Das ‘Fenster’

© Frank Weinreich

(Abgedruckt in Schneidewind/ Weinreich: Mittelerde ist unser Welt. 209 – 215)


Vor zwei Wochen bekam ich einen merkwürdigen Brief von einem alten Kollegen, mit dem ich damals in einer großen Buchhandelskette in Köln eine Lehre als Buchhändler gemacht hatte. Ich weiß gar nicht mal, warum er den Brief ausgerechnet an mich adressierte, denn so nah standen wir uns nicht, als dass zu erwarten gewesen wäre, dass er mir eine so merkwürdige seine Schwester betreffende Geschichte erzählen würde. Es muss wohl daran liegen, dass ich mich mittlerweile mit einem eigenen Laden auf phantastische Literatur spezialisiert habe und er meine Meinung in erster Linie wegen eines Buches erfahren wollte, um dass es bei dem ungelösten Vorkommnis ging, davon dem seine Schwester berichtete. Nun, ich gebe Euch seinen Brief und die beigelegten Papiere einfach mal zu lesen.


 

 

Lieber Frank,

Das Folgende muss ich Dir einfach berichten, denn vielleicht erkennst Du ja einen Sinn darin, der mir weiter hilft. Was sonst könnte ich auch damit machen, als es Dir zu schicken? Glaubhaft ist nämlich nichts von dem, was meine Schwester als letztes Zeugnis vor ihrem Verschwinden hinterlassen hat. Die Polizei wird es nur als Beweis einer überbordenden Phantasie und Hinweis auf psychische Instabilität werten. Und zu Recht, denke ich. Doch mehr ist mir von ihr nicht geblieben.

Seit drei Wochen hat sie niemand mehr gesehen. Als sie aus dem Urlaub zurückgekommen war – merkwürdig, ich habe vergessen, wo sie eigentlich war – haben wir noch miteinander telefoniert und sie war von völliger Aufregung geprägt. Ich kann gar nicht sagen, was sie mir alles erzählt hat, doch sprudelte sie schier über. Und drei Tage später, zu Mutters Todestag, meldete sie sich nicht mehr, obwohl wir sonst immer telefonierten, uns oft auch besuchten an diesem Tag. Doch sie meldete sich nicht und ich konnte sie nicht erreichen. Seit zwei Wochen. Wäre nicht dieser blöde verkaufsoffene Sonntag zuhause dazwischen gekommen, dann wäre ich schon früher nach Tübingen gefahren, wo sie studiert. Doch wer weiß, was das genützt hätte. Denn hier, in ihrer Wohnung, fand ich nur noch einen langen Brief. Adressiert an mich, nie abgeschickt, denn sie wusste, dass ich ja doch kommen würde. Lies dir das bitte durch, Frank, und hilf mir zu verstehen, wovon sie da redet.

Lieber Ralf,

ich kann dir gar nicht sagen, wie aufgewühlt ich bin, von dem, was ich im Dartmoor erlebt habe. Aber ich bin bei klarem Verstand (hoffe ich zumindest) und weiß genau was ich tue. Verzeih´ mir das ich mit Dir nicht vorher darüber spreche, aber ich Du bist immer so beherrscht und ich fürchte, Du würdest es irgendwie schaffen können, es mir auszureden. Obwohl mein Entschluss fest steht und ich sicher bin, dass es das Beste ist, meinen Gefühlen zu folgen. Doch lass mich erklären.

Wie Du weißt, hat Roland mich auf dieses Tolkien-Seminar im Dartmoor aufmerksam gemacht, das von Friedhelm Schneidewind geleitet wird. Der Typ ist wirklich gut drauf, was Tolkien angeht und von den Leuten, die mitfahren sollten, kannte ich auch einige vorher. Es brauchte nicht viel, um mein „Herr der Ringe“-Fieber wieder zu entfachen.

Und außerdem: Du wolltest doch immer, dass ich auch anfange, zu fotografieren und hast mir diese tolle Kamera geschenkt. Nun, auf diesem Seminar sollten tagsüber Bilder für einen Fotoband vom Auenland, dass Du so liebst, angefertigt werden und abends würden wir die Verfilmung sehen und Friedhelm würde eine ganze Reihe von Vorträgen und Lesungen über Mittelerde halten. Unter der Hand hat Roland mir dann auch noch 150 Euro nachgelassen, weil dieser eine Platz noch frei war und da fiel es mir nicht schwer, zu zusagen. Wir sind also vor neun Tagen los nach England gefahren. Auf eine Reise, wie ich für mich heimlich dachte, nach Mittelerde, mit Boromir natürlich an meiner Seite (Du weißt ja wie ich bin). Und es war zunächst auch wirklich einfach nur schön.

