Die mythologischen Quellen Mittelerdes

© Frank Weinreich

I

Mythen sind ein entscheidender Teil von Der Herr der Ringe und allen anderen Geschichten aus Mittelerde.

Die Erzählungen rund um Arda, wie Tolkiens Welt in der Elbensprache Quenya genannt wird, begannen als Heimstatt für die von Tolkien erfundenen Sprachen. John Ronald Reuel Tolkien war bekanntlich im Hauptberuf ein geachteter Professor an einer geradezu ikonenhaften Institution der Gelehrsamkeit, an der Universität von Oxford.

Er war Philologe aus Berufung und widmete einen großen Teil seines Lebens dem Studium von Sprachen in allen Aspekten. Doch blieb es nicht beim Studium bestehender Sprachen. Tolkien war auch linguistisch kreativ tätig und erfand Sprachen, ganz wie kleine Kinder Sprachen erfinden. Aber natürlich auf einem ganz anderen, aber schon für ein Kind hohen Niveau und später als Erwachsener natürlich ungleich kenntnisreicher und ausgefeilter. Seine Sprachen bestanden aus umfangreichem Vokabular und logisch-konsistenter Grammatik sowie vor allem einem eigenen, gewachsenen geschichtlichen Hintergrund, den er zu Recht für unabdingbar für den Echtheitscharakter einer Kunstsprache ansah. So wurde aus dem „heimlichen Laster“ der Sprachspielerei, wie er es einmal in einem Aufsatz nannte, schon bald der Wunsch, den Sprachen eine ganze Welt zur Heimat zu geben.

Ob nun die Sprachen die Erzählungen von Mittelerde bedingten oder ob die Erzählungen sich in anderen Sprachen ausdrücken wollten, ist heute nicht mehr entscheidbar. Aber die Entstehung der Welt Mittelerde als Heim seiner Sprachen gab Tolkien dann die Idee und das Verlangen ein, eine Mythologie für England zu schreiben (Carpenter 1979, 109). Ich möchte im Folgenden aber nicht einfach die Quellen aufzählen, aus denen Tolkien für den eigenen Mythos schöpfte. Die werde ich eher am Rande erwähnen. Eigentlich geht es mir aber darum, aufzuzeigen, welche Rolle Mythologien und Überlieferungen insgesamt für Mittelerde sowie für das Genre Fantasy im Allgemeinen haben.

Tolkien befand, seine Heimat England könne im Gegensatz zu Skandinavien, Griechenland, Italien oder auch Deutschland auf keine eigene Mythologie und Sagenwelt zurückschauen, wie es die Geschichten Homers oder die Sagen um Siegfried und Dietrich von Bern sind. Der HdR, mehr noch aber das Silmarillion, das eigentliche Geschichtsbuch Mittelerdes, sollten diese Lücke in gewisser Weise füllen. Tolkien war dabei durchaus bewusst, dass ein einzelner Mensch in der Moderne keine Chance haben würde, ein mythologisches Erzählerbe aus dem Ärmel zu schütteln, aber er wollte schon auch sehen, wie weit man als Einzelner auf diesem Weg kommen könnte. Und wenn man sich den Verbreitungsgrad der Mittelerdedichtung heute anschaut, kann man nur sagen, dass es Tolkien gelungen ist, Gandalf und Sauron mindestens so bekannt zu machen, wie Agamemnon und Priamos. Manch ein bildungsbewusster Humanist mag das sehr bedauern, aber vielleicht kann er auch damit versöhnt werden, dass Tolkiens Mittelerde sich des Mythos und des mythischen Denkens bedient und damit an Werte und Bilder anknüpft, die die Menschheit schon immer begleiteten.

