ist, dass die Individuen nur das Beste für sich und ihr Umfeld wünschen und die Rationalität aufbringen werden, dies auch durchzusetzen. Desweiteren sind bemerkenswert der Glauben an die Entscheidungsfreiheit für oder gegen die Applikation einzelner Maßnahmen, der ungetrübt ist von der diesem eigentlich entgegengesetzten Unausweichlichkeit der Entwicklungen in der Gentechnologie und ihrer Anwendung, die immer wieder unterstellt wird, sowie die Sorglosigkeit, mit der materielle Ungleichheit, die Viele von den Segnungen der Gentechnologie ausschließt, ohne irgendwelche Gegenmaßnahmen ergreifen zu wollen hingenommen wird. Silver nimmt die Rolle des Controllers in Huxleys Dialog ein und stellt in Aussicht, die Leiden und Unsicherheiten des Lebens durch die Segnungen der nB in die Schranken zu weisen, bis hin zur Abwendung von Älterwerden, Hässlichkeit und Impotenz (327). Dieses selbstgewisse Bild wird nur getrübt von einem in diesem Kontext eigentlich wenig nachvollziehbaren Zweifel an der eigenen Vision, wenn Silver einen fiktiven Wissenschaftler des 24. Jahrhunderts namens Varship denken lässt: “Es war zu spät, resümierte Varship. Zu spät, um überhaupt noch etwas zu unternehmen, emph{resignierte er hilflos}” (322, Hvhbg. v. mir).

Der Aufbau der “Genomfalle” ist ein gänzlich anderer, die Eindeutigkeit der – diametral entgegengesetzten – Intention der Autorin ist der Lee Silvers aber durchaus vergleichbar. Ursel Fuchs behandelt die gesamte Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten der nB von der Botanik über die Zoologie zum Menschen und dort alle Aspekte von prädiktiver Medizin, Gentherapie, Selektion und Eugenik. Alle Aspekte werden primär im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedeutung aufgezeigt. Die Darstellung bleibt dabei durchweg einseitig den Risiken verhaftet. Legitimiert wird die Einseitigkeit durch das Motiv, mit ihrer Publikation eine Streitschrift vorzulegen, die einer von der Autorin so empfundenen Blindheit der Chancenpräferierung auf Kosten einer Risikoanalyse entgegen wirken soll: “Chancen bietet alles, was kurzfristig erreichbar und am Markt privatwirtschaftlich nutzbar ist im Sinne ökonomischer Interessen und Mächte. Risiken haben längere Laufzeiten, drohen weniger den Verursachern als oft der nächsten Generation” (Fuchs 2000, 12). Die inhaltlichen Einwände, die Fuchs gelten macht, sind besonders im Lichte eines Buches wie des “Geklonten Paradieses” von Bedeutung, da diese Einwendungen ethisch neuralgische Punkte oftmals genau treffen, die bei Silver gar nicht erwähnt oder in einer argumentativ wenig überzeugenden Weise untergepflügt werden.

Die Ausgangslage aller Überlegungen ist für Fuchs ähnlich wie bei Eva Neumann-Held und Brian C. Goodwin die Kritik an einem Genzentrismus von fast metaphysischem Gehalt, die sie pointiert in eine Kritik am Machbarkeitswahn überführt, der vom falschen Bild genetischer Determination fort zum – ihrer Meinung nach – wahren Bild einer Unterwerfung des Menschen nicht unter die Herrschaft der Gene, sondern der Kontrolleure von Gentechnologien hin weist (Kap. 1). Damit drückt sich jedoch eigentlich auch der gleiche Glaube an die Macht der Wissenschaft aus wie bei Silver, nur mit umgedrehtem Vorzeichen bezüglich der intendierten Wirkungen:

“Wirkliche Macht haben nicht die Gene, sondern die Menschen, die für Genforschung als virtuelle Quelle jeglicher Heilung werben, und sie dann nach den faktischen Möglichkeiten ihres Könnens nutzen und anwenden: mit Macht zu Kontrolle, Macht zur Selektion, Macht zu Manipulation, Macht auf Weltmärkten, Macht zur Umgestaltung und Aneignung all dessen, was lebt auf unserem Planeten. Der Genpool wird als primäre Rohstoffressource verwendbar und nutzbar im Rahmen weltweiter ökonomischer Strategien.” (22)