Schau Dir die Bilder in dem Fotoband an und Du siehst es. (Du bekommst mein Freiexemplar – ich habe Roland deswegen gerade noch eine Mail geschickt.) Du wirst sehen, dass Deine Schwester noch berühmt werden wird mit ihrer visuellen Interpretation des meistverkauften Buches aller Zeiten.

Die Überfahrt war okay, die Unterkunft in Drewsteignton, am Rande des Moors, einfach nur schön und schon am ersten Abend war klar, dass ich die Leute alle mögen würde, die mit waren. Roland ist nur nett und witzig, das weißt Du ja. Friedhelm stellte sich als total netter Typ heraus, gar kein Oberlehrer, wie er es ja auch hätte sein können. Bernie, unseren Waldläufer und hoffnungslosen Romantiker, kennst Du ja auch und die anderen waren genauso nett, besonders Nicole. Die würde ich Dir gerne vorstellen, wenn ich noch könnte.

Roland hat uns dann die ganze Woche fürchterlich durchs Moor gescheucht (schau dir mal das Archiv der Webcam in Postbridge an, vielleicht siehst Du uns ja auf einem der Bilder noch). Abends dann Film und Vortrag. Es war richtig klasse! Doch dann passierte etwas.

Roland meinte, dass uns noch Detailaufnahmen fehlen würden. Er schlug vor, dass wir den ganzen vorletzten Tag unseres Aufenthaltes hier im Moor in der Nähe des Vixen Tor bleiben sollten. Am letzten Tag würden wir dann rund um Tintagel vielleicht noch Impressionen von den Grauen Anfurten fotografieren können, aber die Details seien zunächst wichtiger.

Okay, Tolkien hat an Mittelengland gedacht, als er das Auenland erfand, aber Teile des Dartmoor wären auch kein schlechter Pate gewesen. Oben am Tor gibt es Felsen und Mäuerchen und weite Wiesen. Unterhalb des Tors, fünf Minuten zu Fuß, gibt es einen kleinen Steinbruch, der auf etwa 15 mal 10 Meter mit Wasser vollgelaufen ist und einen idyllischen kleinen Teich bildet. Am Ufer des Teiches, und weiter entfernt, sind kleine baumbestandene Wiesen, ähnlich der Szenerie, in der Frodo im ersten Teil der Verfilmung von Peter Jackson auf Gandalf trifft. Und dann gibt es da noch einen kleinen plätschernden Fluss wie die Weidenwinde, nur ohne Weiden. Genug Objekte also, um all die kleinen Details des Auenlandes darzustellen, die den Band erst richtig rund machen.

Mittags lagerten wir alle – mit Ausnahme von Friedhelm, der war gar nicht mitgekommen – an dem kleinen Teich und dösten mehr oder weniger vor uns hin. Nicole war ein bisschen spazieren gegangen und rief uns plötzlich zu sich. Schräg hinter dem Teich führte ein Teil des Steinbruchs noch etwas tiefer hinunter in eine Senke, die mit einem riesigen Gewirr aus Brombeeren und anderem stachligen Zeug bewachsen war. Da unten war es ziemlich dunkel und Nicole zeigte aufgeregt hinein.

Zuerst sah ich nichts, meine Augen waren noch ganz an den prallen Sonnenschein auf der Wiese gewöhnt. Aber auch hier unten schien die Sonne in einem schmalen Band und so langsam konnte ich erkennen, dass es direkt dahinter dunkler war, als es eigentlich hätte sein dürfen. An den Reaktionen der anderen sah ich, dass ihnen dies auch auffiel. Es war, so wurde mir klar, als wenn man durch ein Fenster in eine Schlucht sähe. In eine Schlucht, die zu groß war, als dass sie in diese kleine Ecke gepasst hätte – ganz als stünde dort eine Leinwand und erlaubte einen Blick in ein echtes Tal beziehungsweise in das Ende eines Tales oder einer Schlucht. In eine Schlucht bei Nacht.