II

Diese Quellen seiner Werke hat Tolkien nie verleugnet. Schon die Frage danach dürfte ihm schwerlich in den Sinn gekommen sein. Er lebte so tief innerhalb des europäischen philologischen Erzählerbes, dass dessen mythologische Bilder zu einem selbstverständlichen Teil seines Denkens geworden waren; natürlich griff er auf die antiken und mittelalterlichen Sagenwelten zurück, denn sie bestimmten sein Denken. Ein erstens hoch gebildeter Engländer der oberen Mittelschicht, der zweitens 35 Jahre als Professor für Sprachen in Oxford tätig war, dessen größte persönliche Leidenschaft drittens die europäische Sagenwelt war, ein solcher Mensch lebte so sehr innerhalb dieses mythischen Kosmos und war sich dessen Einfluss auf das Denken der Menschen bewusst, dass ihm die Idee der bloßen Möglichkeit einer plagiierenden Aneignung dieses Stoffes gar nicht gekommen wäre. Und in der Tat ist eine ‘Urheberrechtsverletzung’ am mythischen Erzählgut gar nicht möglich. Phantastische Erzählstoffe entstanden an steinzeitlichen Lagerfeuern und haben sich seitdem strukturell und thematisch nur in Nuancen verändert. Bezüglich der Entstehung Mittelerdes machte Tolkien sich trotzdem einmal die Mühe, als direkte Einflüsse explizit zu nennen: „There was Greek, and Celtic, and Romance, Germanic, Scandinavian, and Finnish which greatly affected me.“ (J.R.R. Tolkien: Letters; Letter No. 131). So verstanden ist die Übernahme bekannter mythologischer Themen und Bilder in Mittelerde nichts weiter als ein Arbeiten mit Archetypen, die benötigt werden, um epischen Erzählungen erstens einen angemessenen Rahmen zur Verfügung zu stellen und zweitens deren Verständnis seitens des Publikums überhaupt erst zu sichern.

Trotzdem wird immer wieder die Frage nach der Originalität des tolkienschen Denkens aufgeworfen und dieses angezweifelt. In den letzten Jahren führte ich mehrfach Gespräche oder hatte Korrespondenz über das Thema “Tolkiens Quellen”. In diesen Gesprächen klang öfter der Verdacht an, dass Tolkien geklaut habe, da man schließlich eine Reihe von Motiven bis hin zu Eigennamen (wie bspw. alle Namen der Zwerge aus dem Hobbit) aus älteren Quellen kenne. Weiter wird dann manchmal darauf hingewiesen, dass Tolkien auf der anderen Seite aber jede Verbindung Mittelerdes mit der verbürgten Geschichte unserer Erde zurückweise und behaupte dass Mittelerde eigenständig sei. Ist das dann vielleicht sogar ein Hinweis darauf, dass Tolkien bewusst verschleiert, wo die Wurzeln seiner Werke liegen; dass er also vielleicht sogar lügt, um seine Originalität hervorzuheben?

In einer Mail, die mich vor einiger Zeit erreichte, wurde dieses Problem an Tolkiens Aussage aufgehängt, dass er einmal behauptet hat, dass zwischen seinem Ring und dem Ring der Nibelungen keine Beziehung bestünde, außer dass beide Ringe rund seien (die Aussage stimmt; vgl. Letters, Letter No. 229). Saurons Ring und der der Nibelungen haben nichts miteinander zu tun? Haben Sie auch nicht, jedenfalls nicht in dem Sinn wie die Leute es meinten, die damals diese Frage an Tolkien richteten. Die wollten Parallelen zu Wagner und dem deutschen Nationalismus aufweisen und Tolkien – wie es später noch so oft geschehen sollte – in die arische Ecke stellen.

Und Mittelerde hat wirklich auch inhaltlich nicht viel mit den dunklen und tragischen Phantasien rund um die Nibelungen zu tun, obwohl natürlich richtig ist, dass Tolkien seine Welt stark an die nordische und germanische Sagenwelt anlehnte. Dies bestritt er aber auch nie, sondern erklärte bereitwillig und gerne, worin die Verbindungen bestehen. Doch die enge Verbindung zum Nordischen und seiner Mythologie hat eine biographische Begründung, auf die ich in ein paar Minuten eingehen werde. Gerade der Unterschied zu den Nibelungen aber ist groß und wichtig: Die Nibelungensaga, das ist Tragödie. Alles, was dort angepackt wird, geht schief. Egal wie die Helden sich abrackern, das Schicksal erzwingt ihr Scheitern. Das gibt es ein wenig auch im Silmarillion (die Geschichten von Feanor, Turin usw.) aber eigentlich verkünden Mittelerde und besonders der HdR eine frohe Botschaft: Alles wird gut, auch wenn einiges in dieser Welt mit unvermeidbaren Opfern erkauft werden muss! Und dass alles gut wird, beruht auf der christlichen Grundhaltung Tolkiens, die mit den nordisch und ragnarök-inspirierten Sagen um die Nibelungen unvereinbar ist.