Die inhaltliche Kritik beginnt im fünften Kapitel unter der Überschrift “Todesfälle, Zwischenfälle – keine Heilung” (42) mit einer Bilanz der bisherigen Erfahrungen aus der Gentherapie, bei der die Autorin am Beispiel der Therapie mittels viraler Vektoren “nicht nur keinen Nutzen”, sondern auch eine Verletzung des Prinzips “primo nil nocere” (zuallererst nicht schaden) feststellt (Kap. 5, Zitat 46) und dies letztlich auf die gesamte Gentherapie überträgt. Die Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen wird einzig auf dem Gebiet der prädiktiven Medizin festgestellt (“Was kann Gentechnik am besten? Testen!”, 72). Genau diese Fähigkeit aber ist mit psychischen und gesellschaftlich-ökonomischen Problemstellungen verbunden, welche von der Diagnose aufgeworfen aber nicht gelöst werden können (vgl. Kap. 7, 8 u. 10). Denn die Fragen, die sich nach auffälligen Testbefunden stellen, sind erstens, wie das betroffene Individuum mit einer Testung umgehen soll, die die Prädisposition zu einer gravierenden Krankheit ergibt. Verbunden damit ist außerdem die Frage welche Schlüsse aus verschiedenen Wahrscheinlichkeitsgraden für das Ausbrechen einer Krankheit gezogen werden können, die von sicherem Ausbruch bei Vorliegen des Allels für Chorea Huntington bis zu einem nur wenig spezifischen Risiko für Brustkrebs reichen kann. Zweitens stellt sich im Zusammenhang mit den Testergebnissen die Frage nach der Nutzung derartiger Informationen durch interessierte Dritte wie potenzielle Arbeitgeber und Versicherungen. Hier eröffnet sich ein weiter Reigen der Informationsnutzung zum Schaden der Betroffenen, die eventuell Nachteile in den Sozialversicherungen oder auf dem Arbeitsmarkt gewärtigen müssen. In der Folge dieses Problemkreises drohen eine Entsolidarisierung der Gesellschaft, die existenzielle Lebensrisiken dem Einzelnen aufzubürden droht (81), eine “Präventions-Diktatur”, die die Freiheit der Lebensführung beschneidet (78f.) sowie eine Auflösung des herkömmlichen und ehedem vertrauensstiftenden Arzt-Patienten-Verhältnis, wenn “noch-nicht-kranke Menschen […] noch-nicht-heilen-könnenden Medizinern” gegenüberstehen (75). Die Überlegungen werden durch Beispiele gestützt, die zeigen dass die ersten negativen Folgen dieser Art im bisherigen Umgang mit Gentests schon beobachtet werden konnten (Kap. 12-14).

Ein breites Anwendungsfeld der prädiktiven Medizin ist mit den Reproduktionstechnologien verbunden. Und bezüglich praktisch aller Gesichtspunkte, in die das “Geklonte Paradies” Hoffnungen setzt, gelingt es Fuchs Zweifel an den Erfolgsaussichten zu belegen oder die eigentlichen Motivationen zu hinterfragen beziehungsweise mögliche Aberrationen der Motive in den Mittelpunkt der Kritik zu stellen. Aus den bestehenden Möglichkeiten zur Verhinderung von Erbkrankheiten und den zukünftigen Chancen der pränatalen Behandlung leitet die Autorin einen zu befürchtenden gesellschaftlichen und ökonomischen Zwang ab, wenn sie annimmt, dass es fraglich wird, “ob Eltern dann überhaupt noch die Wahlfreiheit haben, sich für ein Kind mit einer Krankheit oder Behinderung zu entscheiden” (129ff., Zitat 130). Auch Fuchs geht davon aus, dass eine ‘wohlmeinende’ Eugenik von unten zu befürchten ist, die aus gesellschaftlichem Druck entsteht (140). Nachteile befürchtet die Autorin nicht nur für ungeborene Kinder mit möglichen Gendefekten, die nicht ausgetragen zu werden drohen, sondern eine Übertragung eugenischer Denkweisen, die in der Folge der medizinischen Entwicklung, Behinderte allgemeine betreffen wird. Ihrer Meinung nach bestehen “kaum Zweifel” daran, dass “eine Zulassung der PID (PID steht für das gleiche wie PGD = Präimplantationsdiagnostik) zu einer zunehmenden Diskriminierung, Stigmatisierung und Entsolidarisierung von chronisch Kranken, Behinderten und deren Familien führt” (159). Die weiteren Themen sind Keimbahntherapien, denen unter positiv- wie negativeugenischen Aspekten attestiert wird, einem technokratischen Menschenverständnis allein in Hinsicht auf Effizienzsteigerung folgen zu wollen (Kap. 20).