Im Vordergrund war die glatte Oberfläche eines Sees zu sehen. Oder eines Teiches? Es war schwer, die Größe abzuschätzen. Aber nein, es war ein See, zumindest ein kleiner. Dann folgte ein schmaler Uferstreifen und eine aufragende Felswand. Alles sah alt aus, alt und verwittert, der See wirkte still und irgendwie … krank.

„Was ist das?“ – ich habe keine Ahnung, wer das fragte, denn das musste wohl Jedem durch den Kopf gehen.

Bernie war der erste, der etwas unternahm und näher heranging. Er drehte sich um, sah wieder zurück in die nächtliche Schlucht, blickte wieder kopfschüttelnd zum sonnigen Himmel hoch und versuchte Blickwinkel, Beleuchtung und die merkwürdig verzerrten Perspektiven von hier und dort in Einklang zu bringen.

„Das ist wie ein … ja weiß nicht, wie ein Fenster, oder so. Ein Fenster oder eine Leinwand, aber nicht so radikal anders“, rief Bernie hoch und ging noch etwas tiefer hinein und näher auf das ‘Fenster’ zu.

„Sei vorsichtig, das ist mehr ein Loch. Geh nicht so nah dran!“ rief Roland zurück, der ein wenig nach links und erhöht auf ein paar Steinblöcke geklettert war. Aus der erhöhten Perspektive konnte er sehen, dass hinter dem Anblick dieses Etwas das ganz normale Gestrüpp wucherte und die Wand des Steinbruchs in die Höhe führte, aber höchstens fünf Meter, während der frontale Anblick, den Bernie hatte, ihm eine turmhohe Felswand zeigte.

Vorsichtig gingen wir dann alle etwas näher heran, Bernie immer noch vor uns und am nächsten dran. Ich weiß nicht, was die anderen fühlten, aber ich empfand komischerweise keine Angst, nur Spannung und eine merkwürdige Erwartung, so als ob ich wüsste, dass noch etwas kommen würde.

Und es kam etwas. Der Mond ging auf. Nicht unser Mond, denn bei uns schien noch die Sonne. Nein, es war der Mond in diesem nächtlichen Fenster, der die Schlucht plötzlich in silbriges Licht badete. Das geschah so plötzlich, dass es wohl weniger ein Mondaufgang, als ein plötzliches Aufreißen der Wolkendecke gewesen musste. Und in der Wand erschien ein silbriges Glühen und nahm uns den Atem.

Denn was sich dort abzeichnete, das war uns allen wohlbekannt, das hatten wir am Montag erst, viel armseliger, im Film gesehen: Als wenn Silberadern in eigenem Licht aufstrahlten, erschienen da Linien im Fels und verbanden sich zu Hammer, Amboss, sieben Sternen und zwei Bäumen, umkränzt von geschwungenen Schriftzeichen. Für mehrere Minuten sagte niemand ein Wort – oder waren es doch nur Sekunden? Es herrschte völlige Ruhe, bis ich Nicoles Stimme flüstern hörte: „Die Tore Durins, des Herrn von Moria. Sprich, Freund, und tritt ein.“

Auch das konnte den Zauber nicht brechen, es vertiefte ihn nur noch. Wie in Trance ging Bernie langsam auf das ‘Fenster’ zu und wäre fast hinein gelaufen, wenn nicht Rolands scharfer Zuruf ihn gebremst hätte. Auch dann brach merkwürdigerweise keine Aufregung los. Vielmehr fanden wir uns, ohne Absprache, in einem weiten, lockeren Drittelkreis zusammen, dessen Zentrum das Fenster bildete. Das Gebüsch am Ende dieses Taleinschnittes erlaubte es nicht, den Kreis weiter aufzuspannen, um an seinen Enden dann hinter das ‘Fenster’ blicken zu können.

Ich weiß, es klingt blöd, dass wir nur darum herum standen und … ja, einfach nur schauten; glotzten, meinetwegen. Aber Du kannst Dir den Zauber nicht vorstellen, der von dieser Szene ausging. Der kleine Steinbruch, der uns mit seinem Auenlandcharakter in Stimmung gebracht hatte, gefolgt von den geheimnisvollen Ausblicken in eine unmögliche Nacht und dann das sanfte Flammen des Mondlichts und die strahlende Antwort im Fels. Eine Antwort, die uns nach einer Woche geistigem Urlaub in Tolkiens Schöpfung plötzlich körperlich dorthin zu versetzen schien. Du hättest auch nicht anders reagiert!