Doch zurück zur Eigenständigkeit Mittelerdes. Sollte man die anzweifeln? Nun, das ist eine Frage, die man erst beantworten kann, wenn man geklärt hat, was Eigenständigkeit bedeutet. Einer meiner akademischen Lehrer, der Philosoph und Historiker Kurt Flasch, hat mehr als einmal behauptet, dass jeder, der meine, dass er einen eigenständigen Gedanken entwickelt habe, nur nicht tief genug in die Quellen geschaut hätte. Und da hat er bei aller Zuspitzung nicht unrecht, denn Eigenständigkeit im Denken besteht immer nur soweit, als sie sich im Zusammenfügen von Bekanntem zu neuen Aussagen und Werken ausdrückt, in denen dann die Kreativität des Künstlers oder Wissenschaftlers zutage tritt. Schon im Mittelalter, und später von Newton auch explizit für die Naturwissenschaften ausgedrückt, wusste man, dass wir alle im Denken sozusagen auf den Schultern unserer Vorgänger stehen und nur deshalb weiter blicken können als sie (Bertrand von Chartres von Johannes von Salisbury zugeschrieben, Metologicon III, 167). Wissen, aber auch Geschichten bauen aufeinander auf und werden weiterentwickelt, das ist noch lange kein geistiger Diebstahl und wird so sogar in der Rechtsprechung anerkannt, die den Begriff der Schöpfungshöhe kennt, der genau davon ausgeht, dass Erkenntnisse und Erzeugnisse aufeinander aufbauen und ausdrücklich anerkennt, dass Kreativität auf Existierendes zurückgreift und dass niemand aus dem leeren Raum heraus schöpft.

 

 III

Was aber ist das, was die Leserin, der Leser, was Sie, das Publikum, alles kennen, bevor sie den Einband des HdR zum ersten Mal aufschlagen? Einige Elemente, die oftmals als Indizien für fremde Einflüsse aufgeführt werden, sind ein Drache mit einer verwundbaren Stelle am sonst für Waffen undurchdringlichen Körper, Zauberringe verschiedenster Art, Zwerge und ihre typisch nordisch-germanische Charakterisierung als grummelige Schmiede und Kämpfer sowie ein geborstenes Schwert – all dies findet sich im HdR bzw. dem Hobbit. Doch es geht noch weiter. Auch ganz zentrale Erzählmotive, wie die Schöpfung der Welt aus der Musik, der Mittelerde seine Entstehung verdankt, sind bekannt und lassen sich bis zum mehr als zweieinhalbtausend Jahre alten Konzept der Sphärenmusik des Pythagoras zurückverfolgen. Was ist Musik anderes, so deuten zumindest die alten Griechen und auch Tolkien an, was ist sie anderes als eine kognitiv-emotionale Äußerung in der Art von „Am Anfang war das Wort“? Auch die verschiedenen Arten der Korruption der Schöpfung durch eine Art Teufel und dessen mehr oder weniger willfährige Gehilfen ist natürlich nicht erst Tolkiens Imagination zu verdanken gewesen. Die verschiedenen Ausprägungen der Verderbnis von Herrscherinnen und Herrschern ist dann sogar nicht nur der Sagenwelt, sondern eher dem realen Leben entnommen.