Fuchs weist sodann mit Bezug auf den wirklich äußerst merkwürdigen Vorgang der “versehentlichen” (177) Patentierung eines Verfahrens zur Genmanipulation durch das Europäische Patentamt auf die ethische Problematik der Patentierung von Genen hin, die den bedeutsamen Unterschied von “Erfindung” und “Entdeckung” verwischen (180). Warnungen vor einer neuen Qualität des Verlustes der Hoheit über die eigenen Daten angesichts genetischer Screenmöglichkeiten (Kap. 23 u. 24) und vor der Gefahr des Missbrauchs der nB zu Rüstungszwecken (Kap. 25) schließen diesen Teil ab. “Die Genomfalle” endet mit vier Kapiteln zum Thema Ethik. Bioethik wird hier einseitig als Feigenblatt der Bioindustrie aufgefasst. Dies wird auch mit einer großen Anzahl von Hinweisen ‘belegt’, unter denen Befürworter verschiedenster Teilbereiche biotechnologischer Maßnahmen kritisiert werden. Bezüglich des übergeordneten Themas “mysteriöse Bioethik” (219) fällt auf, dass sämtliche befürwortenden Stimmen als bioethische, bioethisch motivierte Aussagen oder als Aussagen von Bioethikern bezeichnet werden3, während die entsprechenden Gegenstimmen keine Äußerungen zur Bioethik zu sein scheinen, da diese Ausdruck einer universalen Ethik sind, vor der Bioethik keinen Anspruch auf Bestand als Ethik hat (vgl. 216: “gibt die >>Bioethik<< auch bei uns vor, eine gleichrangige […] Spezialethik zu sein”). Diese irritriende Sichtweise, die mit dem eigentlichen Charakter von Bioethik als einer wissenschaftlichen Grundsätzen folgenden Partikularethik aus dem Bereich der praktischen Ethik nichts zu tun hat4, ist irritierend und muss bei der Lektüre des Buches als Spezifikum beachtet werden. Die Sorge, die Fuchs damit nämlich ausdrücken will ist, dass sich unter dem falschen Etikett einer ethischen Herangehensweise an die Themenbereiche der Biotechnologie wirtschaftlich-technokratische Interessen durchzusetzen versuchen, denen die Autorin nicht weniger zutraut, als “alles Sein zu biologisieren” und unser “Menschenbild jüdisch-christlicher Tradition” zu ersetzen.

Neben dem Verdienst, auf eine Reihe ethisch bedeutsamer Probleme aufmerksam zu machen, zeichnet sich die “Genomfalle” leider durch eine Reihe von Pauschalisierungen und Verdächtigungen aus, die sich meist nur in Andeutungen verlieren, ohne echte Beweise für Fehlverhalten zu liefern. Die im obigen Zitat explizierte Konzentration auf unterstellte wirtschaftliche Interessen durchzieht das gesamte Buch und wird oftmals als einziges Motiv für Forschung und Anwendung der nB angesehen5. Desweiteren fällt auf, dass Fuchs auch dazu neigt, beteiligte Forscher pauschal dem Verdacht zu unterstellen, eigennützig beziehungsweise nicht aus Erkenntnisinteresse, sondern aus wirtschaftlichen Gründen und Einflussinteressen heraus zu handeln: “Wissenschaftler ohne Bindung an die Industrie sind […] selten geworden wie Riesenpandas in der freien Wildbahn” (34)6. Diese oft nicht beweisbaren Verdächtigungen und weitere Schwächen in der Form offensichtlicher inhaltlicher Fehler – wie der Datierung von Darwins “Entstehung der Arten” auf das Jahr 1883 und der “Abstammung des Menschen” auf 1902 (133) -, in der Form fragwürdiger Aussagen7 oder durch das sorglose Zitieren von “Gerüchten” (208) beschädigen die Glaubwürdigkeit der Publikation mit ihren eigentlich wichtigen Einwänden. Etwas weniger journalistische Verve, die am besten durch ein gewisses Maß an differenzierender Reflexion ersetzt worden wäre, hätte den Argumenten das Gewicht verliehen, das sie eigentlich verdient hätten.

Zu der pauschalen Ablehnung von Medizin, die auf gentechnischen Methoden basiert, wie sie in der “Genomfalle” zum Ausdruck kommt, ist folgender Einwurf zu tätigen. Stellt es nicht eine für den Betroffenen und besonders den potenziell zukünftig Betroffenen unzulässige Negativromantisierung dar, wenn “Gentechnik als materialisierte Manifestation von Liebesmangel” (235) bezeichnet wird, die besser durch die liebende Annahme der Erkrankten ersetzt werden sollte? Natürlich ist die liebende Annahme des Anderen, gerade wenn er gehandicapt ist, eine zutiefst humane Forderung, die jeder Ethik zur Ehre gereicht. In Fragen der Verwirklichung von Lebensplänen, also in Fragen grundlegender Freiheit des Menschen ist aber die Vermeidung von Behinderung zumindest in ihren schweren Formen eine Forderung, der nicht nachzugeben, wenn dies möglich ist, unmoralisch wäre.