Leise, wie um ja nichts zu stören, begannen wir miteinander zu sprechen. Ich weiß gar nicht mehr, was wir genau sagten, aber hauptsächlich vergewisserten wir uns wohl dessen, was wir zu Gesicht bekamen. Was mir allerdings auffiel – und ich sprach später komischerweise mit keinem der anderen darüber – war ein manchmal zuckendes Flackern am Rande der Wahrnehmung des Fensters, so als würde der Empfang in einem Fernsehgerät gestört.

Bernie, natürlich, ergriff als Erster die Initiative, das Phänomen genauer zu untersuchen und warf einen Stein in das ‘Fenster’. Der flog hindurch und platschte in das Wasser des Sees auf der anderen Seite. Nein, er platschte eben nicht, denn kein Laut war zu hören und doch breiteten sich unmissverständliche kreisförmige Wellen rund um die Stelle aus, an der der Stein in den See gefallen war.

Bernie versuchte es nochmal – gleiches Ergebnis. Roland schleuderte einen kleineren Stein bis über den See hinaus, so dass er an der Steinwand aufschlug, runterkollerte und am Ufer liegen blieb. Auch jetzt – kein Ton zu hören. Aber der Stein, der lag dort am Ufer – eindeutig. Oder?

Ich band mein Halstuch um einen weiteren Stein und warf ihn hinterher. Lautlos kollidierte auch er mit der Wand und rollte auf den Boden hinunter. Der Knoten hatte sich gelöst und ein Ende des Halstuches lag offen auf dem Boden. Das mit silbernem Faden gestickte Nike-Logo glitzerte nun auf dem Boden des ehemaligen Torwegs am Sirannon.

Bernie suchte sich als Nächstes einen Stock, ging bis auf Armeslänge an das ‘Fenster’ heran und steckte den Stock vorsichtig hindurch. Ein wenig sah das aus, als ob er ihn in Wasser stecken würde, denn der Stock erschien auf der anderen Seite in einem leicht abgeknickten Winkel. Aber das war eindeutig der Stock, den Bernie hielt. An dem Bernie zog, doch er bewegte sich nicht. Roland trat hinzu und half ziehen, doch der Stock ging keinen Millimeter zurück, ja er zitterte nicht einmal und saß so fest, als sei er eingemauert. Doch nur in der Rückwärtsbewegung, ihn auf und ab zu bewegen, das ging ebenso wie ihn weiter hinein zu schieben. Als sie ihn fallen ließen, hing ein Viertel auf unserer Seite, drei Viertel schwammen, abgeknickt, drüben auf dem Wasser und die leichten Bewegungen des schwimmenden längeren Endes setzten sich im hiesigen Ende fort. Was immer in das ‘Drüben’ eintrat, es konnte nicht wieder zurück, soviel war offensichtlich.

Dann verschwand die ganze Szenerie von einem Augenblick zum anderen und wir blickten in das wuchernde Gebüsch am unteren Ende unseres Steinbruches zu Füßen des vom Vixen Tor gekrönten Hügels. Der Zauber brach und – „Endlich!“ so kam es mir fast vor – brach sich die Aufregung Bahn, die man angesichts der Erlebnisse erwarten durfte. Wir rieben uns die Augen, wir diskutierten, wir waren ratlos und doch euphorisch. Dass auf dem Boden das hiesige Viertel des Stockes zurückgeblieben war und eine wie mit einem Laser ausgeführte Schnittstelle aufwies, das fiel uns erst später auf.

Aber es war kein kollektiver Wachtraum, das sollte sich am nächsten Tag endgültig beweisen, auch wenn es eines solchen Beweises für uns spätestens dann nicht mehr bedurfte, als das ‘Fenster’ nach einer halben Stunde wieder auftauchte. Es war die gleiche Szene, nur ohne Mondlicht, weshalb die Silberadern im Fels nicht mehr zu sehen waren. Jetzt erschien und verschwand das Fenster jedoch in kürzeren Abständen und nach einiger Zeit bemerkte ich, dass dies mit dem Sonnenschein auf unserer Seite zusammenhing. Es war eine lockere Bewölkung aufgezogen und immer wenn diese das Sonnenband abschnitt, welches in die kleine Senke schien, so verschwand das ‘Fenster’. Kam die Sonne wieder hervor, so erschien es wieder.