Das alles hat Tolkien aber auch nie bestritten oder zu verbergen versucht. In seinen Briefen, in Vorträgen, in den wissenschaftlichen Werken weist der Autor immer wieder selbst auf die allbekannten Themen hin und sagt auch mehrfach: Das habe ich daher, das kommt von dort. Es kann also überhaupt keine Rede davon sein, dass er die Leser über die Herkunft seiner Bilder, Symbole und Mythen im Unklaren lässt. Das könnte er ja auch gar nicht, selbst wenn er es beabsichtigt hätte. Allzu offensichtlich sind sowohl die Motive aber auch die biographischen Verbindungen Tolkiens zu seinen fiktionalen Themen. Er hat beispielsweise den wichtigsten Kommentar zum Beowulf geschrieben, einem der bedeutendsten mittelalterlichen Gedichte, das für die Anglisten die gleiche Bedeutung hat wie die Nibelungen für die deutsche Sprache. Dieser Kommentar wurde dann ebenfalls weltbekannt – da hätte er kaum mit Aussicht auf Erfolg versuchen können, Beowulf-Elemente in Mittelerde zu verheimlichen. Und teilweise sind die Quellen so offensichtlich, dass sie nicht nur klar erkennbar sind, sondern zudem eine tragende Funktion als Tiefenschärfe verleihende Verbindung von realweltlicher und tolkienscher Mythologie aufweisen. Es sind dann gerade die ins kulturelle Fleisch und Blut übergegangenen Motive, die zu selbsterklärenden Elementen der Geschichte werden, ohne die der Sinn des Gesagten sich nicht angemessen erschließt. Ich denke beispielsweise an den als defizitär ausgewiesenen Materialismus des Drachen Smaug, an die animistische Spiritualität der Ents, die zu Bäumen und der Bäume, die fast zu Ents werden können sowie an die Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit, die durch die Laboratorien und Werkstätten und die Vielfarbigkeit Sarumans repräsentiert werden, die ihrerseits für den Demiurgen und dessen Stümpern mit der göttlichen Schöpfung stehen. Der Beispiele gibt es weitere. Und alle die würden wir nicht verstehen, wenn sie nicht auf Motiven aufbauten, die in unser kulturelles Fleisch und Blut übergegangen sind.

Aber – so doch noch einmal der Einwand von eben – hat der Autor die Verbindungen zwischen seiner Welt und unserer Welt nicht immer verneint? Ja schon, aber nur in einer bestimmten Weise. Ja, er war, wie man salopp sagen kann, äußerst angefressen durch jegliche Allegorisierungsversuche, die seine Welt als Spiegel von Ereignissen und Motiven unserer Welt zu sehen versuchten, insbesondere, wenn sie sein Werk als Kronzeuge für eigene Ansichten zu benutzen versuchten. Daher stammt auch die harsche Reaktion auf den Vergleich mit dem Ring der Nibelungen, denn mit dieser Unterstellung sollte ja mehr angedeutet werden als die bloße wissentliche Aufnahme eines damals schon alten mittelalterlichen Motivs. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nibelungengeschichte und Wagner von den Faschisten schon vereinnahmt worden und es sollte versucht werden, Tolkiens Mittelerde in die gleiche Richtung zu bringen. Diese Unterstellung war zu großen Teilen der Versuch einer Art politischer Instrumentalisierung, so dass seine entschiedene Gegenwehr verständlich ist.

Was Tolkien durch die Aufnahme von Sagenmotiven gemacht hat, war aber sowieso keine reine Allegorisierung im Sinne eines platten dies-Motiv-steht-für-jene-Aussage, sondern ein Spiel mit den Elementen der Fairy. Fairy (oder Märchen, Fantasy) haben immer schon die gleichen übernatürlichen Motive aufgenommen, die in prähistorischer Zeit an Dutzenden Lagerfeuern in der ganzen Welt gleichzeitig erfunden wurden; erfunden wurden, weil diese Motive das beschreiben, was Menschen, eben weil sie Menschen sind, überall gleichermaßen fürchten und erhoffen. Da kann es nicht verwundern, dass Drachen, Macht (in Ringen oder Szeptern oder Talismanen – you name it), dass Zwerge, geborstene und wieder hergestellte Symbolik usw. immer wieder auftauchen.