Zu fordern ist eine unbedingte Solidarität mit Erkrankten, Behinderten, Leidenden – die es aufgrund von Unfällen und Krankheiten auch im geklonten Paradies noch geben wird -, es ist aber nicht einzusehen, dass die Freiheit von Menschen, denen geholfen werden könnte , ihr Leben nach bestem Vermögen zu verfolgen, auf dem Altar einer falsch verstandenen Form von Solidarität geopfert werden sollte.

Die Autorin weist darauf hin, dass nur 1,5% aller Kinder mit genetisch bedingten Fehlbildungen zur Welt kommen und meint sodann, dass “eine Wohlstandsgesellschaft damit leben können sollte” (123). Bezogen auf die Gesellschaft ist das zweifellos richtig, bezogen auf die ungefähr 1000 Einzelschicksale, die in Deutschland davon jährlich betroffen sind, stellt sich die Frage, wie die Betroffenen damit leben, in einer völlig anderen Schärfe.

Völlig verfehlt scheint mir in diesem Zusammenhang eine Diskussionsweise, die kraft der Doppeldeutigkeit ihrer Formulierungen falsche Verbindungen zur Sprache der nationalsozialistischen Mörder knüpft.

Der Soziologe Ulrich Beck schreibt: “Es ist mehr als eine sprachliche Unkorrektheit, wenn immer davon die Rede ist, dass man die Erbemph{krankheiten} bekämpfen will. Tatsächlich werden auf diese Weise die Erbkranken abgeschafft” (Beck 1991a, 147; Hvhbg. i. Orig.). Es ist semantisch nicht einmal völlig falsch, dass die Erbkranken letztlich ‘abgeschafft’ werden sollen – auch wenn es eigentlich um die Verhinderung des Ausbruchs von Krankheit geht. Doch anders als gerade diese becksche Formulierung eben in erster Linie nahelegt, sollen natürlich keinesfalls jetzt lebende Menschen abgeschafft werden. Es sollen selbstverständlich gar keine Menschen ‘abgeschafft’, sondern nur der Ausbruch zukünftiger Erbkrankheiten verhindert werden. Und es ist aus einem weiteren Grunde völlig falsch, die Bemühungen der Medizin als “Abschaffung der Erbkranken” zu bezeichnen. Die Krankheit ist nur ein akzidenzielles Merkmal eines bestimmten Menschen, das nicht zu dessen Bestimmung taugt, der also erst gar nicht als “Erbkranker” etikettiert werden dürfte. Dies allerdings sieht auch Beck ähnlich und führt dies am angegebenen Orte explizit aus, ohne sich freilich der inkrimierenden Bezeichnung enthalten zu wollen – mit der er zwar sicher nicht die erkrankten Menschen, sondern die technokratische Medizin treffen wollte. Aber auch dieser gegenüber ist diese Demagogie unfair. Da also eigentlich gemeint ist, Krankheiten verhindern zu wollen, sollte dies auch so genannt werden und nicht mit Worten ausgedrückt werden, deren vorzügliche Konnotation in eine Richtung weist, die verantwortungsvolle Medizin und Wissenschaft auf das Schärfste ablehnen.8

Fuchs stellt die schon zitierte Frage, “ob Eltern […] die Wahlfreiheit haben, sich für ein Kind mit einer […] Behinderung zu entscheiden?” (130). Diese Frage stellt sich in der Tat. Jedoch nicht nur aus den angeführten sozialen und ökonomischen Gründen, sondern auch und besonders aus ethischen Gründen, die das Individuum betreffen. Wenn die einzige Möglichkeit der Verhinderung von Krankheit das Nicht-zur-Welt-kommen-lassen ist, wie dies heute noch für die meisten Erkrankungen aufgrund mangelnder therapeutischer Potenz der Fall ist, ist die Frage nicht einfach zu beantworten, da die Alternative zur behinderten Existenz dann die Nichtexistenz ist. Ist die Alternative jedoch die erfolgversprechende Therapie, fällt die Beantwortung meines Erachtens viel leichter und kann moralisch eigentlich nur in einer Bejahung des Eingriffs bestehen. Die Schweizer Theologin Iréne Häberle schreibt folgende Sätze aus einem sicherlich zutiefst empfundenen Gefühl zwischenmenschlicher Solidarität heraus und trotzdem drohen sie meiner Meinung nach in unzulässiger Weise zum Wohle eines ‘höheren’ Ziels, über das legitime Interesse von Individuen an Unversehrtheit hinweg zu gehen: “Leiden, Krankheit, Behinderung und Tod geht […] jeden etwas an, und zwar nicht deshalb, weil jeder Mensch […] mit diesen Tatsachen in […] Berührung kommt, sondern weil [sie] zum vollen Menschsein gehören. Behinderte Menschen erinnern uns somit alle an unser eigenes Menschsein” (zit. n. Mieth 2001, 99; Hvhbg. i. Orig.). Auch wenn es einer solchen Erinnerung bedarf – ein solcher Hinweis erscheint in der Tat manchmal nötig angesichts einer Gesellschaft, die Jugend, Gesundheit und Schönheit zu Werten zu erheben droht, die Jene ausschließen, die all dies nicht (mehr) sind -, ist Niemandem eine solche Bürde zuzumuten, wenn sie auch verhindert werden kann.