Gegen fünf Uhr führte ihr Lauf die Sonne hinter die Bäume und die Erscheinung verging. Für heute.

Ja, wir kamen auch irgendwann wieder in unsere Unterkunft zurück. Die Fortsetzung des Filmes sahen wir an dem Abend aber ebenso wenig wie wir einen Vortrag von Friedhelm hörten. Ganz im Gegenteil war es an Friedhelm, heute zuzuhören, was er mit konstantem Unglauben tat. Aber wir hatten ja noch einen Tag. Einen Tag noch, um wieder zum Steinbruch zurück zu gehen.

Ich schlief keinen Augenblick in dieser Nacht, die anderen wohl auch nicht. Irgendwann wollte ich allein sein und ging stundenlang spazieren. Woran ich dachte? Nur an eine Sache: Sollst du es wirklich tun? Und die Argumente in meinem Kopf drehten sich um die Endgültigkeit gelebter Träume, auf die ich mich einlassen müsste, wenn ich hinüber gehen würde. Und natürlich um Boromir.

Das muss allen ähnlich gegangen sein. Aber nur Bernie, Sucher der er war, hatte sich zu einer Entscheidung durchringen können.

Roland wollte ihm das Mitgehen verbieten, als er am nächsten Morgen sah wie Bernie, als einziger von uns, mit vollem Rucksack die Treppe herunter kam. Wir alle wollten ihm die Absicht ausreden, die seiner entschlossenen Erscheinung auch ohne weitere Erklärungen zu entnehmen war. In dem Augenblick begann wohl auch Friedhelm zu glauben, dass wir etwas Wirkliches erlebt hatten. Natürlich fuhren dann doch alle.

Die Sonne stand noch für eine ganze Weile nicht hoch genug am Himmel, um ihre Strahlen in die Senke hinab schicken zu können. Und die Diskussionen gingen weiter. Aber Bernie ließ sich nicht irre machen. Er saß da, hörte zu, schüttelte den Kopf und schnitzte mit seinem Jagdmesser aus unverwüstlichem Damaszenerstahl (sein ganzer Stolz, er hatte sich das Geld dafür vor Jahren als Schüler in vielen Monaten durch das Austragen von Zeitungen verdient) an einem Wanderstock.

Selbst wenn man einmal annehmen wollte, dass dem allen wirklich so war, wie es erschien, so begannen Friedhelms Argumente, die – wohl weil er den gestrigen Zauber nicht selbst erlebt hatte – noch am vernünftigsten waren, so sprach doch nahezu alles dagegen, sich auf diesen Einwegtrip zu begeben. Sicher, noch konnte der Ringkrieg nicht ausgebrochen sein, denn die Gefährten waren ja noch nicht hier gewesen, wie das intakte Westtor Morias bewies. Aber wie wollte ein von der Zivilisation verwöhnter Mensch sich in Mittelerde zurecht finden? Selbst wenn Bernie der Versuchung widerstand, Moria zu betreten, so lägen immer noch gute 200 Meilen durch das menschenleere Eregion vor ihm, bevor er nach Bruchtal käme. Wie wollte er das schaffen? Ohne Sprachkenntnisse, denn Westron würde in der Realität (haha) wohl kaum Englisch sein, ohne Erfahrung im Überleben in der Wildnis (das stimmte nicht, denn Bernie wurde nicht umsonst scherzhaft Waldläufer genannt), mit ein paar Keksen und zwei Wasserflaschen bevorratet, ohne Kampferfahrung – das Ganze wäre sicherer Selbstmord, wenn dies denn wirklich der mögliche Einstiegspunkt in eine andere Welt sein sollte.

Bernie gab irgendwann klein bei. Doch das war nur um unser Gewissen zu beruhigen, wie sich bald zeigen sollte. Und, wenn wir ehrlich waren, dann ließen wir unser Gewissen nur zu gerne beruhigen, ohne wirklich an Bernies Umkehr zu glauben.

Es kam, wie es kommen musste. Mit dem Sonnenband in der Senke erschien das ‘Fenster’ und Bernie war mit ein paar Schritten hindurch. Er hatte sich die äußerste rechte Ecke des ‘Fensters’ ausgesucht, wo der Uferstreifen schon fast begann und er kam nahezu trockenen Fußes drüben an. Es überraschte kaum jemanden wirklich, denke ich. Kein Abschied, kein Zögern, keine Umkehr möglich.