Kann man Tolkien aber, wenn schon nicht das Klauen, dann doch vielleicht Phantasielosigkeit vorwerfen? Etwa weil er ein paar Zwergennamen aus der Kalevala genommen hat und sich eines ganzen Handlungsstranges dieses finnischen Epos bediente? Wohl kaum. Eher dürften es Liebe und der Versuch, etwas zu erhalten und weiter zu tragen, gewesen sein, die sein Schreiben inspirierten. So zumindest bei den Zwergennamen. Und Turin Turambar, der einem breiteren Publikum erst jetzt durch die gesonderte Ausgabe des Buches Die Kinder Hurins bekannt wurde? Das ist nicht nur die finnische Kalevala (bzw. Kullervo), das sind auch Sigurd, Ödipus und viele andere gleichartige Motive (dass es aber durchaus entscheidende Unterschiede gibt, hat kürzlich Thomas Fornet-Ponse herausgearbeitet; vgl. Fornet-Ponse 2004). Und Turin ist nur ein Beispiel. Nehmen wir die Liebespaare Arwen und Aragorn / Beren und Luthien: Das ist natürlich die Romeo und Julia-Thematik (die Shakespeare aber auch nicht erfunden, sondern nur zu ihrer höchsten Meisterschaft gebracht hat). Ist das also Phantasielosigkeit? Nein, denn es gibt gar nicht soviele wirklich bewegende Themen in der Gefühlswelt der Menschen – es geht darum, diese paar aufrüttelnden, mitreißenden Topoi so zu erzählen, dass sie wirken – und daran haben sich Erzähler und Schriftsteller überall immer wieder versucht. Die besten Versuche bleiben erhalten und stehen nun nebeneinander zu uneingeschränktem Genuss.

Tolkien beschreibt, wie Verlyn Flieger sagt, einfach “basics”, also Grundlagen, die zum menschlichen Leben und seiner imaginativen Kraft gehören, es sind “motifs which recur in all mythologies. […] They recur because they work, because they move the reader and put him in touch with what is timeless” (Flieger 2004, 123). Der Venezianer Carlo Gozzi, ein Zeitgenosse Goethes, bemerkte einmal, dass es nur 36 verschiedene Situationen gäbe, die die dramatische Erzählung darstellen könne (Frye 1976, 38). Wenn Gozzi damit, plus / minus ein paar Situationen, nur annähernd Recht hat, und das nehme ich an, dann ist es nicht verwunderlich, dass dieselben Erzählstrukturen und Erzählmotive uns immer wieder begegnen und dann kann man auch keinen Vorwurf erheben, wenn die eine oder andere bekannte Situation auch in Mittelerde zu finden ist.

Wenn man dann heute phantastische Geschichten erzählt, dann kann man gar nicht anders, als diese Elemente auch zu benutzen (natürlich in Abhängigkeit vom Kulturkreis des Erzählers). Das ist aber kein Plagiieren oder Allegorisieren, sondern es ist einfach die Sprache, die in Märchen eben gesprochen wird. Das sind die Sprache und die Dramaturgie, die in Fantasy unausweichlich sind. Wer dem ausweichen will, darf sich dem Genre nicht aussetzen. Das Kreative und Neuartige der Erzählung entsteht durch die Anordnung dieser Elemente und die Beziehungen, in die sie gesetzt werden (manchmal plus einiger neuer Dinge, wie bspw. der wirklich von Tolkien erfundenen Hobbits), sowie der Art und Weise in der die Handlung aufgelöst wird. Und das kann eben dumpfbackig, mit einem Bleistift von einem Ohr zum anderen Ohr gestochen geschrieben sein, wie bei John Normans unsäglicher Welt Gor oder in den schlechteren Werken von Alan Burt Akers, oder überzeugend gelöst und wunderbar erzählt werden wie bei Tolkien.