Die Aufforderung zur Solidarität mit Kranken und Behinderten entstammt einer Zeit, in der die Medizin wenig oder nichts tun konnte, um Betroffenen zu helfen, deren Existenz dann wenigstens durch Zuwendung und Annahme durch die Gesellschaft verbessert werden konnte und dergestalt in Form erweiterten humanitären Denkens rückwirkend einen begrüßenswerten Einfluß aus das ethische Bewusstsein von Gesellschaften hatte. Heutige und zukünftige Möglichkeiten der Medizin abzulehnen beziehungsweise ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen zu wollen, um sie allein durch ‘liebende Annahme’ substituieren, ist moralisch nicht haltbar.

Oftmals wird in diesem Zusammenhang auch ausgesagt, dass Krankheit einen eigenen Sinn habe. Dieser wird dann oft so beschrieben, dass Krankheit dazu diene, Menschen klar zu machen, dass Leben immer auch Leid und Verfall beinhalte. Das ist in dieser Formulierung unsinnig und führt zu einer falschen Schlussfolgerung. Krankheit selbst hat nicht den geringsten Sinn, ausser dass im Falle von Infektionskrankheiten darauf verwiesen werden kann, dass hier ein Organismus (ein Parasit, ein Bakterium) ein Leben führt und seine Existenz behauptet. Krankheit erinnert daran, dass Leben auch Leiden und Verfall bedeutet. Dies ist ein Sinn, den der Mensch einer Erkrankung ebenso wie einem Unfall in der Weise zuweisen kann, dass dieser Sinn sich auf sein Leben bezieht und unter Umständen eine bewusstere Lebensführung auslösen kann oder zu mehr Mitgefühl mit der leidenden Kreatur und einer höheren Integration von Kranken, Sterbenden und Behinderten führen kann. Der Sinn ist aber nicht in der Krankheit zu suchen, sondern in der Interpretation der Erkrankung als reflexionsauslösendes Moment insbesondere für Jene, die sich dessen auf andere Weise nicht bewusst zu werden vermögen.

Dieser Befund geht über Haarspalterei aus dem Grund hinaus, dass damit Krankheiten und Behinderungen schon auf der deskriptiven Ebene die Schutzwürdigkeit nicht zugebilligt wird, die sich in romantisierenden Beschreibungen von Krankheiten als ‘irgendwie sinnvoll seiend’ andeutet. Krankheit und Behinderung sind Fakten, mit denen die Welt leben muss und es ist unbestritten, dass sie das oftmals nicht angemessen tut. Aber wenn Krankheit und Behinderung vermeidbar sind, kann es nicht unethisch sein, auf die Vermeidung hinzuwirken, nur weil das Leiden Menschen unter Umständen an andere Werte gemahnt.

Mir ist bewusst, dass ich damit etwas salopp über die schwierige Diskussion darüber, was als Krankheit zu verstehen ist und inwieweit Normsetzung Freiheitswerte bedroht (vgl. bspw. Mieth 2001, 99ff.), hinweggehe. Doch scheint mir schwerste Behinderung intuitiv als solche erkennbar. Schwerste Behinderung bedeutet dabei nicht, dass das Leben nicht wert wäre, es zu führen – sie bedeutet aber schon, dass eine Abwesenheit dieser Form der Behinderung intuitiv und nach allem gesunden Menschenverstand vorzuziehen wäre und als bloße “Erinnerung” an eine humanen Idealen folgende Lebensführung für die Gesellschaft, dem erleidenden Individuum unzumutbar ist. Der gesellschaftliche Nutzen, der aus einer Behinderung ‘gezogen’ werden kann, hat vor dem Einzelschicksal zurückzustehen, wenn das Individuum diesem auf seine Kosten entstehenden Nutzen nicht zustimmt oder zustimmen kann. Die Werke Kafkas und Nietzsches bspw. erklären sich wenigstens zum Teil aus der psychischen Konstitution der Verfasser, die von Schwermut, ja Verzweiflung gezeichnet war. Hätten beide – überspitzt gesagt – potente Stimmungsaufheller wie Prozac zur Verfügung gehabt wären vielleicht weder der “Prozeß” noch der “Zarathustra” je entstanden – zu unserem großen kulturellen Verlust. Hätte man ihnen aber das Mittel verwehren wollen oder dürfen? Nein!