Zumindest der Übergang klappte. Er kam hinüber und es schien ihm gut zu gehen. Schall übertrug sich wirklich weder in die eine noch in die andere Richtung und so standen wir in stummem Lebewohl vereint – wir hier, Bernie dort. Und dann musste natürlich der Mond erscheinen und das Ithildin erstrahlen lassen. Ich wusste instinktiv, dass er diesem Lockruf nicht würde widerstehen können und anders als Gandalf musste Bernie natürlich nicht lange rumraten, was „Sprich, Freund, und tritt ein“ wohl heißen sollte. Er sprach´s und trat ein. Er hatte sich wohl wissend nicht einmal zu uns umgedreht bis er im noch tieferen Dunkel Morias verschwand und die Tore Durins sich langsam hinter ihm schlossen.

Und nun? Bernie hatte Eltern, Geschwister und eine Freundin, die auf Erklärungen warten würden. Doch was konnten wir erklären? Die Wahrheit? Man würde uns einsperren. Bernie würde es auch nicht helfen, der konnte sich nur noch selbst helfen und vielleicht war sein Leben ja jetzt wirklich besser; endlich erfüllt.

Irgendwann beschlossen wir, zu schweigen.

Niemals ein Wort zu sagen.

Wir haben uns die Entscheidung, was zu tun sei, nicht einfach gemacht. Lang wogte die Diskussion hin und her. Dabei hatte ich kein Problem mit Bernies Entscheidung und ihren Konsequenzen. Ich verstand, was ihn bewegte, nur zu gut.

So achtete ich denn auch mehr auf das ‘Fenster’ als auf die Diskussion und mir fiel auf, dass das Flackern, welches manchmal durch das ‘Fenster’ lief, nicht mit der Sonneneinstrahlung korrespondierte. Vielmehr ging es von der Basis des Fensters aus, die gar nicht gänzlich gerade war, sondern aus einem mittig liegenden Punkt in einem weiten Winkel entsprang. Es war ein wenig wie das Bild, das der Projektionsstrahl eines Beamers wirft, nur mit einem viel weiteren Winkel von fast 180 Grad. Hier hatte das ‘Fenster’ seinen Ursprung. Und der lag wiederum in einer kleinen sphärischen Scherbe, die inmitten eines schmalen Rinnsals lag, das sich in das Gebüsch ergoss. Die Scherbe lag innerhalb des Bandes, das die Sonne in die Senke warf, doch war die Sonne nicht das einzige, das Einfluss auf das ‘Fenster’ nahm. Denn immer, wenn die Scherbe für Sekundenbruchteile einmal nicht von Wasser benetzt war – es war wirklich ein sehr kleines Rinnsal – dann entstand dieses Flackern.

Um kurz nach fünf Uhr verließen wir den Steinbruch. Und erlebten erneut eine unruhige Nacht, kein Wunder.

Am nächsten Tag mussten wir fahren. Vorher besuchten wir jedoch ein weiteres Mal den Steinbruch zu Füßen des Vixen Tor. Wollten uns vergewissern. Ob wir es auch richtig machten. Ob nicht vielleicht ein Wunder geschehen würde, das Bernie zurück brächte.

Was dann jedoch passierte, stürzte die Gruppe in noch größere Verwirrung. Denn das ‘Fenster’ erschien trotz perfekten Sonnenstandes nicht mehr.

Mich verwirrte das nicht. Denn ich hatte die Scherbe gestern, als die Sonne hinter den Bäumen verschwand, an mich genommen. Glatt, warm und trocken spürte ich sie auch jetzt in meiner Hosentasche.

Und dann? Roland und Friedhelm haben den Behörden hier wie drüben glaubhaft machen können, dass Bernie von einer Solowanderung ins Moor nicht zurückgekommen war. Die beiden haben sich dumm gestellt und ausgesagt, sie wüssten auch nicht, wo Bernie abgeblieben sein könne. Aber das hat natürlich ein Nachspiel. Und bevor die Bullen hier auftauchen und mich wer weiß wie lange ausquetschen, gehe ich lieber sofort. Jetzt wo ich die Sicherheit habe, dass ich wirklich hinüber und etwas erreichen kann, gibt es keinen Grund Boromir warten zu lassen.