IV

Ein paar Worte nun zum Titel meines Vortrags: An Englishman in Faëry. Wie gesagt, steht die Ausarbeitung einer Erzählung in Abhängigkeit vom Kulturkreis der Erzählenden. Das ist bei Tolkien nicht anders. Nun ist Tolkien immer wieder auch vorgeworfen worden, dass er rassistisches, chauvinistisches, evtl. sogar faschistisches Gedankengut verbreite. Es gibt glücklicherweise eine große Zahl von Publikationen, die das mittlerweile widerlegt haben. Aber eine Erklärung für das Aufkommen der Vorwürfe kann darin gefunden werden, dass es eben ein Engländer seiner Zeit ist, der da die Fantasywelt durchstreift. Und zwar ein Engländer, der auf Grund seiner sozialen Stellung und konservativen Grundüberzeugung zu einer Einstellung neigte, die beispielsweise hierarchische Gesellschaftsstrukturen, wie sie sich im Herr-Diener-Verhältnis von Frodo und Sam zeigen, als normal ansah. Der außerdem wenig anderes kannte als die klassische häusliche Rollenverteilung von Mann und Frau, so dass es fast schon nicht glaublich ist, dass er eine Frau wie Luthien Tinuviel erschuf, die ihren Gatten in allen Belangen völlig in die Tasche steckt. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass er an einen gewissen eingeborenen Adel glaubte, der sich in der perfekten Erfüllung der Herrscherrolle Aragorns ausdrückt. Dafür hat er aber auch auf der anderen Seite die Geschichte des Geschlechtes von Elendil und Isildur in die Anhänge des HdR geschrieben, die ganz genau aufzeigt, wie wenig man mitunter Herrschern trauen kann, deren einzige Qualifikation die Abkunft von einem König oder Truchsess ist (vgl. Weinreich 2006). Tolkien war ein Englishman mit allem Hang zu deren nachgesagtem Snobismus – ja. Aber in Mittelerde zeigt sich, dass er fähig ist, selbst diese Anlage sozialer Provenienz zu überwinden.

Eine Begründung dafür könnte sein, dass tiefer liegende Überzeugungen den Englishman überdecken und dessen manchmal schrullige Ausprägungen im Gesamtbild klar überlagern. Wichtiger für das Verständnis von Mittelerde sind nämlich, wenn man schon von der Biographie des Autors spricht, zwei Aspekte, die sein Leben beherrschten und einen dementsprechend nachhaltigen Einfluss auf das Werk hatten: sein Christsein und die Liebe zur nordischen Sagenwelt und dem Northern Spirit.

Die Bedeutung seines Glaubens, des christlichen Glaubens römisch-katholischer Prägung durchzieht die Mittelerdedichtung auf allen Ebenen. Der Schöpfungsmythos des Silmarillion ist nahezu deckungsgleich mit dem des Christentums: ein allmächtiger Gott erschafft die Welt, schenkt ihr und den in ihr lebenden Personen die Freiheit und gibt doch die Sicherheit, alles zu einem erlösenden Ende kommen zu lassen, dass der Existenz den Sinn in und mit Gott zu sein wieder gibt, so steht es in der Ainulindale. Die einzelnen Geschichten Mittelerdes sind durchzogen von christlichen Motiven. Das Grundübel, das im Bösen den Wunsch nach Macht und der Unterdrückung anderer erweckt, ist das der Selbstüberhöhung – die christliche Todsünde der Hybris. Böses entsteht immer dadurch, dass Personen ihren Platz in der Schöpfung auf Kosten anderer vergrößern wollen: Morgoth auf Kosten der anderen Valar, Sauron auf Kosten der Elben, Saruman auf Kosten der anderen Istari, Denethor auf Kosten Aragorns, Thorin Eichenschild auf Kosten der befreundeten Nachbarvölker und Lotho Sackheim-Beutlin auf Kosten aller anderen Hobbits – das Motiv zieht sich von oben bis ganz nach unten durch. Im HdR ist ein weiteres christliches Motiv, fast schon als Kontrapunkt zur Hybris, ebenso allgegenwärtig: das der Gnade. Frodo, die Person, die in der Trilogie am meisten zu leiden hat, vergibt seinen Schuldigen wie auch wir unseren Schuldnern vergeben sollten. Und der Gnadenerweis wird auf das Höchste belohnt, denn in dem Moment als alles verloren ist, als Frodo verkündet, dass er den Ring doch nicht vernichten wird, da zahlt sich aus, dass er Gollum so oft verschonte und in Schutz nahm.