Im Dialog zwischen ‘Controller’ und ‘Savage’ liegen beide falsch. Die Entscheidung für eine Existenz in mediokrer Sicherheit kann nur in einer unfreien Gesellschaft resultieren wie Huxley sie zeichnet. Diese Existenz ist inhuman, da sie in der Tat Gott, Poesie, Freiheit, Reinheit, Gefahr und Sünde zugunsten eines mechanischen Mittelmaßes ausschließt. Auf der anderen Seite wäre es zynisch, auch angesichts einer schwersterkrankten Existenz das Recht auf unerträgliche Schmerzen einzufordern, besonders wenn diese Forderung von Gesunden kommt, die das Risiko pränataler Schädigung nicht mehr zu gewärtigen haben. “I claim them all” ist eine unzulässige Romantisierung im Angesicht einer möglichen Behebbarkeit schwerer Erkrankungen. Die Entwicklung der Medizin bis dahin, kann jedoch unter dem Vorzeichen undifferenzierter Ablehnung der nB gar nicht erst stattfinden. In Fragen der weiteren Erforschung therapeutischer Möglichkeiten auf Grundlage einer Fortentwicklung der nB und der weiteren Entwicklung des gesellschaftlichen Verständnisses von Behinderung scheint mir die einzig richtige Forderung zu sein, beides zu fördern. Das eine tun und das andere nicht unterlassen ist die korrekte Antwort! Kritik üben, aber die Chancen bewahren, ist die Botschaft der parallelen Lektüre so gegensätzlicher Positionen wie der unkritischen Fortschrittsgläubigkeit von Silverund der falsch verstandenen Romantisierung des Leidens bei Fuchs.

Die Beurteilung der nB – besonders in der plakativen Einseitigkeit von Publikationen wie jener von Ursel Fuchs und Lee Silver – sind mit hochgreifenden Hoffnungen und Ängsten verbunden, die in ihrer Extremität bei ruhigem Nachdenken wenig zu überzeugen vermögen. Selbst von einem utopischen Standpunkt aus, scheint die skizzierte Einseitigkeit von Erlösung oder Verdammnis übertrieben. Aber schon die bestehenden Möglichkeiten der Gentechnik und der modernen Medizin sind so machtvoll, dass ihre sozialen und philosophischen Implikationen auf die tiefere Bedeutung wieder aktuell werden lassen, die in dem Dialog zwischen Kontrolleur und Wildem steckt, auf den Huxley die gesamte Erzählung aus der schönen, neuen Welt hinauslaufen lässt. Diese Bedeutung ist in den Positonen von “comfort” und “unhappiness” zu suchen, die eigentlich für ‘Sicherheit’ und ‘Freiheit’ stehen. Ist das so, dann liegt die Vermutung nahe, dass innerhalb des dadurch eröffneten Spannungsverhältnisses ein Ausgleich zu suchen ist. Die Basis dafür kann nur in ethischen Überlegungen und Auseinandersetzungen zu suchen sein, die damit als eine der notwendigen Bedingungen für die Akzeptanz aber auch die Legitimität der Anwendungspraxis der nB – und natürlich nicht nur der neuen und nicht nur der Bio-, sondern jeglicher Technologie. Welche Rolle Ethik in Bezug auf die nB zu spielen hat und warum ich dies imperativisch ausdrücke, ist Inhalt des folgenden Abschnitts.