Denn es ist noch etwas passiert. Du weißt, dass ich Bernie sehr gerne habe. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Sorge um sein Schicksal las ich gestern tief in der Nacht noch einmal das Kapitel, das den Weg der Gruppe durch das Dunkel Morias beschreibt. Schließlich ist dies der Weg, den auch Bernie jetzt beschreitet. Du erinnerst Dich sicher an die Stelle, wo Pippin den Stein in den Brunnenschacht wirft. Schau noch einmal ins Buch, mein Lieber! Jetzt gibt es diese Szene nicht mehr. Statt dessen findet Merry in diesem Raum ein Skelett und sieht etwas darunter funkeln. Was da funkelt ist eine Damaszenerklinge!

Die kann zwar niemand von den Gefährten identifizieren, aber sie ist schärfer als alles, was Aragorn bisher zu Gesicht kam. Merry trägt sie von nun an statt des Messers von Westernis und fügt dem Hexenkönig jetzt mit dieser Klinge jenen Stich zu, der ihn stürzen lässt und Éowyn den tödlichen Streich erlaubt. Und dabei zerfällt die Damaszenerklinge nicht zu Staub und auch Merry wird nicht verletzt.

Da wurde mir klar, dass wir etwas bewirken können. Armer Bernie, aber die Erkenntnis ist zu wichtig, als dass ich jetzt zeit zu trauern hätte. Ich weiß jetzt, wir können in Mittelerde eintreten und wirklich etwas bewirken. Wir können Dinge ändern! Ich brauche nur etwas Wasser, Sonnenschein und die Scherbe, um rüber gehen zu können.

Du weißt natürlich schon, was ich ändern werde, nicht wahr? Schließlich hast Du mich oft genug wegen meiner Leidenschaft für Boromir aufgezogen. Aber hättest Du gedacht, dass ich heute – erwachsen und keine Göre mehr, die auf ihren Prinzen wartet – dass ich heute immer noch der Meinung bin, dass Boromirs Schicksal ungerecht ist? Er hat das nicht verdient! Und ich werde ihm die Augen öffnen. Ich weiß, wie ich ihn überzeugen kann. Und dann wird sich alles ändern und zu einem guten Ende kommen, in dem Boromir die Rolle spielt, die ihm zusteht.

Du findest, dass ich spinne? Ach Gott, wahrscheinlich glaubst du sowieso kein Wort, von dem was ich schreibe. Vielleicht liest du ja gar nicht mehr bis hier hin. Aber falls Du mir noch folgst, glaube mir, ich habe einen Plan, einen wohl durchdachten Plan. Seit Jahren überlege ich schließlich, was man, was Boromir hätte anders machen können. Und jetzt gibt mir ein bizarres Schicksal das Mittel in die Hand, diese Ideen umzusetzen.

Ich muss jetzt aufhören. Die Scherbe funktioniert tatsächlich, wenn sie von Wasser benetzt in der Sonne liegt. Auch hier. Ich gehe jetzt. Ich habe jetzt eine Geschichte umzuschreiben.

Lieber Ralf, ich weiß nicht, ob wir jemals in irgendeiner Form Kontakt haben werden. Vielleicht liest du ja von mir … Ich liebe Dich und du bist das einzige, was mich hier noch hält. Aber das Band ist nicht stark genug, um mich wirklich zu fesseln. Denk an mich, wenn du unseren Fotoband in Händen hältst, denk daran, wie gut ich es hier haben werde. Wünsch mir Glück. Und lies den „Herrn der Ringe“ bald wieder!
Deine Edith.

Sie war immer ein bisschen abgedreht, aber dass Edith einem solchen Wahn unterliegen könnte, hätte ich nie gedacht. Ich verstehe kaum ein Wort, von dem, was sie schreibt (Was soll das Auenland, dass ich angeblich „so liebe“, sein? Was sind das für Namen? Wer ist dieser Boromir?). Sie muss sich eine ganz eigene Phantasiewelt aufgebaut haben. Und jetzt irrt sie in ihrem Wahnsinn irgendwo herum. Ich werde nichts unversucht lassen, sie zu finden.

Nur, wo soll ich anfangen? Das Buch, von dem sie erzählt, dieser „Herr der Ringe“, das wäre ein guter Anhalt, drehen sich doch all ihre Wahnvorstellungen darum. Aber hast du, Frank, jemals von diesem angeblich meistverkauften Buch aller Zeiten und seinem Autor namens Tolkien gehört?

Nein, das hatte ich nicht. Und Ihr?

Bochum 06/06