Doch dies ist nur eine Seite der Überzeugungen Tolkiens. Denn da ist noch die Faszination der nordischen Sagas und der in ihnen überlieferten Weltsicht, die einen nahezu ebenso starken Niederschlag in Mittelerde findet. Es ist nicht ganz leicht, zu definieren, was diese nordische Weltsicht, den Northern Spirit, wie Thomas Honegger es nennt, ausmacht. Aber es lässt sich illustrieren: am besten vielleicht an Ragnarök, der Weltuntergangsphantasie der Edda, der wichtigsten der nordischen Sagas. Am Ende der Zeit, so überliefert es die Edda, wird es zu einem apokalyptischen Gefecht kommen, in dem die Götter selbst vernichtet werden und alles Sein untergeht. Den Northern Spirit macht nun aus, dass er den Menschen auffordert, trotz des Wissens um die Vergeblichkeit des Kampfes nicht aufzugeben und seine Rolle im kosmischen Drama des Untergangs anzunehmen. Dieser Gedanke berührte Tolkien auf das Tiefste und floss in Mittelerde ein. Wohl weniger in den HdR als in das Silmarillion. Obwohl allerdings die Haltung der Reiter von Rohan nach dem Tod König Theodens auf dem Pelennor genau diese Einstellung widerspiegelt: Als Éomer und seine Männer die Segel der Korsaren von Umbar sehen und sie davon ausgehen müssen, dass die Schlacht für sie sicherlich verloren ist, da stehen sie ohne jegliches Zagen zum vermeintlich letzten Gefecht zusammen. Im Silmarillion aber findet sich das Motiv sehr viel häufiger – dort kommt es immer wieder zu letzten Gefechten und heroischen Taten angesichts hoffnungsloser Situationen. Und wie in der Edda, und im Gegensatz zum HdR, kommt es im Silmarillion auch nicht zu wundersamen Errettungen, diese Helden sterben alle.

Das Silmarillion ist aber nun die zu Lebzeiten unveröffentlichte Arbeit, die sich bis zu Tolkiens Tod in der Weiterentwicklung befand, während der Hobbit und der HdR in dem Wortlaut erschienen sind, den der Autor zur Veröffentlichung vorsah. Was heißt das für den Gegensatz von Northern Spirit und christlich-eschatologischer Überzeugung? Vielleicht ist das ein Hinweis darauf, dass die christliche Überzeugung zwar die prosaischere ist, aber doch diejenige, die Tolkien vor allem anderen vertrat. Im HdR siegen die christlichen Werte über die nordische Schicksalsergebenheit, die Gnade Frodos erweist sich für die Welt als ungleich wichtiger als die letzte tapfere Geste der freien Völker vor dem Schwarzen Tor. Im HdR überwiegt die christliche Heilserwartung bei Weitem und ist ganz klar festzumachen am Begriff der Eukatastrophe, der ‘guten Katastrophe’, und ihrem unübersehbaren Eintreten am Schicksalsberg. Im Übrigen: trotz aller Tragik im Silmarillion – auch in diesem Werk überwiegt letztlich das Heil, schließlich endet die Welt mit der zweiten Musik der Ainur in der Erlösung.

V

Tolkien schuf ebenso wenig wie irgendein anderer Autor aus dem luftleeren Raum. Doch liegt es vielleicht an einer gewissen Stereotypizität der phantastischen Literatur im Vergleich zur sogenannten realistischen Literatur, dass die phantastische einander in Aufbau und Thematik stärker ähnelt und dann auch noch immer wieder ähnliche oder gleiche Bilder und Metaphern benutzt. Diese Stereotypizität ist meines Erachtens der Nähe zum Mythos und zu den Archetypen geschuldet, die in den Mythen immer wieder aufgegriffen werden. Das ist kein Wunder, ist doch der Mythos eine Erzählung, die mittels symbolischer Begrifflichkeit die Welt in ihrer materiellen vor allem aber auch spirituellen Verfasstheit, „als ganze und in ihrer Ganzheit“ (Frenschkowski 2006, 241) zu erklären versucht und die deshalb die ebenfalls immer gleichen Fragen von Sinn, Gott, Tod und Überwelt verhandelt. Fantasy lehnt sich daran an, denn die moderne Fantasy ist in einer Zeit entstanden als der Glaube an den Mythos längst verloren war, sich aber gezeigt hat, dass die Bilder und Themen des Mythos immer noch zu bewegen vermögen. Und dies zumindest wollte auch Tolkien, der glaubte, dass die Welt der Moderne ihren Zauber verloren hat: er wollte die Leserinnen und Leser noch einmal mit großen Themen und Begriffen bewegen.

 

(Bochum 10/04)