 

1 Der eigentlich einschlägige Terminus lautet Technikfolgenabschätzung. Heiner Hastedt hat jedoch zurecht vorgeschlagen, von Technologiefolgenabschätzung zu sprechen, um den “Gesamtkomplex von Forschung und Forschungsanwendung” zu bezeichnen (Hastedt 1991, 124). (zurück)

2 Das Bild ist illustrativ bzgl. der Weite der divergierenden Entwicklung, die Silver unterstellt, es hat jedoch mit der Intention der wellsschen Vision nichts zu tun. Wells versucht in “The Time Machine” gerade vor den Gefahren eines rein technokratisch-kapitalistischen Zeitalters zu warnen, das den Menschen auf Seiten der Kapitalisten wie der Arbeiter inhuman werden lässt und ihm jegliche Würde raubt (Wells 1924): “Ages ago […] man had thrust his brother man out of the ease and the sunshine. And now that Brother was coming back – changed.” (75) “These Eloi were mere fatted cattle, which the ant-like Morlocks preserved and preyed upon” (81). (zurück)

3 Die Befürwortung einer Verminderung des Lebensschutzes Ungeborener gegenüber Geborenen wird als “krass bioethisch” bezeichnet (138), Hans-Martin Sass ist als Befürworter der Keimbahntherapie ein “ausgewiesener Bioethiker” (156), dem Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands Manfred Kock wird vorgeworfen, die Menschenwürde “bioethisch wegdefinieren” zu wollen (225), die Bioethik selbst wird als “Ethik der Interessen” bezeichnet (216). (zurück)

4 Ein einseitig instrumentalistisches Verständnis von Bioethik als einer “Ethik der Interessen” von Industrie und Naturwissenschaft die einer “Würde-Ethik” (Fuchs 2000, 216) gegenübergestellt wird und unter dem Verdacht steht Werte wie die Würde des menschlichen Lebens abzulehnen, sei ausdrücklich abgelehnt. Renée Krebs sieht die Bioethik als eine “eigens für die [biotechnische Medizin] entwickelte Legitimationstheorie” (191) an und hält aber auch von der Ethik insgesamt heute nur wenig, die sie nurmehr als “Bestandteil von Werbestrategien” und “leere Hülle” begreift (193). Das heißt nun nicht, dass die beobachtete Einseitigkeit und Instrumentaliserung nicht vorkäme, doch hat dies nichts mit Bioethik als wissenschaftlicher Teildisziplin der Ethik zu tun und würde sich im wissenschaftlichen Diskurs ins Abseits stellen. Statt der Interpretationen bei Fuchs und besonders bei Krebs ist meiner Meinung nach für eine recht verstandene Bioethik in Anspruch zu nehmen, dass sie wie alle angewandte Ethik zwar erstens versucht Verbindlichkeit dadurch zu begründen, dass sie “den Unbedingtheitsanspruch der Moralität im Zusammenhang mit der Moral bzw. dem Ethos einer einzelnen Handlungswissenschaft auslegt” (Pieper 2000, 93), dabei aber zweitens unter allen Umständen Wissenschaftscharakter bewahrt, also Transparenz- und Wahrhaftigkeitskriterien befolgt. (zurück)

5 Vgl. besonders die Ausführungen zum Humangenomprojekt (Kap. 2), zu angeblich industriegeleiteter aber steuerfinanzierter Grundlagenforschung (32ff.), die Annahme, für Somatotropin und Interleukine würden ohne therapeutischen Nutzen eigene Märkte geschaffen (63ff.), die Ausführungen darüber, dass Grundlagenforschung zu genetischen Ursachen von Lungenkrebs von der Tabakindustrie als Ablenkung von der Gefahr des Rauchens finanziert wird (86), die Bemerkungen über die Rolle von Embryonen als wirschaftlich zu nutzender “Rohstoff” (148f.) und die angeblich rein privatwirtschaftlichen Hintergründe der Gendatenbanken auf Island und den Färöer-Inseln (206ff.). (zurück)

6 Bekannte Forscherinnen und Forscher wie Craig Venter (in Verbindung mit Celera Genomics, 29ff.), Ernst-Ludwig Winnacker (in Verbindung mit MediGene, 34f., 169) und Christiane Nüsslein-Vollhard (in Verbindung mit Bayer, 35) werden als Beispiele für wirtschaftlich korrumpierte Wissenschaftler genannt, Ludger Honnefelder wird Multifunktionärstätigkeit in acht verschiedenen Gremien aus reinen Einflussinteressen unterstellt (221f.) und Hans-Martin Sass gerät völlig themenunabhängig als (ehemaliges) Mitglied der Mun-Sekte in die Kritik (168, 213). (zurück)

7 So schreibt Fuchs im Rahmen einer Kritik der gentechnischen Herstellung von Humaninsulin, mit der Intention die Erkrankung Diabetes Mellitus als primäre Wohlstandskrankheit unter Absehung von ihrer genetisch bedingten Herkunft zu erklären unter anderem: “Die Kombination von Fabrikzucker mit Auszugsmehl bringt auf lange Sicht den Insulinstofffwechsel zum Erliegen” (58). Diese Aussage ist durch medizinische Erkenntnisse nicht gedeckt. Wenn auch noch einiges an der Pathogenese des insulinpflichtigen wie des nichtinsulinpflichtigen und des TypI- wie des TypII-Diabetes unklar ist, steht doch fest, dass eine genetische Prädisposition vorhanden sein muss. Vgl. zur Genese des Diabetes Foster 1999, 2425ff. u. 2428f.; für die Rolle, die die Ernährung bei der Ernährung und der Therapie spielt Biesalski et al 1995 303ff. Knappe, patientengerechte Informationen veröffentlicht unter vielen anderen bspw. die Universität Düsseldorf im Internet unter der Adresse www.diabetes.uni-duesseldorf.de/wasistdiabetes. (zurück)

8 Dazu kommt, dass sich bei Beck eine Verkennung der biologischen Grundlagen von Krankheitsvererbung offenbart. Die meisten Erbkrankheiten werden heterozygot vererbt, sie kommen also nur zum Ausbruch, wenn zwei Merkmalsträger ihre rezessiven Allele vererben. Wenn man das Genom eines beliebigen Menschen untersucht, dürften in den allermeisten Fällen Anlagen für irgendeine Erbkrankheit zu finden sein. Schon das ist ein Argument , das jegliche Eugenik reiner Form ad absurdum führt. Um bspw. die Mukoviszidose ‘abzuschaffen’, deren Anlage bei 4% der Bevölkerung in Deutschland in rezessiver Form im Genom vorliegt, müssten 3,2 Millionen Menschen … abgeschafft werden? (zurück)

 

Literatur:

Beck, Ulrich (1991): Eugenik der Zukunft. In: ders. (Hrsg.): Politik in der Risikogesellschaft. 147-153. [urspr. in: Der Spiegel 47/1988]

Biesalski, Konrad/, Fürst, Peter/ Kasper, Heinrich/ Kluthe, Reinhold/ Pölert, Wolfgang/ Puchstein, Christian/ Stähelin, Hannes B. (1995): Ernährungsmedizin. Stuttgart: Thieme.

Bullinger, Hans-Jörg (Hrsg.) (1994): Technikfolgenabschätzung. Stuttgart: B.G. Teubner.

Fauci, Anthony S./ Braunwald, Eugene/ Isselbacher, Kurt J./ Wilson, Jean D./ Martin, Joseph B./ Kasper, Dennis L./ Hauser, Stephen L./ Longo, Dan L. (Hrsg.) (textsuperscript{14}1999): Harrisons Innere Medizin. 2 Bände. Maidenhead: MacGraw Hill.

Foster, Daniel W. (1999): Diabetes Mellitus. In: Fauci et al (Hrsg.): Harrisons Innere Medizin. II, 2421-2448.

Fuchs, Ursel (2000): Die Genomfalle. Die Versprechungen der Gentechnik, ihre Nebenwirkungen und Folgen. Düsseldorf: Patmos.

Fukuyama, Francis (2002): Das Ende des Menschen. Stuttgart, München: Deutsche Verlagsanstalt.

Grupp, Hariolf (1994): Einordnung der Methoden der Technikfolgenabschätzung in das Gefüge der Wissenschaften. In: H.-J. Bullinger: Technikfolgenabschätzung. 55-86.

Habermas, Jürgen:Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hastedt, Heiner (1991): Aufklärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Huxley, Aldous (1998): Brave New World. Harlow: Addison Wesley Longman.

Krebs, Renée (1997): Mit der Bioethik auf dem Weg zum programmierten Menschen. In: B. Maris (Hrsg.): Die Schöpfung verbessern?. 191-222.

Maris, Bart (Hrsg.) (1997): Die Schöpfung verbessern? Möglichkeiten und Abgründe der Gentechnik – ein Weg ohne Umkehr? Stuttgart: Urachhaus.

Mieth, Dietmar (2001): Die Diktatur der Gene. Biotechnik zwischen Machbarkeit und Menschenwürde. Freiburg, Basel, Wien: Herder.

Mohr, Hans (1998): Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis. Schriften der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Nr. 3. Berlin u.a.: Springer.

Pieper, Annemarie (2000): Einführung in die Ethik. Tübingen, Basel: Francke.

Silver, Lee M. (1998): Das geklonte Paradies. Künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend. München: Dromersche Verlagsanstalt.

Skorupinski, Barbara/ Ott, Konrad (2000): Technikfolgenabschätzung und Ethik. eine Verhältnisbestimmung in Theorie und Praxis. Zürich: Hochschulverlag der ETH Zürich.

Wells, Herbert George (1924): The Time Machine. In: ders.: Works, Vol. I. London: Fisher & Unwin. 1-118.

(Bochum 05/´02)